Jeder vierte Schulabsolvent in der Schweiz kann nach neun Schuljahren nicht richtig und verständig lesen, diagnostiziert die Pisa-Studie. Und dies im Land mit den höchsten Kosten pro Schüler! Von einer Schmach spricht der “Tages-Anzeiger”. Ein Viertel der 15-Jährigen ist hierzulande nicht imstande, einem einfachen Text alltagsrelevante Informationen zu entnehmen. Konkret: Sie können das Geschriebene entziffern, verstehen aber das Gelesene nicht.
Systemversagen stört nicht
Seit Jahren sinken die Leistungen der Schweizer Schüler in den Pisa-Studien. Das „Programme for International Student Assessment“, kurz Pisa, ist die grösse internationale Evaluation von Schulleistungen. Sie erfolgt im Auftrag der Organisation für Zusammenarbeit und Entwicklung OECD. Getestet wurden diesmal rund 600‘000 Schülerinnen und Schüler in fast 80 Ländern, davon 6‘000 Jugendliche in 200 Schweizer Klassen. Nach wie vor gut in Mathematik und durchschnittlich im Bereich der Naturwissenschaft, doch schwach im Lesen, lautet das jüngste PISA-Fazit für die 15-jährigen Schülerinnen und Schüler unseres Landes.
Bildungspolitiker zeigen sich erstaunt und reiben sich die Augen. Als ob man es nicht gewusst hätte! Eigentlich müssten die Alarmglocken läuten. Schon vor Jahren hat die renommierte ETHZ-Lernforscherin Prof. Elsbeth Stern darauf hingewiesen, dass mindestens 15 Prozent der schulentlassenen Jugendlichen funktionale Analphabeten oder Illiteraten seien. Die Bildungsverantwortlichen schwiegen. Das Systemversagen im teuersten Bildungssystem der Welt schien sie nicht zu stören.[1] Geschehen ist wenig.
Der Schlüssel liegt im Schulzimmer
Viel wurde in den letzten Tagen geschrieben, noch mehr geredet und am häufigsten wohl ein flinkes Patentrezept präsentiert. Signifikant ist der Reflex des Schweizer Lehrerverbands. Der LCH begrüsst die “positiven [PISA-]Resultate” und fordert für die Schule bessere “Rahmenbedingungen”, sprich noch mehr Geld. Die Bildungspolitiker ihrerseits plädieren fast unisono für eine Frühförderung. Das ist wichtig und richtig, darf aber nicht der einzige Fokus bleiben. Der zentrale Blick gehört ins Schulzimmer gerichtet.
Die Antwort des LCH: Mehr Geld!
Das Lesen und das Schreiben trainieren
Von dieser Perspektive spricht erstaunlicherweise nur der „Tages-Anzeiger“. Er redet Klartext und bringt es auf den Punkt, wenn er schreibt: „Der falsche Reformeifer rächt sich.“[2] Hier liege des Pudels Kern: Integration lernschwacher Schüler in die Regelklasse, zwei frühe Fremdsprachen, Abbau von Deutschlektionen, Überfrachtung durch sozialpädagogische Aufgaben. Das alles bringe die Schulen vielerorts an ihre Belastungsgrenzen. Das Boot ist schwer beladen. Nötig wäre eine Konzentration aufs Wesentliche. Dazu gehören die Basiskompetenzen.
Lehrerinnen und Lehrer haben heute kaum mehr Raum und Zeit, richtig und vertieft und immer wieder übend ins Lesen einzuführen.
Lesenlernen ist anspruchsvoll, das Einüben grundlegender Lesetechniken eine schwierige didaktische Aufgabe. Lehrerinnen und Lehrer haben heute kaum mehr Raum und Zeit, richtig und vertieft und immer wieder übend ins Lesen einzuführen – oder im Klassenverband zu lesen, anleitend. Zu vieles muss in zu kurzer Zeit durchgenommen und behandelt werden. Korrektes und verstehendes Lesen müsste auch mit einem vertiefenden Schreibunterricht verbunden sein – nicht einfach bis weit in die oberen Klassen mit einem “Schreiben nach Gehör”.
Verfehlte Reformen schaden schwächeren Kindern
Dieser Zusammenhang geht leicht vergessen. Die 15-jährigen Jugendlichen waren nicht selten Versuchskaninchen für Experimente beim Lesen- und Schreibenlernen. Guten und begabten Schülern schadet das nicht wesentlich. Auf schwächere Kinder oder solche mit einer anderen Muttersprache als Deutsch wirkt es sich aus. Sie bleiben unter ihren Möglichkeiten: die Folgen falsch gelagerter Reformen oder methodischer Fehlgriffe.
Gerade diese Kinder müssen wirklich gut lesen lernen und die Laute sicher den Buchstaben zuordnen können – und dies, ohne sich zuerst eine falsche und dann eine korrekte Rechtschreibung einprägen zu müssen. Etwas ganz Entscheidendes.[3]
Die Kernfrage: Was läuft denn falsch?
Die Leseleistungen unserer Schüler haben sich verschlechtert. Das ist Fakt. Die Bildungspolitik müsste darum der Frage nachgehen, was in diesem Bereich passiert und warum vielleicht einiges falsch läuft. Und dazu zählt eben auch die einseitig favorisierte Methode des selbstregulativen Lernens. Es gibt Klassen, in denen sich die Kinder in Lernwerkstätten das Alphabet selber beibringen müssen. Der Lehrer, die Lehrerin begleitet nur als Coach.
Viele Kinder aber brauchen das anregende und führende Gegenüber. Sie benötigen Halt und ein sicheres Geländer. Allein sind sie überfordert. Das wirkt sich aus. Wichtig wären lautes Lesen im Chor, im Tandem, auch allein und still vor sich hin. Das erhöht die Leseflüssigkeit. Stetes Wiederholen und feste Routinen helfen.
Die “direkte Instruktion” als effektive Lehrform
Besonders im Elementarunterricht mit dem Lesen und Schreiben ist das gemeinsame Einführen und das gemeinsame Üben und Optimieren eine effektive Unterrichtsform. Empirische Studien belegen den Wirkwert der direkten Instruktion. Im Vergleich zu anderen Lehrmethoden führt sie zu höheren Durchschnittsleistungen, zu stärkerem Leistungszuwachs und zu besseren individuellen Lernergebnissen – vor allem auch bei schwächeren Schülerinnen und Schülern.
Besonders im Elementarunterricht mit dem Lesen und Schreiben ist das gemeinsame Einführen und das gemeinsame Üben und Optimieren eine effektive Unterrichtsform.
Franz E. Weinert, Kronzeuge für den Lehrplan 21 und früherer Direktor des Max-Planck-Instituts für psychologische Forschung, hielt kurz und bündig fest: “Zum Entsetzen vieler Reformpädagogen erwies sich in den meisten seriösen Studien eine Lehrform als überdurchschnittlich effektiv, die […] als ‘direkte Instruktion’ bezeichnet wird. Sie verbessert die Leistungen fast aller Schüler, erhöht deren Selbstvertrauen in die eigene Tüchtigkeit und reduziert ihre Leistungsängstlichkeit.“[4]
Das ferne Estland liegt im nahen Schulzimmer
Lesen können ist fürs Leben entscheidend. Und lesen können ist die Grundlage der Lesefreude. Denn nur wer lesen kann, wird es auch gern tun. Und hier hapert es: Die Lesefreude unter den Jugendlichen sinkt. Eine problematische Tendenz.
Schule muss gegenhalten, muss Gegenläufiges betonen. Das gehörte schon immer zu ihrem Auftrag. Und dazu zählt die basale Lesefähigkeit. Und zwar aller Kinder. Diese Erkenntnis braucht keinen Bildungstourismus wie einst nach Finnland. Das ferne Estland liegt im nahen Schulzimmer.
[1] SKBF (2018): Bildungsbericht Schweiz 2018. Aarau: Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung, S. 73.
[2] Raphaela Birrer: Der falsche Reformeifer rächt sich. In: Tagesanzeiger, 04.12.2019, S. 2.
[3] Heike Schmoll: Leseschwach. In: FAZ, 04.12.2019, S. 1.
[4] Gerd-Bodo von Carlsburg (Hrsg./ed.) (2008): Baltische Studien zur Erziehungs- und Sozialwissenschaft. Frankfurt am Main: Peter Lang GmbH, S. 100.