Herr Pichard, wie haben Sie Ihre eigene Schulzeit in Erinnerung?
Salopp gesagt: Sie hatte Höhen und Tiefen. Ein Höhepunkt war die Pause!
Weil ich das gut kann. Und weil es ein nützlicher Beruf ist. Ich mache gerne nützliche Sachen.
Heute stehen Schüler alle drei Jahre auf dem Pisa-Prüfstand, dazu kommen diverse andere Vergleichstests. Wann mussten Sie als Lehrer zuletzt Rechenschaft über Ihre Arbeit ablegen?
Ich wurde in meinem ganzen Lehrerleben nie so überprüft, wie das bei den Schülern der Fall ist.
Es gibt Eckdaten, die Hinweise auf die Unterrichtsqualität liefern. Zum Beispiel, wie viele Schulabgänger einen Lehrvertrag in der Tasche haben und die Lehre anschliessend bestehen. Wir holen auch jedes Jahr Rückmeldungen von Schülern und Eltern ein.
Was bekommen Sie da zu hören?
Die Schüler kritisieren, dass ich Prüfungen zu spät korrigiere. Sie haben ja recht! Rückmeldungen helfen, dass man als Lehrer merkt, wo man steht.
Sie waren 44 Jahre lang Lehrer. Was hat sich in dieser Zeit verändert?
Die Schule ist besser, professioneller geworden. Das hat zum einen mit der Abschaffung des Beamtenstatus zu tun – man kann heute Lehrer entlassen. Zum anderen wurden Schulleitungen eingeführt: Es gibt Mitarbeitergespräche, Elternklagen werden nicht mehr einfach abgewimmelt. Als Lehrer muss man sich heute mehr rechtfertigen. Das ist gut so.
Darüber muss man offen reden. Es gibt brillante Pädagogen, die eigentlich unbezahlbar sind. Dann gibt es gute, mittelmässige und leider auch miserable Lehrer. Von Letzteren muss man sich trennen.
Macht man das auch?
Ich denke schon. Nicht immer und überall. Wenn es an einer Schule schlechte Lehrer gibt, hat die Schulleitung ihren Job nicht gemacht.
Wie können Eltern denn erkennen, ob ihre Kinder an eine gute Schule gehen?
Auf eine kurze Formel gebracht: Ein Lehrer und eine Schule sind dann gut, wenn die Schüler etwas lernen. Eltern werden immer dann nervös, wenn ihr Kind nichts lernt. Man hält sie ja oft für etwas nervig. Sie engagieren sich heute stärker, mischen sich öfter ein, fragen auch mal kritisch nach und reklamieren. Das ist absolut ihr Recht. Eltern wissen meist sehr genau, wenn eine Schule funktioniert.
Da werden Ihnen manche Kolleginnen und Kollegen widersprechen. Es gibt Lehrer, die aussteigen, weil sie genug haben von nörgelnden Vätern und Müttern.
Natürlich gibt es unmögliche Eltern! Es gehört zu unserem Job, damit umzugehen.
Sie haben an Brennpunktschulen unterrichtet. Wie hoch ist da eigentlich der Migrantenanteil?
An der Realschule in Biel waren 80 bis 90 Prozent der Schüler fremdsprachig. In der Agglomerationsgemeinde, in der ich jetzt unterrichte, sind es etwa 60 Prozent. Es gibt heute auch Klassen, in denen 100 Prozent der Schüler zu Hause kein Deutsch sprechen.
Sie waren in der Schweiz der erste Lehrer, der öffentlich machte, dass die Zuwanderung die Schulen an den Anschlag bringen kann. Damit wurden Sie auf einen Schlag national bekannt.
Ich wurde vom links-grünen Milieu natürlich zerrissen. Ich hatte damals mit drei anderen linken Lehrern einen Artikel verfasst, der viel Aufsehen erregte. Wir waren mit verschiedenen Einwanderungswellen konfrontiert, vor allem aus dem Balkan. In der Schule hatten wir mit Disziplinlosigkeiten zu kämpfen, der Unterricht war zum Teil nicht mehr möglich. Wir kamen zum Schluss: So geht das nicht. Man muss den Migrantenkindern klar machen, was sie erfüllen müssen. Integration ist keine Einbahnstrasse.
«Lehrerinnen überklebten im Lesebuch Tierbilder, weil Muslime keine unreinen Tiere sehen wollten. Es war unglaublich.»
Wie kam das bei den Schülern an?
Interessanterweise war das den Migranten vollkommen klar, sie haben es akzeptiert. Ich habe ihnen immer gesagt: Ihr habt eine Chance, aber ihr müsst mehr machen als die Schweizer Schüler. Viele Werte wurden damals umgedeutet. Das hat auch mit dem Ausbau der Beratungsindustrie zu tun, die sich in unseren Schulen gebildet hat. Wenn etwas schieflief, waren nie die Migranten schuld, sondern die mangelnde Gastfreundschaft des Aufnahmelandes. Lehrerinnen überklebten im Lesebuch Tierbilder, weil Muslime keine unreinen Tiere sehen wollten. Es war unglaublich.
Haben die Schulen heute ein Ausländerproblem?
Die Schule hat ihre Lektion gelernt. Die groben Disziplinlosigkeiten, das Kippen von ganzen Klassen mit Polizeieinsätzen, Bedrohungen, Beleidigungen und Gewalt, das gibt es kaum mehr. Heute haben wir ein anderes Problem. Ich kann ein Beispiel erzählen.
Bitte.
Ich hatte eine türkische Schülerin, die schnell Deutsch lernte, auch weil sie die einzige Fremdsprachige in der Klasse war. Sie machte eine Lehre als Pharmaassistentin, heiratete einen Mann aus der Türkei, wurde schwanger, gab ihren Job auf. Er hatte nie eine Arbeitsstelle, die Familie rutschte in die Sozialhilfe. Das erste Kind kam, das zweite, das dritte. Als die Kinder in die Schule kamen, konnten sie kein Deutsch. Ein Bub wurde verhaltensauffällig und hatte riesige schulische Defizite.
Das passiert leider zu oft. Die Erfolgsgeschichte der Migration in der Schweiz war in der Regel: Die erste Generation kam und arbeitete hier, die zweite machte eine Lehre, die dritte ein Studium. Das ist ins Stottern geraten. Aber ich bin kein Alarmist. Wir machen vieles besser als das Ausland.
Jeder fünfte Jugendliche in der Schweiz kann nach neun Jahren Schule kaum lesen und schreiben. Das ist doch alarmierend.
Es ist in der Tat einer der grössten Makel unseres Schulsystems, dass wir diese Quote von 20 Prozent Illetristen nicht herunterbringen. Das ist ein Skandal.
Warum scheitert die Schule hier?
Man setzt zum Beispiel falsche Prioritäten. Statt dass man zuerst richtig Deutsch lernt, hat man auch noch Frühfranzösisch oder Frühenglisch eingeführt. Das ist teuer, bringt nichts und verbraucht Ressourcen, die wir woanders benötigen.
Hört man heute zu wenig auf die Lehrer?
Die Agenda wird schon lange nicht mehr von uns Lehrern bestimmt, sondern von einer Allianz von Bildungspolitikern, Verwaltungsbeamten und Wissenschaftlern zusammen mit der Bildungsindustrie wie Lehrmittelverlagen. Es geht um Steuerung und Auftragssicherheit. Mit Bildung kann man heute viel Geld verdienen.
Sie sind ein vehementer Kritiker des Lehrplans 21, der in vielen Kantonen eingeführt wurde. Was soll daran schlecht sein?
Den Schulen wird nicht mehr vorgegeben, was sie inhaltlich zu unterrichten haben. Heute wird detailliert dekretiert und genau geregelt, was die Schülerinnen und Schüler am Ende können müssen. Das grosse Zauberwort ist heute «Kompetenzorientierung». Im Lehrplan 21 gibt es über 2000 Teilkompetenzen und 330 Grundkompetenzen, die man alle lernen soll.
Zum Beispiel?
Im Fach Musik wird von einem Kind gefordert: «Kann seinen Körper sensomotorisch wahrnehmen und musikbezogen reagieren.» Dieser Kompetenzquark stammt von Bildungsforschern, die den Herausforderungen des Unterrichts fernbleiben. Das Gleiche passiert jetzt bei der KV-Reform. Rechnen, lesen, schreiben: Das sind Kompetenzen. Durchaus wichtige, wohlgemerkt.
Sind die Schüler schlechter geworden? Hochschulprofessoren klagen, dass sogar Maturanden die Rechtschreibung nicht mehr beherrschen.
Man muss aufpassen mit generellen Befunden. Wir haben zu Recht viel für die schwächeren Schüler gemacht und dürfen dabei die Förderung der stärkeren nicht vergessen. Nicht nur in der Sprache. Ich denke auch an Mathematik und Physik.
Sehen Sie hier Defizite?
Wenn wir internationale Mathe-Vergleichstests wie Timms anschauen, dann sieht man, wie die Asiaten dort aufrüsten. Von 1000 Schülern haben Korea, Hongkong, Taiwan und Japan 390 bis 400 Jugendliche in der höchsten Kategorie der überdurchschnittlichen Mathe-Schüler. In der Schweiz sind es 80, in Deutschland 60 und in Frankreich 40.
Braucht es mehr Mathe an der Schule?
Die Schweizer Lernenden sind generell keineswegs schlecht. Aber es gibt einen immer grösseren Graben. Es braucht einen etwas anderen Mathe- und vor allem auch Physikunterricht. Man muss das sogenannte «entdeckende Lernen» zurückfahren zugunsten strukturierter, aufbauender Lerneinheiten.
«Wenn wir den ganzen Unterricht den Algorithmen anvertrauen, dann gute Nacht!»
Was wird nach Corona vom Digitalisierungsschub an den Schulen bleiben?
Gute digitale Lernangebote werden künftig im Unterricht vermehrt zum Einsatz kommen und ihn bereichern. Wenn wir aber anfangen, den ganzen Unterricht fremden Algorithmen anzuvertrauen, dann gute Nacht!
Die Schüler betreiben Klassenchats auf Whatsapp, diskutieren ihre Hausaufgaben auf Facebook und kommunizieren auch in der Freizeit oft digital. Haben die Jugendlichen ihre Lehrer bei der Mediennutzung nicht längst abgehängt?
Natürlich, sie haben zum Teil sogar die besseren Handys als wir. Die Digitalisierung hat ihre Schattenseiten. Heute ist es oft so: Die Jungen wachen auf, schauen zuerst auf ihr Handy, gehen auf den Bus, tauschen letzte Sachen digital aus. Dann kommen sie in die Schule, in der ersten Stunde schauen sie einen Film, in der zweiten Stunde machen sie am Computer eine Französisch-Übung, dritte Stunde: digitaler Musikunterricht. Dann gehen sie heim, hören ihre Musik, schauen Youtube-Videos, essen, kommen wieder in die Schule, machen in Englisch und Geografie ein Spiel auf dem Computer, gehen heim, und abends schauen sie Netflix.
Handy- und Computerverbote sind doch von gestern. Sie sagen es selber: Die Schule macht da voll mit.
Nein, das macht sie eben nicht! Wir arbeiten antizyklisch!
Zum Beispiel?
In dieser Woche sind wir einfach so auf unseren Stadtberg gestiegen, haben «gebrätelt». Wir arbeiten an einem Theaterstück, wir gestalten, malen, singen. Wir bieten Gegenwelten.
Sind die Schüler heute unkonzentrierter, weil sie ständig am Handy hängen?
Die Aufmerksamkeitsspanne ist gesunken. Das merke ich auch bei mir selber. Ich habe Mühe, längere Texte zu lesen. Das ist bei der heutigen Schülergeneration auch so.
Wenn Sie auf Ihr Leben als Lehrer zurückblicken: Was muss die Schule erfüllen – abgesehen davon, dass die Kinder etwas lernen?
Die Schule muss zur Mündigkeit erziehen. Mündigkeit ist nichts für Feiglinge. Man muss selber entscheiden und verantworten, was man macht. Darauf baut unsere Demokratie auf.
Hat es Ihnen eigentlich auch einmal ausgehängt?
Natürlich. Der Lehrerberuf ist nichts für Perfektionisten.
In zwei Wochen werden Sie pensioniert. Wie sehr wird Ihnen die Schule fehlen?
In die Schule gehen und unterrichten ist organisierte Kommunikation mit jungen Menschen, von morgens bis abends. Da musst du gar nichts machen. Sie ist da. Das wird mir fehlen.