Unsere Gegenwart benennt den Mangel schneller als das Gelingende. Sie hält einen gepflegten Unmut für besondere Wachheit. Wer stöhnt, schimpft, aufzählt, was fehlt und misslingt, gilt als aufmerksam und kritisch, als moralisch wach und auf der Höhe der Zeit. Die Unzufriedenheit hat gesellschaftliches Ansehen gewonnen – bis hinein in Leitartikel, Debattenrunden und Alltagsgespräche. Zufriedenheit dagegen muss sich rechtfertigen. Sie steht rasch unter Verdacht: zu bequem, zu naiv, zu wenig engagiert.

Solche Gleichungen sind trügerisch. Denn das fortgesetzte Murren verändert die Welt selten zum Besseren. Es macht sie nicht heller. Was es aber verändert, ist der Blick auf sie: Er wird dunkler, schwerer, enger. Das Gemüt gewöhnt sich an diese Tonlage – bis sie als Normalfall gilt und kaum mehr hinterfragt wird.
Ein Gedanke ohne Programm – und gerade deshalb wirksam
Der Stanser Buchhändler Josef von Matt (1926–2016)[1] hat dem in seinem Neujahrsgedanken von 1993 etwas entgegengesetzt, das gerade durch seine Zurückhaltung überzeugt. Kein grosses Programm, kein moralischer Appell, keine gesellschaftliche Diagnose. Stattdessen ein schlichter Wunsch: an jedem Tag eine Werktagsfreude.
Nicht das Ausserordentliche soll uns tragen, nicht der Ausnahmezustand, nicht das grosse Ereignis. Sondern das Kleine, Alltägliche, das unscheinbar Mitlaufende: eine Arbeit, die Sinn erkennen lässt; ein Gespräch ohne Eile; ein Moment der Stimmigkeit. Werktagsfreude meint kein grosses Glück, sondern ein stilles Einverstandensein mit dem, was den Tag trägt.
Dass Josef von Matt diesen Gedanken in Mundart formulierte, ist kein Zufall. Er klingt weniger wie ein Vorsatz als wie ein leiser Zuspruch aus dem Alltag.

Josef von Matt, Neujahrsgedanke 1993 (Nidwaldner Mundart):[2]
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Miär gruchsid, schimpfid, hend es Kleen Und gwehnid iis a derig Teen, trotzdem äs iis meischt rächt guet gad. Nur wär vill chlagd, schind ufem Pfad Vo Tuged z`gah. Ich säge schlicht, grad mid me ehrlich frohe Gsicht chaisch mängem Mänsch siis Gmiät uiftue. Ich wiisch`dr härzlich da dr zue niid Gwaltigs – eifach, weme seid, a jedum Tag ä Wärchtigsfreid. |
Wahrnehmen ist anspruchsvoll
Für Josef von Matt bedeutet Werktagsfreude kein Verklären der Verhältnisse. Sie verlangt weder Optimismus auf Vorrat noch das Ausblenden des Schwierigen. Im Gegenteil: Sie setzt Wahrnehmung voraus. Das genaue Hinschauen auf das Gelingende mitten im Unvollkommenen, auf das Verlässliche im Brüchigen, auf das, was Bestand hat, ohne sich in den Vordergrund zu drängen.
Vielleicht ist diese Form der Freude gerade deshalb anspruchsvoll. Denn sie widerspricht einer eingeübten Haltung: der Gewohnheit, das Fehlende lauter zu benennen als das Vorhandene. Werktagsfreude ist keine Stimmung, die sich einstellt, sondern eine Haltung, die geübt werden will – leise, unspektakulär, aber beharrlich.
Das ehrlich-frohe Gesicht
Von Matt spricht von einem «ehrlich-frohen Gesicht». Auch darin liegt eine feine Präzision. Ehrlich – nicht aufgesetzt, nicht demonstrativ. Froh – nicht euphorisch, nicht naiv, sondern offen. Ein solches Gesicht, schreibt er, könne manchem Menschen das Gemüt erhellen, «uiftue».
Freude erscheint hier nicht als private Befindlichkeit, sondern als Beziehungsgeschehen. Sie wirkt, ohne zu belehren. Sie öffnet, ohne zu fordern. In diesem Sinn ist Werktagsfreude mehr als eine persönliche Tugend. Sie ist eine soziale Geste – zurückhaltend, unaufdringlich, aber mit Wirkung.
Eine stille Form von Wachheit
Vielleicht ist Werktagsfreude eine vergessene Form von Zivilität. Eine Haltung, die die Klage nicht verbietet, ihr aber nicht das letzte Wort überlässt. Eine Wachheit, die sich nicht allein aus Empörung speist, sondern aus der Fähigkeit, auch das Gelingende wahrzunehmen.
«Nichts Gewaltiges», wünscht Josef von Matt. Vielleicht liegt genau darin die Weisheit dieses Neujahrsgedankens: dass das Leben nicht von den grossen Tagen getragen wird, sondern von der Aufmerksamkeit für das Gute im Gewöhnlichen.
Werktagsfreude meint eine Aufmerksamkeit für das Gute im Gewöhnlichen – unspektakulär, anspruchsvoll und von sozialer Wirkung.
[1] Die Literatenfamilie von Matt aus Stans:
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Die Familie von Matt aus Stans ist seit Generationen eng mit Sprache, Literatur und Kultur der Zentralschweiz verwoben. Am bekanntesten wurde Peter von Matt (1937–2025), Germanistikprofessor an der Universität Zürich und Essayist, dessen Werk weit über den akademischen Raum hinauswirkte. Sein Bruder Klaus von Matt wirkte kulturell vor allem vor Ort, während ihr Onkel Josef von Matt (1901–1988) als Mundartschriftsteller, Verleger und Redaktor das Nidwaldner Kulturleben prägte. Sein Sohn, Peter von Matts Cousin Josef von Matt (1926–2016), trägt mit seinem Gedicht Werkstagsfreude zu dieser leisen Tradition bei. Bis heute lebt sie im Stanser Buchhändler Martin von Matt fort.
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[2] Übertragen in die Standardsprache von Carl Bossard:
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«Wir stöhnen, schimpfen, haben viel zu klagen [ein «Geklöne»]
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