28. Dezember 2025
Reizüberflutung

“Wir erleben jetzt in der Praxis die erste große Welle von diesen Kindern”

Viele Kleinkinder zeigen Autismus-ähnliche Symptome. Doch oft liegt die Ursache nicht in einer Erkrankung, sondern im Wohnzimmer. Kinderärztin Katrin Klöpper warnt in einem Interview mit der WELT vor Dauerbeschallung durch Bildschirme – und erklärt, was schon zwei medienfreie Wochen verändern können.

 

Immer mehr Kleinkinder zeigen Verhaltensweisen, die an Autismus denken lassen – doch oft steckt etwas anderes dahinter: zu viel Bildschirmzeit, zu wenig echte Welt. Katrin Klöpper, ärztliche Leiterin der Kinder- und Jugendambulanz/SPZ in Berlin Charlottenburg-Wilmersdorf, einer kombinierten Einrichtung der Frühförderung und Sozialpädiatrie im Land Berlin, beobachtet in ihrer Praxis eine alarmierende Entwicklung: Klein- und Vorschulkinder, die kaum sprechen, auf Zehenspitzen laufen und den Kontakt zu ihrer Umwelt verlieren. Auslöser ist die Dauerberieselung durch Handys, Tablets und Fernseher. Im Gespräch mit WELT erklärt Katrin Klöpper, was im kindlichen Gehirn passiert – und was bereits zwei bildschirmfreie Wochen für Veränderungen bewirken können.

 

WELT: Frau Klöpper, immer öfter ist vom “virtuellem Autismus” zu lesen. Was genau ist darunter zu verstehen?

Katrin Klöpper: Der Begriff “virtueller Autismus” wird häufig verwendet, wenn über die Auswirkungen von Medienkonsum auf Kleinkinder gesprochen wird. Sie zeigen Symptome wie autistische Kinder, werden deshalb oft auf dieser Grundlage diagnostiziert und behandelt. Das entspricht jedoch nicht den Bedürfnissen dieser Kinder. Deshalb hadere ich selbst so mit dem Begriff. Fachlich ist er auch nicht etabliert.

 

Jette Moche, Journalistin bei der WELT

WELT: Welchen finden Sie passender?

Klöpper: Ein besserer Begriff wäre die “sensorische Deprivation”. Damit ist ein Mangel an Reizen für die Sinne, wie Sehen, Hören und Fühlen, gemeint. Allerdings empfinde ich diese Bezeichnung Eltern als nur schwer vermittelbar, weil er auch Vernachlässigung impliziert. Ich möchte allerdings nicht mit dem Finger auf die Erziehungsberechtigten zeigen, sondern betonen, dass hier ein Mangel an Reizangeboten vorliegt. Vielleicht können wir einen ganz neuen Begriff etablieren: Eine niedergelassene Kollegin sprach vor Kurzem von einer Medien-induzierten Entwicklungsstörung, was ich sehr treffend fand. Da ich Bücher als Medium aber als sehr nützlich für die Entwicklung ansehe, könnte man noch konkretisieren im Sinne einer Bildschirm-induzierten Entwicklungsstörung.

 

WELT: Mit welchen Symptomen begegnet Ihnen dieses Phänomen?

Klöpper: Einige Kinder kommen mit schwersten Entwicklungsstörungen, unter anderem eingeschränktes Sprachverständnis oder Gehen auf Zehnspitzen. Zudem zeigen sie wenig oder sogar keine Reaktion auf ihr Umfeld, reagieren mit Ängsten oder als aggressiv empfundenem Verhalten. Regulationsversuche schlagen fehl, generell ist die Kontaktaufnahme eher schwierig. Bei einem Fall, der ist ungefähr acht Jahre her, wussten wir nicht, ob bei dem Kind Autismus oder eine geistige Behinderung vorliegt. Mit 3,5 Jahren kam es dann in eine in Inklusion erfahrene Kita – und machte plötzlich Fortschritte. Bei Autismus oder einer geistigen Behinderung ist das in dem Umfang, den das Kind zeigte, sehr ungewöhnlich und in mir entwickelte sich nach Gesprächen mit den Eltern der Verdacht: Die Entwicklungsstörungen waren durch zu hohem Medienkonsum entstanden.

Katrin Klöpper, ärztliche Leiterin der Kinder- und Jugendambulanz/SPZ in Berlin Charlottenburg-Wilmersdorf (Bild: Katrin Klöpper)

WELT: Was meine Sie mit zu hoch?

Klöpper: In diesem Fall waren es 18 Stunden am Tag. Das Kind hatte einen eigenen Bildschirm mit Touchscreen-Funktion in seinem Zimmer und unbegrenzt Zugang zu Smartphone und Tablet. Durch die Kita war es automatisch weniger geworden und das Kind konnte so in der Entwicklung aufholen. Der Fall zeigt, dass die Kinder heutzutage leider immer früher immer mehr Bildschirmmedien konsumieren. Auch deshalb hat sich bei uns in der Praxis in den vergangenen drei Jahren die Zahl von Kindern mit Verdacht auf Autismus verfünffacht.

 

WELT: Aber der Verdacht bestätigt sich dann nicht immer?

Klöpper: Genau. In vielen Fällen haben wir festgestellt, dass bereits für die Kleinsten tagsüber stundenlang der Fernseher läuft und sie Videos über ein Smartphone oder Tablet schauen. Gern werden auch Kinderlieder über Videos angeboten. Hier sollte man sich jedoch bewusstwerden, dass es bei den Videos um visuelle Inputs handelt, die passiv konsumiert werden. Es geht nicht um das aktive Hören der Lieder, das zum Mitsingen oder Mitbewegen auffordert. Lernen können wir Menschen nur durch aktive Tätigkeiten.

 

WELT: Der Fernseher lief auch früher bei vielen den ganzen Tag. Was ist heute anders?

Klöpper: Ich glaube, heute betrifft es noch mehr Familien und es ist ein Unterschied, ob ein Kind auf den Fernseher schaut, der weiter weg steht oder das Handy und Tablet direkt vor der Nase hat. Da ist kein Raum mehr zwischen, nichts anderes aus der Umgebung wird wahrgenommen. Und es gibt inzwischen Situationen, in denen die Kleinsten ständig ein Handy vor der Nase haben. Gerade in Stresssituationen kann das dazu führen, dass die Kinder nicht lernen, ihre Gefühle zu regulieren.

 

WELT: Was genau meinen Sie damit?

Klöpper: Das Kind mit bunten Clips auf Handys ruhigzustellen, hilft nicht dabei, Emotionen zu regulieren. Kinder benötigen Eltern als Vorbilder, für Gespräche über Gefühle und Trost. So entsteht auch Bindung zwischen ihnen. Eine wichtige Basis für die kindliche Entwicklung, zum Beispiel um später empathisch reagieren zu können.

 

WELT: Sie sagen, auf den ersten Blick ähneln sich die Symptome mit denen von Autisten. Was sind die Unterschiede?

Klöpper: Ich merke, dass mich die Kinder, wenn wir in einem Raum sind, gar nicht wahrnehmen. Auch Spielzeug wird in der Regel ignoriert, weil sie das Konzept von Bausteinen zum Beispiel nicht kennen. Autistische Kinder hingegen bewegen sich relativ frei und sind neugierig, wenn auch auf ihre Weise.

Nur weil ein animierter Bär auf dem Handy sagt, dass der Ball blau ist, heißt das nicht, dass das Kind die Farbe auch in der realen Welt erkennt.

 

WELT: Nun gibt es auch viele Lern-Apps oder Sendungen speziell für Kinder, die Wissen vermitteln. Was sagen Sie dazu?

Klöpper: Eines der größten Missverständnisse ist, dass wir glauben, kleine Kinder würden dadurch lernen. Nur weil ein animierter Bär auf dem Handy sagt, dass der Ball blau ist, heißt das nicht, dass das Kind die Farbe auch in der realen Welt erkennt. Das Angebot ist zweidimensional, eine reine Beschallung, weil das Sprechen und Fühlen fehlen. Ein Kind lernt erst durch Interaktion. Im Fernsehen zu hören “Wasser ist nass” hat nicht den gleichen Lerneffekt, wie es beim Baden zu spüren, zu hören und auch nachsprechen zu können. Solche Verknüpfungen entstehen automatisch im Gehirn, wenn Kinder im Alltag einfach mitmachen dürfen.

 

WELT: Was passiert im kindlichen Gehirn bei längerer und regelmäßiger Bildschirmzeit?

Klöpper: Die Filmchen lösen bei Kindern im Gehirn eine Dopaminausschüttung aus, die das Belohnungssystem aktiviert und Glücksgefühle erzeugt. Wird zu viel konsumiert, kommt es zur Reizüberflutung und Konzentrationsproblemen. Irgendwann braucht das Gehirn immer stärkere und schnellere Reize und alternative Aktivitäten erscheinen langweilig. Zudem bleibt mit der Zeit der Dopaminanstieg nach einem kurzen Moment der “Vorfreude” des Gehirns aus und das Niveau fällt ggf. sogar unter das Ausgangslevel, dann entsteht eine Art Druck, das Belohnungsgefühl sofort wiederzubekommen – mit entsprechendem Verhalten des Kindes.

 

WELT: Gibt es ein Zeitfenster, in der digitale Reize besonders schädlich sind?

Klöpper: Bis zum dritten Lebensjahr entwickelt sich das Gehirn extrem schnell. Darum empfehlen Kinderärzte bis dahin am besten auf Bildschirmmedien zu verzichten. Bis anderthalb Jahre lernen Kinder motorische, sprachliche und kognitive Inhalte weitgehend unabhängig von ihrer Umgebung. Allerdings ist sie zum Üben wichtig. Fehlt die Wiederholung, geht das bereits Gelernte wieder verloren. Und tatsächlich berichten mir die meisten Eltern, dass ihr Kind sich bis zu einem Alter von eineinhalb bis zwei Jahren normal entwickelt habe und nicht auffällig gewesen sei. Ich möchte Fernsehen aber nicht per se verteufeln. Wer abends mit seinem Kind den Sandmann schauen möchte, kann das tun. Am besten zusammen und für die Augen mit Abstand zum Gerät.

Bis zum dritten Lebensjahr entwickelt sich das Gehirn extrem schnell. Darum empfehlen Kinderärzte bis dahin am besten auf Bildschirmmedien zu verzichten.

 

WELT: Kann jede Entwicklungsstörung wieder aufgeholt werden?

Klöpper: Das lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt schwer sagen, wir erleben jetzt in der Praxis die erste große Welle von diesen Kindern. Spannend wird es in ein paar Jahren, wenn wir wissen, ob sie allein für sich sorgen können. Es gibt aber gute Chancen, wenn Bildschirme früh keine Rolle mehr spielen und es bis zur Einschulung eine sichere Bindung zu Eltern und Erziehern gibt. Aber: Laufen zu können, heißt nicht auch die Gefahren im Straßenverkehr zu erkennen.

 

WELT: Wie schnell bemerken Sie Veränderungen, wenn der Medienkonsum drastisch reduziert wird?

Klöpper: Bereits nach zwei Wochen sind häufig schon erste Fortschritte erkennbar. Schlafprobleme bessern sich in der Regel noch schneller.

 

WELT: Warum?

Klöpper: Das Blaulicht der Bildschirme stört unseren Schlaf-Wach-Rhythmus, weil das Hormon Melatonin gehemmt wird. Ein Kind ohne Medienzeit am Abend merkt, dass es dunkel wird, vielleicht gehen auch andere Familienmitglieder schlafen. So entstehen Verknüpfungen und Rituale. Da wir Menschen hoch anpassungsfähig sind, können diese immer eingeführt werden.

Ich möchte niemandem Angst machen, aber jeder sollte seinen Medienkonsum kritisch hinterfragen und sich seiner Vorbildfunktion bewusst sein.

 

WELT: Gibt es einen Punkt, an dem sich das Gehirn nicht mehr vollständig normalisieren kann?

Klöpper: Zum einen, wenn die Eltern nicht bereit sind, den Medienkonsum drastisch zu reduzieren. Und, wenn es noch eine andere Ursache neben der Bildschirmnutzung, etwa ein schweres Trauma, in der Familie gibt. Da muss zuerst den Eltern mit einer Therapie und Familienunterstützung geholfen werden. In den Fällen haben wir auch engen Kontakt zur Kita.

 

WELT: Hatten Sie schon mal einen Fall, wo Sie sagten: “Hier kommen wir nicht mehr weiter”?

Klöpper: Wir haben tatsächlich einige Kinder, die wir tagesstationär an eine Kinder- und Jugendpsychiatrie weiter verweisen. Nicht selten kommt es beim Absetzen der Bildschirme zu Entzugserscheinungen, die sich durch Wut und Aggressionen zeigen. In ihrer Verzweiflung durchwühlen die Kinder sämtliche Taschen oder versuchen Codes zu knacken, um Zugang zu den Geräten zu kriegen. Das kann Eltern sehr unter Druck setzen. Ich möchte niemandem Angst machen, aber jeder sollte seinen Medienkonsum kritisch hinterfragen und sich seiner Vorbildfunktion bewusst sein.

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2 Kommentare

  1. Ein dreieinhalbjähriges Kind während 18 (!) Stunden am Tag vor dem Bildschirm zu platzieren, ist m. E. schlicht kriminell. Da bleiben ja noch kaum 6 Stunden Schlaf, abgesehen vom Schaden, den das Kind wegen des irren Konsums von virtuellen Inhalten erleidet.
    Wer glaubt, dass sich solche Geschöpfe auch nur ansatzweise zu mündigen Staatsbürgern entwickeln, ist hoffnungslos naiv und verblendet. Diese Gesellschaft hat so was von fertig!

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