Inputs, Präsentationen und Vorträge der Lehrpersonen sind heute kürzer geworden. Die Schülerinnen und Schüler[1] sollen dranbleiben und nicht abhängen. Das methodisch-didaktische Unterrichtssetting muss abwechslungsreicher gestaltet werden. Die erforderlichen Anpassungen führen vermehrt zu einem unruhigen Unterrichtsverlauf. Dazu kommt die ohnehin grosse kognitive und verhaltensbezogene Bandbreite innerhalb der Klasse. Bei den Pädagoginnen und Pädagogen führt dies alles zu Unzufriedenheit und Stress.

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Das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS)
Einer der Hauptgünde dieser Erscheinungen sind Kinder mit der ärztlichen Diagnose ADHS[2]. Das Phänomen tritt zunehmend in allen von Hochtechnologien getriebenen Gesellschaften auf. Auf die Schule bezogen leiden Kinder und Jugendliche unter Konzentrationsschwierigkeiten, leichter Ablenkbarkeit, langsameres Arbeiten, häufiges Vergessen, Schwierigkeiten, etwas zu Ende zu bringen, geringer Impulskontrolle, verstärktem Bewegungsdrang[3], motorischer Unruhe, Unterbrechungen anderer, Handeln ohne grosses Nachdenken und emotionaler Reizbarkeit. Die Aufzählung ist nicht abschliessend. All diese Empfindungen überfordern, belasten und ermüden die Betroffenen[4]. Im Schulzimmer wirken sie oft auffällig und können zu Störenfrieden[5] werden. Die Gegenwehr erfolgt heutzutage meist mit dem Medikament Ritalin. Dieses führt dazu, dass Kinder in ihrem Verhalten ruhiger, gefügiger, ausdauernder und konzentrierter werden. Sie werden sozusagen «stillgelegt»[6].
Geschichtlicher Rückblick
Seit den 1970er Jahren kennen wir den Personal Computer. Er markiert den Beginn des digitalen Zeitalters, in welchem die gleichnamigen Technologien alle Lebensbereiche durchdringen. Die Weiterentwicklung in Richtung Verkleinerung (Minitiarisierung) hat hier eine ungeheure Steigerung erfahren. Heute ist das Smartphone zum Taktgeber des Lebens geworden. Unsere Aufmerksamkeit wird von diesem Gerät absorbiert und zermürbt. Wir alle kennen das Bild: Zwischen dem Kind und dem betreuenden Elternteil ist stets das Smartphone. Die Folgen sind weniger Blickkontakte, weniger Gespräche, weniger Beobachtungen, die dem Kind zugutekommen[7]. Geteilte Aufmerksamkeit, nennt sich das. Und Kinder kopieren dieses Verhalten.
Parallel zu dieser Entwicklung – die vor mehr als einem halben Jahrhundert ihren Anfang nahm – fiel es medizinischen Fachpersonen auf, dass seit damals ein neuer, menschlicher Verhaltentypus am Entstehen ist, der wie fremdgesteuert zu funktionieren begann.

Symptombekämpfung statt Ursachenbehebung
Die Frage nach den ursächlichen Gründen dieser zunehmenden Abhängigkeiten und Beeinflussungen sowie dem Umgang mit denselben drängt sich auf: Die erste Antwort lautet, dass es Kinder mit einer neurologisch bedingten ADHS-Symptomatik seit jeher gab, lange bevor wir in der jetzigen Epoche angekommen sind. Heute wissen wir einfach viel mehr darüber. Die zweite Antwort zeigt das viel düstere Bild, wonach heutige Kinder zahlreichen Störfaktoren und Reizüberflutungen[8] ausgesetzt sind, die eine ADHS-Anfälligkeit begünstigen. Davon seien drei Gründe nachstehend näher ausgeführt: (1) Das Fehlen fester Tagesrhythmen, (2) Bewegungsarmut und (3) die Smartphone-Problematik. Dieser Gesamtmix hat primär mit der elterlichen Sorge- und Erziehungspflicht zu tun. Fachleute sprechen hier von erzieherischem Unwissen[9], von einer problematischen Bequemlichkeit und gar von Fahrlässigkeit (Türche, 2012).

Ein Exkurs zur menschlichen Neigung, weshalb die Symptombekämpfung eines Leidens oft vor der Ursachenanalyse steht, zeigt mehrere Faktoren:
Kurzfristige Lösungen. – Man tendiert zu raschen Ergebnissen. Symptom-Behandlungen führen meist schneller zu spürbaren Effekten, während die Ursachenbehebung Zeit und Aufwand erfordert.
Emotionale Reaktionen. – Betroffene leiden unter den Belastungen, die durch unmittelbare Symptome auftreten. Sie konzentrieren sich auf die Linderung des Schmerzes, statt die Problemursachen zu analysieren.
Mangelndes Bewusstsein. – Die tieferliegenden Ursachen sind einem nicht bewusst; oder man will sich diesen nicht widmen.
Angst vor Veränderung. – Die Auseinandersetzung mit Ursachen kann Veränderungen erfordern, die unangenehm oder beängstigend sein können. Das Leben mit Symptomen ist einfacher als Veränderungen vorzunehmen.
Gesellschaftlicher Druck. – In unserer Gesellschaft wird der Fokus oft auf Ergebnisse und auf Effizienz gelegt. Dieses Mindset führt dazu, dass eher symptomatische Lösungen priorisiert werden, um den Erwartungen anderer zu entsprechen.
Fehlende Ressourcen. – Ursachen zu analysieren und anzugehen, erfordert Zeit. Manchmal stehen die notwendigen Ressourcen nicht zur Verfügung. Das kann finanzielle, soziale oder bildungsbezogene Günde haben.
Kognitive Verzerrungen. – Voreingenommenheit oder Fehlinformationen führen dazu, dass Symptome als das Hauptproblem betrachtet werden. Ein umfassender Blick auf die Problemsituation fehlt.
All diese Faktoren können in Kombinationen auftreten. Sie zeigen, wie Individuen und Gesellschaften oft mit Problemen umgehen. Nachhaltige Veränderungen passieren nur dann, wenn das Bewusstsein für eine Ursachenbehebung vorhanden ist und entsprechende Schritte zur Lösung unternommen werden.
Die Hoffnung heisst Vorbeugung
Aus dem Repertoire an Präventivmassnahmen gehe ich – wie erwähnt – auf drei Themen ein, die meines Erachtens die ADHS-Anfälligkeit dämpfen können. Es handelt sich um einfache Rezepte. Voraussetzung ist der elterliche Wille, diese im Sinne von Regelsetzungen und Ritualen[10] zu beherzigen und umzusetzen.
- (1) Feste Tagesrhythmen
Ausreichend Schlaf
Zu diesen gehört genügend Schlaf. Schulkinder der Unter- und Mittelstufe – also sechs- bis 12-jährige – benötigen eine tägliche Schlafenszeit von 9 bis 12 Stunden. Schlafdefizite führen zu geistiger Erschöpfung, vergleichbar mit zu wenig Energie, welche während des Tages nicht zur Verfügung steht. Die Folgen sind Müdigkeit, Unkonzentriertheit und Gereiztheit. Schlafmangel trägt mit sehr hoher Wahrscheinlicheit zu der Flutwelle psychischer Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen bei, die viele Länder Anfang der 2010er-Jahre überrollte (Haidt, 2024).
→ Zu den Ritualen gehört der bewusste und strukturierte Übergang vom Tag in die Nacht. Dabei stellt die Begleitung der Kinder durch die Eltern einen besonderen Wert dar.
Gesunde Ernährung
Eine richtige und gesunde Ernährung gilt als Fundament für ein stabiles Nervensystem. Sie kann helfen, die Gehirnleistung zu optimieren und Verhaltensprobleme zu reduzieren[11]. Fastfood sowie aufputschende und stark zuckerhaltige Getränke[12] gehören nicht auf die Speisekarte von Kindern; auch nicht auf diejenige von vorbildlichen Eltern.
→ Zu den Ritualen gehören regelmässige Essenszeiten, wenn möglich im familiären und sozialen Umfeld.
- (2) Mehr Bewegung und Sport
Kinder benötigen viel Zeit zum freien Spiel in der wirklichen Welt[13], um sich zu entwickeln. Und sie profitieren von Spielen, in denen sie auch lernen, mit Herausforderungen umzugehen. Damit entwickeln sie wichtige Kompetenzen für das spätere Leben (Haidt, 2024). Sportliche (Team-)Aktivitäten mit Gleichgesinnten erhöhen den Gemeinschaftssinn, die Zugehörigkeit, das Feiern von Erfolgen und Misserfolgen, die Frustrationstoleranz und vieles mehr. Dazu gehört beispielweise auch der Schulweg mit Kolleginnen und Kollegen, der zu Fuss oder mit dem Fahrrad und nicht mit dem elterlichen Taxi begangen wird. Helikoptereltern, die einen «Sicherheitskult» betreiben, erschweren ihren Kindern zu lernen, um sich selbst zu kümmern und mit Konflikten und Frustration zurechtzukommen.
→ Zu den Regeln und Ritualen gehören regelmässige, körperliche (Outdoor-)Aktivitäten. Die Natur bietet hier ungeahnte Möglichkeiten.
- (3) Digital Dedox
Smartphones in Kinderhänden entwickeln sich zunehmend zu einem grossen Problem. Teenager im Alter von 13 Jahren – das sind Schülerinnen und Schüler der Oberstufe – verbringen im Durchschnitt sechs bis acht Stunden pro Tag und Nacht mit bildschirmbasierten Freizeitaktivitäten[14].
Einzelne Länder verhängen Handyverbote an Schulen oder nehmen den Kampf gegen die grossen Tech-Anbieter auf, um die Nutzung von bestimmten Social Media Apps einzuschränken. In der Schweiz sind es erste Kantone, die in ihren Volksschulen dazu übergehen, Smartphones und Smartwatches aus dem Unterricht zu verbannen. Und dort, wo kantonsweit nichts passiert, entscheiden sich die Volksschulen selbst für ein entsprechendes Verbot oder eine starke Einschränkung. Die Summierung dieser Reaktionsmassnahmen zeigt, dass wir mit unseren Kindern auf einer falschen Spur sind.
Den Bildungsinstitutionen wird einerseits ermöglicht, gegenüber einer technologischen Entwicklung korrigierend einzugreifen. In Bezug auf das Elternhaus hingegen haben sie keinen Einfluss. Heutige junge Eltern sind mit dem Smartphone als ständiges Begleitgadget gross geworden. Der lockere Umgang und das oft unreflektierte Verhalten überträgt sich auf ihren Nachwuchs. Die schädlichen Auswirkungen[15] von Smartphones und Smartwatches in Kinderhänden mit unkontrolliertem und uneingeschränktem Gebrauch – auch während der Nacht – sind erforscht und bekannt. Die ADHS-Symptomatik gehört hier dazu.
→ Zu den Regeln und Ritualen gehört die Smartphone- und Smartwatch-freie Schlafenszeit. Diese Geräte gehören nicht in ein Kinderbett.
Fazit
Der etwas provokative Titel «Rituale statt Ritalin» soll verdeutlichen, dass das Label ADHS heute nahezu zu einem Modetrend mutiert und zu einem sorgenvollen Schüler-Verhaltenstypus geworden ist. Im Sammelbecken dieses Syndroms wird so viel angesiedelt, dass fast jedes Kind von einem der vielen zugeordneten Symptome befallen ist. In der Spiegelung könnte man überspitzt meinen, dass – wer über kein ADHS verfügt – nicht ein normales Kind sei. Trotzdem scheint die menschliche Aufmerksamkeit – und dies in allen Altersschichten – zu einem verlierbaren Gut zu werden. Einer der tieferliegenden Gründe liegt in der erwähnten, zu starken Symptom-Fokussierung.
Die Rückbesinnung und die Bereitschaft, den Ursachen der ADHS-Häufung nachzugehen, scheint mir der einzig richtige Weg zu sein, um hier Gegensteuer zu geben. Das dazu passende Buch «Lasst Kinder wieder Kinder sein»[16] zeigt auf, weshalb immer mehr Kinder zu Problemfällen werden. Ungeschont wird darin erwähnt, dass das Hauptproblem bei den Eltern im Umgang mit ihren Kindern liege. Die Inkompetenz für eine sichere Erziehung und Bindung[17] führe zu Entwicklungsstörungen. Die Psyche könne sich nicht richtig entwickeln und die Kinder würden auffällig. Man könnte über diese Aussagen[18] nachdenken.
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[1] Diese Problematik existiert in gleichem Masse auf allen Bildungsstufen.
[2] ADHS wird heute als eine neurologische Entwicklungsbesonderheit (Neurodiversität) bezeichnet, welche Kinder in ihrem Verhalten beeinträchtigt.
[3] Im deutschen Raum wurde ADHS teilweise unter dem Namen „Zappelphilipp-Syndrom“ bekannt (Quelle: Dubach, A., et. Von hüpfenden Tigern,
roten Zöpfen und zappelnden Kindern. natürlich 10/Oktober 2025.
[4] In einer dem Autor bekannten Volksschulklasse auf der Oberstufe (Zyklus 3) ist die Hälfte der 13-jährigen Schülerinnen und Schüler Ritalin-
abhängig. Das sind 10 von 20 Kindern.
[5] Aussage eines Schülers zu seiner Lehrerin: «Ich nehme Ritalin, damit mich die anderen gernhaben.»
[6] Bregglin, P., Talking back to Ritalin. 1999. «drugs can make a child more easy to be around but not more easy to be with.»
[7] Brisch, K.H., SAFE – Sichere Ausbildung für Eltern. 2020. Die Bedeutung des Blickkontakts und des sprachlichen Ausdrucks als Bindungsfaktoren.
[8] Könnecker, C., Zeiten ohne Handy und Social Media machen uns freier. Interview mit Prof. Urner, M. Neurowissenschaftlerin, Spektrum 11/2025.
[9] Hierzu existieren Weiterbildungen zum Thema SAFE: https://www.khbrisch.de/index.html
[10] Rituale sind nachhaltig wirkende Wiederholungspraktiken als feste Bestandteile einer Lebenstruktur.
[11] Columberg, L. Stressmanagement – Schlüsselfunktion bei AD(H)S. natürlich 10, Oktober 2025.
[12] In der Stadt Bern machen Grossverteiler in unmittelbarer Nähe von Volksschulen Werbung für eine Pausenverpflegung, bestehend aus Redbull
und einem Gipfeli zu einem Niedrigpreis. Die Frage drängt sich auf, ob die Bildungsbehörde hier nicht aktiv werden müsste.
[13] Die wirkliche Welt ist nicht die Online-Welt mit Videospielen, Gamen, Social Media Applikationen, etc.
[14] Haidt, J., 2024. Generation Angst.
[15] Gerber, N., 2024. Smartphones in Kinderhänden – oder: Die schädlichen Auswirkungen.
https://condorcet.ch/2024/09/smartphones-in-kinderhaenden-oder-die-schaedlichen-auswirkungen/ und
Gerber, N., 2024. Die Smartphonesucht bei Kindern – oder: Die Folgen für das junge Gehirn. https://www.nord-waerts.com/denkmomente/
[16] Winterhoff, M. 2013. Goldmann.
[17] Brisch, K.H., SAFE – Sichere Bindung für Eltern. 2020. Die Bindung als Schultzfaktor fürs Leben.
[18] Das Nachdenken könnte mit einer Studie verbunden werden, in welcher beispielweise folgenden Fragethemen nachgegangen wird:
Fokus Eltern: Familienstruktur, Bildungshintergrund, Wohnsituation, Arbeitssituation, Risikofaktoren in der Familie. Fokus Kind mit ADHS:
Betreuungssituation, Einzelkind/Geschwister, Schulleistungen, Freizeitverhalten. Fokus Allgemein: Statistisches zu Alterstrukur von ADHS-
Betroffenen, Zahlenentwicklung, Geschlechtsspezifisches, etc.


Sehr guter Artikel. Wir kennen das mit den psychiatrischen Kübeldiagnosen. ADHS ist eine davon.