11. Januar 2025
Der Buchhandel in der Krise

Ist das Buch am Ende?

Es ist geradezu paradox: Da schreiben immer mehr Menschen Bücher, die von immer weniger Menschen gelesen werden. In den letzten fünfzehn Jahren mussten allein in der Deutschschweiz weit über hundert Buchhandlungen schliessen oder wurden von grösseren Ketten übernommen. Wenn überhaupt Bücher gekauft wurden, so wurden sie immer häufiger bei Amazon online bestellt. Der Umsatz des Deutschschweizer Buchhandels ist in der gleichen Zeit um über zwanzig Prozent gesunken. Trotz dieses schrumpfenden Marktes erscheinen im deutschsprachigen Raum jährlich weit über 80’000 neue Bücher. Wer soll all diese Bücher kaufen? Zumal es dem Buchhandel in Deutschland und Österreich nicht viel besser geht als in der Schweiz. Ein Beitrag von Gastautor Mario Andreotti.

Für die Krise des Buchhandels lassen sich freilich Gründe nennen. Da ist zunächst einmal der Umstand, dass im Zusammenhang mit dem Überhandnehmen der elektronischen Medien, etwa des Smartphones, immer weniger gelesen wird. Hauptkonkurrent des Lesens dürften die vielen Angebote im Internet und vor allem jene der Streaming-Dienste wie Netflix oder Amazon sein. Glaubt man einer deutschen Studie, so beträgt die tägliche Lesezeit pro Person im Durchschnitt ganze zwölf Minuten, die Zeitungslektüre mit eingerechnet. Hier ist die Schule gefordert: Um Kindern die Freude am Lesen näherzubringen und sie so in ihrer sprachlichen Entwicklung zu unterstützen, sollte im Unterricht, etwa durch die Einrichtung fester Lesezeiten, spürbar mehr gelesen werden. Nur so kann sich bei den Kindern eine Lesemotivation entwickeln, die bis ins Erwachsenenalter hält.

Gastautor Mario Andreotti

Die Buchmarkt-Krise ist im Grunde eine Lese-Krise. Die grosse Mehrheit derer, die heute kaum mehr ein Buch kaufen, fühlt sich von den Erwartungen und der Schnelllebigkeit des modernen, digital geprägten Alltags gestresst, ja überfordert. Durch den Kampf um die mangelnde Zeit, aber auch durch die abnehmende Fähigkeit, Stille auszuhalten, eine Grundvoraussetzung für das Lesen, greifen Menschen immer seltener zum Buch. Dazu kommt, dass ihre Aufmerksamkeitsspanne immer kürzer wird. In der Schweiz liest heute nur noch jeder Fünfte ein Buch. Schliesslich erzählen nicht nur Romane gute Geschichten, sondern auch Netflix-Serien, und zwar so packend, dass sie die Zuschauer zu fesseln vermögen.

Um Kindern die Freude am Lesen näherzubringen und sie so in ihrer sprachlichen Entwicklung zu unterstützen, sollte im Unterricht, etwa durch die Einrichtung fester Lesezeiten, spürbar mehr gelesen werden. Nur so kann sich bei den Kindern eine Lesemotivation entwickeln, die bis ins Erwachsenenalter hält.

 

Seit einigen Jahrzehnten schwindet das klassische Bildungsbürgertum, splittert es sich auf. Mit ihm schwindet ein relativ homogenes Zielpublikum, für dessen Mitglieder es zum Selbstverständnis gehört, jedes Jahr zwei, drei Klassiker zu lesen. Der Buchhandel muss mit neuen Mitteln ein neues Zielpublikum erschliessen. Dabei hat er sich auf ein verändertes Lese- und Kaufverhalten einzustellen. Etwa darauf, dass jene, die noch lesen, ihre Bücher vermehrt online kaufen oder auf E-Reader zurückgreifen. Einige Buchhändler, wie etwa Ex Libris, haben denn auch bereits reagiert und setzen nun voll auf den Online-Handel. Auch wenn die Kluft zwischen Lesern und Nichtlesern wächst, so lässt sich doch feststellen, dass jene, die lesen, tendenziell sogar häufiger lesen. Das gilt zum einen für die Frauen, die deutlich mehr lesen als die Männer, und das gilt zum anderen für die jüngere Generation überhaupt, also für Menschen zwischen 16 und 29 Jahren, die zu den leidenschaftlichsten Lesern gehören: 60 Prozent von ihnen lesen mindestens ein Buch pro Jahr.

Buchbranche ist gefordert

Als Folge der rasanten Entwicklung des Internets wird immer wieder das Ende des Gutenberg-Zeitalters, also des gedruckten Buches, beschworen. Und in der Tat spüren die Printmedien die Konkurrenz des Internets. In den USA schliessen reihenweise auch grössere Zeitungen. Im Buchmarkt, vor allem im Bereich der Literatur, setzt die Entwicklung freilich langsamer ein, denn noch sind Bücher in digitaler Form unbequem zu lesen. Aber längst gibt es E-Book-Lesegeräte, die bequemer zu benutzen sind und auf denen sich eine ganze Bibliothek herumtragen lässt. Die Buchbranche ist gefordert: Einerseits registriert sie ein sinkendes Interesse am Kulturgut Buch, andererseits glaubt sie zu Recht daran, dass sich das Buch auch in Zukunft behaupten wird.

 

Mario Andreotti, Prof. Dr., geb. 1947, ist Literaturwissenschaftler und war unter anderem als Lehrbeauftragter für Sprach- und Literaturwissenschaft an der Universität St. Gallen tätig. Er wirkt heute noch als Fachreferent in der Fortbildung der Lehrkräfte an höheren Schulen und leitet Literaturseminare. Daneben ist er Mitglied der Jury für den Bodensee-Literaturpreis und Sachbuchautor.

Von ihm erschien im Haupt Verlag Bern unter anderem der UTB Band Die Struktur der modernen Literatur. Neue Formen und Techniken des Schreibens, der längst als Standardwerk der literarischen Moderne gilt und 2022 bereits in 6., stark erweiterter und aktualisierter Auflage vorliegt.

Wohnadresse des Referenten: Birkenweg 1, CH-9034 Eggersriet   E-Mail: mario.andreotti@hispeed.ch

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