Die grosse, letztlich aber ungeklärte Frage nach dem «wie» scheint die Fragen nach dem «was» und dem «warum» zu verdrängen, wenn wir die Reformen in der Schullandschaft in den letzten Jahrzehnten betrachten. Prozesse und Experimente sind zum Mittel der Wahl geworden.
Damit etabliert sich in den Bildungsinstitutionen in den letzten Jahren eine verkehrte Welt. Mit den Bildungsreformen wollte man Zustände herstellen, ohne zu berücksichtigen, dass Bildung und Erziehung keine Produkte sind und es deshalb keine Technologien gibt, mittels derer ihre Ziele erreicht werden können. Weder Kompetenz noch Integration noch Autorität lassen sich herstellen, sie folgen nicht der Logik von Mittel und Zweck. Diese materialistische Fokussierung auf die Ergebnisse von Bildung und Erziehung ist in mehrerer Hinsicht und grundsätzlich äusserst problematisch. Dabei vollkommen ausser Acht gelassen wurde ausserdem, dass ja auch geklärt sein müsste, wie man diese Ergebnisse denn erzielen sollte. Hätte man sich im Vorfeld mit dieser Frage befasst, wäre die Zweifelhaftigkeit der Absicht möglicherweise zum Thema geworden. Der Verzicht darauf liess zu, dass die Reformen zum Experiment wurden: In der Wirklichkeit zeigen sich nun nicht die Ergebnisse, deren Eintreffen voreingenommen und unbegründet einfach vorausgesetzt wurden, sondern oftmals das genaue Gegenteil davon.
Bildung und Erziehung lassen sich grundsätzlich nicht herstellen. Sie sind geprägt von Intentionen, welche bestimmte Ziele, die als wichtig erachtet werden, erreichen wollen. Doch dafür gibt es keinen Bauplan und keine Bedienungsanleitungen wie bei handwerklichen Produkten oder bei Maschinen. Die Fehlannahme, dass es zwischen dem Lehren und Lernen einen direkten kausal-mechanistischen Zusammenhang gäbe bzw. überhaupt geben sollte, hat dazu geführt, dass Neuerungen eingeführt wurden. Neuerungen, bei welchen man davon ausging, dass damit bestimmte Zustände eintreten würden. Doch Bildung und Erziehung können nicht vom Ende her gedacht werden.
Die Folgen davon sollen hier aufgezeigt werden anhand der folgenden Reformen: Die integrative Schule, das Frühfranzösisch, die frühere Einschulung, die Leistungsbeurteilung und die Selektion, das so genannt selbstorganisierte Lernen in «Lernlandschaften», «Bring your own device», die Einbindung von KI in den Unterricht, die Kompetenzorientierung mit dem Lehrplan 21 und die «neue Autorität».
Es werden Nachteilsausgleiche, individuelle Lernziele, selbstorganisiertes Lernen, Teamteaching und der Beizug von immer mehr Fachpersonen und Therapeuten angeboten. Doch die Probleme schwinden nicht – im Gegenteil: Die Diagnosen steigen, die Kosten explodieren, die Belastungen nehmen zu, die Herkunftseffekte wirken stärker, der Mangel an ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrer wächst und die Lernleistungen sinken.
In Bezug auf die integrative Schule wird gefragt, wie wir mit den ständig steigenden Herausforderungen, die diese sowohl für die Schülerinnen und Schüler als auch für die Lehrerinnen und Lehrer generiert, umgehen wollen: Es werden Nachteilsausgleiche, individuelle Lernziele, selbstorganisiertes Lernen, Teamteaching und der Beizug von immer mehr Fachpersonen und Therapeuten angeboten. Doch die Probleme schwinden nicht – im Gegenteil: Die Diagnosen steigen, die Kosten explodieren, die Belastungen nehmen zu, die Herkunftseffekte wirken stärker, der Mangel an ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrer wächst und die Lernleistungen sinken.
Dass das Französisch am «Früh» gescheitert ist, ist hinlänglich bewiesen.
Das Frühfranzösisch und die frühere Einschulung setzen offenbar darauf, dass jüngere Kinder besser lernen. Ausser Acht gelassen wird, dass das Lernen immer auch auf kognitiven Voraussetzungen beruht, welche sich altersabhängig entwickeln. Eltern, welche den relativen Alterseffekt kennen, schulen ihre Kinder zunehmend später ein, um ihnen bessere Erfolgschancen zu ermöglichen. Und dass das Französisch am «Früh» gescheitert ist, ist hinlänglich bewiesen.
Das Bildungssystem hat auch eine Selektionsfunktion – es entscheidet über den Zugang zu weiterführenden Bildungsmöglichkeiten. Dies ist durchaus problematisch, da die gerechte Zuteilung von Bildungszugängen eine Illusion bleibt, wie die zunehmenden Herkunftseffekte zeigen. Dass eine meritokratische Gesellschaft immer Gewinner und Verlierer kennt, muss man kritisch beurteilen. Auch dass leistungsfremde Merkmale wie soziales Verhalten, vermutete elterliche Unterstützungsmöglichkeiten oder so genanntes Lernverhalten zunehmend Eingang finden in die Verteilung von Bildungszugängen, ist äusserst fragwürdig. Doch die aktuelle Debatte rund um die Beurteilung und die Selektion gipfelt darin, Farben und Symbole statt Noten zu verteilen, «Coachinggespräche» zu führen und Sätze zu formulieren, statt Ziffern zu setzen. Die tatsächlichen Probleme werden verschleiert und es wird so getan, als würde sich dadurch irgendetwas verändern. Im Endeffekt geht es nur darum, die neuen Codes zu durchschauen, was nichts anderes bedeutet, als dass es immer schwieriger wird, zu verstehen, was eigentlich gemeint ist. Wem das nicht gelingt, hat doppelt verloren.
Das «selbstorganisierte Lernen» in «Lernlandschaften», gerne auch in altersdurchmischten Lerngruppen, scheint heute – ausgehend von der zunehmenden Verbreitung – das pädagogisch-didaktische Nonplusultra zu sein. Doch in erster Linie beschäftigen sich diese Ansätze – was die Aufgabe von Lehrerinnen und Lehrer betrifft – vor allem mit der Vorbereitung, Organisation und Administration von Medien, Materialien und Abläufen. Von den Schülerinnen und Schülern wird erwartet, dass sie allein arbeiten, sich konzentrieren und sich angemessen verhalten können, dass sie motiviert und initiativ sind und dass sie ihre Lernprobleme erkennen und diese auch beheben können.[1] Damit sind enorme Anpassungsleistungen gefordert, denn nur wer verstanden hat, was implizit erwartet wird, wird sich hier zurechtfinden; andere scheitern, was dann möglicherweise auf fehlende persönliche Voraussetzungen zurückgeführt wird und teilweise in Diagnosen mündet. Was also tatsächlich geschieht, ist, dass Schülerinnen und Schüler vermehrt sich selbst überlassen werden, für ihren Lernerfolg selbst verantwortlich gemacht werden und damit Selbstständigkeit und Mündigkeit zur Voraussetzung statt zum Ziel von Bildung erklärt werden. Wie viel diese Konzepte noch mit Pädagogik oder Didaktik zu tun haben, sei dahingestellt.
Ebenfalls sehr stark verändert sich das, was einmal unter Unterricht verstanden wurde, mit dem Konzept des BYOD. Sämtliche Materialien sind nur noch online und digital zugänglich. Die haptischen Erlebnisse beschränken sich auf die Bedienung der Tastatur und der visuelle Radius ist auf eine Strecke von 40cm beschränkt. Die Welt zeigt sich aufbereitet im Bildschirm, oft reduziert auf Aufgabenstellungen. Aufträge werden mit Hilfe von ChatGPT bearbeitet und korrigiert. Doch wer die Erledigung an die KI delegiert, wird sich die Welt nicht mehr selbst aneignen; wer keine Bücher mehr liest, sondern Zusammenfassungen schreiben lässt, macht sich kein eigenes Bild mehr und weiss nicht mehr, wie andere die Welt sehen; wer nicht über eine grundlegende Wissensbasis verfügt, sondern immer nur Einzelaspekte abfragt, wird in absehbarer Zeit nicht mehr wissen, wonach man überhaupt fragen kann; wer die grossen Zusammenhänge nicht kennt, wird sich nicht orientieren können; wer nicht mehr selbst Texte schreibt, wird bald nichts mehr zu sagen haben. Die Diskussionen rund um den Einsatz von KI an Schulen erschöpfen sich im Argument, dass diese nun einmal «da» sei, und in den Fragen rund um die vermeintlichen Chancen und um Risiken, die noch gar nicht abschätzbar sind. Doch möglicherweise wäre die wichtigste Frage diejenige nach den Auswirkungen der Dominanz der Bildschirme im Unterricht und dem damit einhergehenden Verlust der unmittelbaren Zugänge zur Welt und zu den anderen Menschen.
Der Lehrplan 21, der in unzähligen Kompetenzen festhält, was Schülerinnen und Schüler können müssen, hat sich – obwohl er im Titel immer noch diesen Begriff verwendet – von der Absichtserklärung des Lehrens verabschiedet.
Der Lehrplan 21, der in unzähligen Kompetenzen festhält, was Schülerinnen und Schüler können müssen, hat sich – obwohl er im Titel immer noch diesen Begriff verwendet – von der Absichtserklärung des Lehrens verabschiedet. Er geht von einem direkten kausalen Zusammenhang zwischen dem Lehren und dem Können aus, der nicht gegeben ist. Gleichzeitig fokussiert er damit auf den Output statt auf den Input, was einer Verantwortungsverschiebung gleichkommt. Ausserdem tut er so, als sei alles, was gelernt werden kann, standardisierbar und in der Formulierung von Können erfassbar. Dies kommt einer reduktionistischen Sichtweise von Bildung und Ausbildung gleich, die sich in der Lösung von Aufgaben und Problemstellungen erschöpft.
Das fragile Moment der Autorität gründet darin, dass sie nur so lange wirksam ist, als dass Vertrauens- und Glaubwürdigkeit ausgestrahlt werden.
Ein weiteres Thema, das an Schulen boomt, ist die so genannt «neue Autorität», welche sich von der «alten» Autorität abgrenzt, der sie unterstellt, ausgedient zu haben und nicht mehr zeitgemäss zu sein. Im Zentrum stehen die Handlungen und Haltungen der Erwachsenen: Wie können sie – gemeinsam – wirksam sein in herausfordernden Situationen, in welchen sie sich ohnmächtig fühlen. Das Interessante ist, dass sich die «neue Autorität» auf das Verhalten Erwachsener fokussiert, doch Autorität ist eine Kategorie pädagogischer Beziehungen, die nicht nur auf den Menschen, sondern immer auch auf die Sache Bezug nimmt; das äussert sich darin, dass Autoritäten einem etwas zu sagen haben. Autorität – auch wenn sie neu genannt wird – kann man nicht einfach haben, sie wird einem zuerkannt von jenen, auf welche eingewirkt bzw. von welchen verlangt wird, dass sie das Erwartete tun. Das fragile Moment der Autorität gründet darin, dass sie nur so lange wirksam ist, als dass Vertrauens- und Glaubwürdigkeit ausgestrahlt werden. Jene Person, auf welche in einer asymmetrischen Beziehung, wie die pädagogische eine ist, eingewirkt wird, muss sich etwas davon versprechen, dass sie den Aufforderungen nachkommt, sie muss verstehen, dass sich jemand für sie interessiert, sich um sie kümmert, etwas Wichtiges und Sinnvolles weitergeben möchte. Es kann vermutet werden, dass die «neue Autorität» mit ihren sieben Säulen, welche bestimmte Verhaltensweisen seitens der Erwachsenen ausführen, damit das Konzept des autoritären Verhaltens bedient, das allein an die Person, nicht aber gleichzeitig an die Sache gebunden ist und das sich nicht als Anerkennungsverhältnis versteht.
Die pädagogische Frage im institutionellen Kontext muss sich – wie eingangs erwähnt – auch damit beschäftigen, was eigentlich getan wird. Und hier zeigen die obigen Ausführungen, dass oft zu kurz gedacht wird bzw. dass klare Antworten gesucht werden für Anliegen, für welche es diese nicht geben kann und deshalb auch nicht geben soll.
Warum die Reformen und die «pädagogischen» Ideen der letzten Jahrzehnte diesem Irrtum eines technokratischen Verständnisses von angeblich kausalen Zusammenhängen im Bildungsbereich aufgesessen sind, hat damit zu tun, dass schnelle Erfolge erzielt werden wollten.
Möglicherweise liegen die Gründe dafür darin, dass dem Irrtum erlegen wird, erwünschte Zustände liessen sich herstellen, man müsse nur wissen wie: Durch die räumliche Integration aller Kinder in den Regelklassen seien diese integriert, durch die Vorverlegung des Fremdsprachenunterrichts würden höhere Lernerfolge erzielt, durch die Verwendung von Farben und Symbolen werde die Beurteilungs- und Selektionsaufgabe angemessen gelöst, das selbstorganisierte Lernen steuere aktiv den eigenen Lernprozess – man versuche sich das bzw. das Gegenteil davon einmal konkret vorzustellen –, die Verwendung von KI ermögliche den Umgang damit, aufgrund von Könnenformulierungen werde mehr gekonnt und die «neue Autorität» verspricht «Stärke statt (Ohn)macht», was eigentlich ziemlich unheimlich klingt.
Warum die Reformen und die «pädagogischen» Ideen der letzten Jahrzehnte diesem Irrtum eines technokratischen Verständnisses von angeblich kausalen Zusammenhängen im Bildungsbereich aufgesessen sind, hat damit zu tun, dass schnelle Erfolge erzielt werden wollten. Naheliegend ist aber, dass dabei bestehende Dilemmas und unauflösbare Widersprüche nicht berücksichtigt wurden, und dass die Steuerung des Bildungssystem als Idee in den Vordergrund trat, was eine Reduktion der Komplexität bedingt.
Kinder und Jugendliche stellen quasi ihre Bildung selbst her, was abgesehen von diesem technologischen Verständnis eine unhaltbare Zumutung ist, weil sie – obwohl sie so sehr auf die Erwachsenen angewiesen wären – allein gelassen werden.
Wenn schulische Bildung als Herstellungsprozess verstanden wird, was die aufgeführten Reformen, die Kompetenzformulierungen und die damit einhergehenden Standardisierungen samt ihrer reduktionistischen Sichtweise vermuten lassen, dann stellt sich auch die Frage, wer denn der Hersteller sei. Man muss annehmen, dass es die Schülerinnen und Schüler sind, welche die «Verantwortung für ihren eigenen Lernprozess» übernehmen, während die Lehrerinnen und Lehrer sie dabei «begleiten». Kinder und Jugendliche stellen quasi ihre Bildung selbst her, was abgesehen von diesem technologischen Verständnis eine unhaltbare Zumutung ist, weil sie – obwohl sie so sehr auf die Erwachsenen angewiesen wären – allein gelassen werden.
Diese Ausführungen mögen nun pessimistisch erscheinen, doch das Scheitern der Reformen stimmt eigentlich optimistisch. Die pädagogische als eine genuin menschliche Aufgabe, nämlich die jüngere Generation in die bestehende Welt einzuführen, damit letztere bestehen bleibt und die Jungen dennoch Neues einbringen können, widersetzt sich dem technokratischen Verständnis eines Herstellungsprozesses. Das wird nun offensichtlich. Doch es ist sehr bedauerlich, dass die schulischen Institutionen zum Experimentierfeld geworden sind und dass die nächste Generation diesen Ideen ausgesetzt wurde, als wäre nur erkennbar und verständlich, was erlebt wird.
Angesichts des Scheiterns wäre es nun angebracht, sich die bedeutsamen Fragen zu stellen. Doch Schulleitungen ziehen es aktuell vor, beim Legospiel nach Werten zu suchen, Kollegien basteln ihre Traumschule, um davon ausgehend ein Leitbild zu formulieren, und Lehrerinnen und Lehrer malen Symbole und Farbflächen, um Leistungen zu beurteilen.
Wer fragt endlich danach, was wir hier eigentlich tun und warum wir es tun? Und wer fragt, wie wir es besser machen könnten?
[1] Vgl. Durler, H. (2022). L’autonomie de l’élève: de quoi parle-t-on? Didactiques en pratique, 8, 55-60.
Treffende Analyse!
Beschrieben wird der sich schon fortgeschritten im Bau befindliche neue Turm zu Babel, dessen Bewohnerinnen und Bewohner der zu schaffende neue Mensch sein werden, abgekehrt von jeglicher Autorität von aussen (man kann sie Gott nennen), nur sich und dem selbstgeschaffenen besseren Selbst verpflichtet, stolzerfüllt.
Auch dieser Turm wird fallen…
Der Soziologe Heinz Bude kritisierte die Gleichstellung von Dienstleistungsorganisation mit Bildungsinstitution bereits 2011 in “Bildungspanik”. Er meint in Kapitel 8 “Die derangierte Institution”:
Organisationen werden nach ihrem erreichten Output mit Zielzahlen beurteilt, Institutionen nach der Übereinstimmung mit ihrem Sinn. Organisationen „inszenieren sich mit Tabellen und Graphen als Systeme der Effizienz, Institutionen dagegen mit Erzählungen und Ritualen als Organe der Tradition.“ Werden Institutionen wie Organisationen behandelt, entscheiden nicht mehr die Ausführenden vor Ort, sondern Testauswerter, die Kennzahlen überprüfen.