Mit 300 Sonnentagen im Jahr wirbt seine Schule, heute ist keiner davon. Diesige Wolken hängen an den Schweizer Alpen, dazwischen stapft Bernd Westermeyer an diesem grauen Herbsttag über einen matschiggeregneten Waldpfad und schwärmt von seinen Schülern. Mit denen unternehme die Schule hier oben häufig Wanderungen, und oft seien sie derart begeistert von der Aussicht, dass man sie regelrecht bremsen müsse, damit es nicht gefährlich werde. Zur überspitzten Veranschaulichung springt Westermeyer leichtfüßig auf einige Steine, die den Pfad vom Abhang trennen, und stellt wild winkend einen aufgeregten Teenager dar. Es soll wohl die Botschaft senden: Wir gehen hier ein bisschen mutiger an die Dinge ran.
Hier, das ist die “Le Regent International School” in Crans Montana, einer kleinen Gemeinde in der südlichen Schweiz. Rund 260 Schüler lernen und leben in der privaten, englischsprachigen Tages- und Internatsschule, zwischen vier und 18 Jahre alt, umsorgt von etwa 80 Lehrern und 40 sonstigen Angestellten – Köchen, Trainern, Fahrern, medizinischem Personal.
In den höheren Stufen kostet ein Schuljahr mehr als 100’000 Franken. Dabei mutet das Schulgebäude rundherum nüchtern an. Drumherum reihen sich Ferienhäuser mit charakteristisch schweizerischen Holzbalkonen, Juweliere, Skipisten – die Gegend ist so wohlhabend, wie sie sich anhört. Westermeyer, ein distinguierter Mann, groß, sportlich-schlank, Glatze, runde Brille ohne Rand, fügt sich optisch und habituell gut ein.
Dabei ist er ein Auswärtiger. Bevor der gebürtige Westfale im Sommer 2023 als sogenannter Director General nach “Le Regent” kam, hat der Pädagoge unter anderem die Klosterschule Rossleben nahe Weimar geleitet, die Naumburger Landesschule Pforta sowie die Schule Schloss Salem, Deutschlands wohl bekanntestes Internat. Als “Offizier für Salem” bezeichnete die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” den Oberstleutnant der Reserve einmal und beschrieb, wie er bei einem Empfang denjenigen Gästen, denen Prosecco zu elitär sei, stattdessen Schnaps anbot: “Den ersten Klaren”, heißt es im Text, “kippt er selbst, auf ex.”
Nun also die Schweiz. Ein freier Denker an einer freien Schule in der Freiheit der Berge. Man kann ihn dort besuchen und Antworten auf Fragen suchen, die Rückschlüsse auf das deutsche Bildungssystem zulassen. Sind Eliteschulen wie seine noch zeitgemäß? Und, wenn ja, was kann die angesichts desaströser Pisa-Ergebnisse unter Druck geratene staatliche deutsche Regelschule von diesen Einrichtungen lernen?
Ein freier Denker an einer freien Schule in der Freiheit der Berge. Man kann ihn dort besuchen und Antworten auf Fragen suchen, die Rückschlüsse auf das deutsche Bildungssystem zulassen.
Zurück von der Bergwanderung geht es in die Sporthalle. Rund 20 Schülerinnen und Schüler, Kinder wohlhabender Eltern aus vielen verschiedenen Nationen, rangeln in Funktionsshirts und langen Sporthosen auf dem Boden. Dazwischen steht Markus von Hauff, Kampfsporttrainer aus Hamburg, und gibt Anweisungen. “Kampfsport formt bessere Charaktere”, sagt er, man vereinige hier “traditionelle Werte mit moderner Erziehung”. Von Hauff wurde von Westermeyer testweise eingeflogen, um zu schauen, wie die Idee bei Schülern und Eltern ankommt. Bislang ist das Feedback positiv. Selbstverteidigung im Unterricht, das bürstet ein wenig gegen den Strich und beschreibt damit gut Westermeyers grundsätzlichen Ansatz, mit dem er andernorts gelegentlich aneckte.
Vereinigung traditioneller Werte mit moderner Erziehung
In Crans Montana sind solche Dinge möglich, weil Westermeyer sich nur dem Aufsichtsrat der privat getragenen Schule gegenüber verantworten muss – und weil die entsprechenden Mittel da sind. Lugt man in die Klassenräume, sind sie vielleicht halb so groß wie in einer staatlichen deutschen Schule. Hier wird in Gruppen von rund zehn Schülern gelernt. Neben dem Unterricht gibt es Angebote für Sport, Sprachen, Musik. Im Keller stapeln sich Snowboards und Skier, auch zwei nahe Golfplätze erfreuen sich bei der Schülerschaft großer Beliebtheit.
Westermeyer führt in die Kantine, holt sich Tablett und Teller, packt ordentlich Fleisch und Gemüse darauf und setzt sich zu einer Gruppe junger asiatischer Schülerinnen. Eine erzählt auf Englisch schüchtern von ihrer Leidenschaft, Musicals, bis Westermeyer einwirft, sie solle nicht so bescheiden sein, tatsächlich singe sie in Japan vor ausverkauften Hallen.
“Jedes Kind hat mindestens ein echtes Talent”, sagt Westermeyer, nachdem die Mädchen zur nächsten Stunde verschwunden sind. “Unsere Aufgabe ist es, unseren Schülerinnen und Schülern zu helfen, dieses Talent, ihre Passion, zu finden.” Die musikalische Japanerin sei ein gutes Beispiel. Im vergangenen Schuljahr habe sich ein anderer Schüler als überaus begabter Violinist entpuppt, dem man anschließend nahegelegt habe, sich neben dem unvermeidbaren schulischen Teil ganz auf die Musik zu fokussieren. Der Schüler habe dann einen immer noch soliden Abschluss gemacht und anschließend die Aufnahmeprüfung an der renommierten New Yorker Juilliard School für Musik bestanden.
Das meinen sie hier offenbar mit Mut – den einzelnen Schüler sehen statt das extern vorgegebene Schulsystem mit seinen eng gesteckten Leitplanken, hinter denen wohl viele Talente unentdeckt bleiben. “Vielleicht”, sagt Westermeyer, “ist ein Grund dafür, dass es heute kaum noch Genies im Bereich der Musik gibt, dass musisch hochbegabte Kinder angesichts einer Vielzahl fordernder Fächer kaum noch Zeit haben, ausreichend zu üben.” Er will sich an Johann Pestalozzi halten – Kopf, Hand, Herz. Frei übertragen also: ganzheitlich lernen.
“Jedes Kind hat mindestens ein echtes Talent. Unsere Aufgabe ist es, unseren Schülerinnen und Schülern zu helfen, dieses Talent, ihre Passion, zu finden.”
Westermeyer muss weiter, er hat einen Termin – der Reporter auch, einen anderen, mit Lara Müller. Die 18-jährige Deutsche lebt seit 2022 hier im Internat, wird die Schule im kommenden Jahr abschließen und will nach einem BWL-Studium in der Schokoladenfirma ihres Vaters in Rheinland-Pfalz einsteigen. Sie lässt sich in Westermeyers Büro gleich neben der Lobby – hätte es mit dem Internat nicht geklappt, wäre aus dem Gebäude ein Hotel geworden – in einen Sessel fallen. Warum sie hier ist? Ihr Vater sei “mit dem deutschen Schulsystem nicht zufrieden” gewesen – schon ihr Bruder sei ein paar Jahre vor seinem Abschluss von einem deutschen Gymnasium in die Schweiz geschickt worden und habe dort “die beste Zeit seines Lebens” gehabt.
Sie habe daher niemand zwingen müssen, auch an eine entsprechende Einrichtung zu gehen. Es sei eine “super Location”, in der man durch das enge Zusammenleben “Freunde fürs Leben” finde und dabei ein “besseres Verständnis von anderen Kulturen” erwerbe. Und entgegen gängiger Klischees werde man “nicht wie eine royale Familie behandelt”. Wer ambitioniert sei, werde gefördert und gefordert. “Hier räumt dir keiner was hinterher, du weißt, dass du beispielsweise für diese Hausaufgabe jetzt gleich einen Zeit-Slot hast, den du nutzen musst, wenn du sie nicht spätabends machen willst. Das ist eine Selbstständigkeit, die dir später sehr helfen wird.” Fazit: “Ich finde es eine Hammer-Erfahrung, ich werde meine Kinder auch auf ein Internat schicken.”
Ähnlich äußern sich weitere Schüler aus anderen Ländern, deren Eltern teils nicht wollen, dass sie namentlich genannt werden. In Crans Montana leben und lernen unter anderem Mexikaner, weil es hier sicherer ist als in ihrem Heimatland, und Südkoreaner, weil sie hier bei hohem Renommee weniger Druck spüren als zu Hause.
Was sie gemeinsam haben, ist Geld. Ist ein Ort wie “Le Regent” nun also eine große Ungerechtigkeit, die den ohnehin Privilegierten einen noch größeren Vorsprung verschafft? Oder ein legitimer Auswuchs kapitalistischer Logik, in der eben derjenige die bessere Bildung bekommt, der sie sich leisten kann?
Bildungsflüchtlinge sind kein neues Phänomen
Deutsche Bildungsflüchtlinge an ausländischen Eliteschulen seien zunächst einmal “kein neues Phänomen”, sagt Klaus Hurrelmann. Der Bildungsforscher ist in Deutschland wohl am besten bekannt für die von ihm mit herausgegebene Studie “Jugend in Deutschland”, von der die Älteren sich Jahr für Jahr erhoffen, nachfolgende Generationen zu verstehen. Habilitiert allerdings hat Hurrelmann, inzwischen 80 Jahre alt, Mitte der 70er-Jahre mit einer Arbeit mit dem Titel “Erziehungssystem und Gesellschaft”.
Eltern, die ihr Kind für viel Geld zum Lernen ins Ausland schicken, wüssten, “dass sie gegen einen gewissen Grundkonsens verstoßen, wenn sie eine derartige Summe zahlen, um ihr Kind aus dem Normalbetrieb herauszunehmen und anderswo unterrichten zu lassen.” Natürlich sorge das für eine “Kontroverse”, sagt Hurrelmann, weil viele Menschen es unfair fänden, “dass man sich gute Bildung kaufen kann, während andere Menschen sich das eben nicht leisten können”. Einerseits.
Andererseits: Was man mit dem ganzen Geld pädagogisch anstellen könne, “das ist schon doll”. Von der individuellen Förderung der Schüler über den ganzheitlichen Ansatz, der auch Sport und gute Ernährung beinhalte, bis hin zur modernen Führungsstruktur mit flachen Hierarchien könnten sich auch staatliche Schulen manches abschauen – teils sei das sogar “fast kostenlos”.
Kontroverse um Eliteschulen
Hurrelmann sieht grundsätzlich nichts Falsches am Konzept Eliteschule. Zumindest, solange entsprechende Einrichtungen sich als Institutionen mit “Laborcharakter” verstünden: Testgelände, die ihre herausgehobene Situation nutzen, um Neues auszuprobieren, das bei Bewährung an staatliche Schulen “transferierbar” wäre. Zudem sollten etwa zehn Prozent der Plätze an Stipendiaten vergeben werden. So kämen diese Einrichtungen auch der Allgemeinheit zugute.
Aktuell jedoch, das müsse man auch sagen, gehe die Entwicklung insgesamt eher in die andere Richtung. Elitäre Abschottung statt Dienst am Gemeinwohl und nur wenige Stipendienplätze, mutmaßlich als “Feigenblatt”.
“Ländern wie der Schweiz oder Deutschland ist es finanziell möglich, jedem Schüler eine Ausbildung wie diese zu ermöglichen: Aber es ist eine kurzsichtige politische Entscheidung, dies nicht zu tun.”
Westermeyer sieht das naturgemäß etwas anders. Zum einen gebe es in Crans Montana derzeit 33 Schüler, denen der Großteil des Schulgeldes erlassen werde. Überhaupt aber sei “Le Regent” durch “bürgerschaftliches Engagement” entstanden, Privatleute seien “in Vorleistung” gegangen, um die Umsetzung finanziell anzuschieben, es gebe Kredite von Banken: “Schon um diese Kredite zu bedienen, kommen wir nicht umhin, Gewinn zu erwirtschaften.”
Hochkarätige Bildung ist auch in der Breite möglich
Letztlich verortet er die bildungspolitische Verantwortung anderswo. Hochkarätige Bildung sei auch in der Breite möglich, wenn das politisch gewollt wäre. Ländern wie der Schweiz oder Deutschland sei es finanziell möglich, jedem Schüler eine Ausbildung wie diese zu ermöglichen: „Aber es ist eine kurzsichtige politische Entscheidung, dies nicht zu tun. Und diese Entscheidung kann man der Politik vorwerfen, nicht aber den Schulen.“ Dem stimmt auch Hurrelmann zu.
Hakt man hier zur deutschen Bildungslandschaft nach, dann platzt Westermeyer, dem stets kontrollierten Kultus-Veteranen, bei dieser Thematik für seine Verhältnisse ein klein wenig der Kragen. “In Deutschland gibt es eine dramatische Unterversorgung an Lehrern, und zugleich sind 16 verschiedene Kultusverwaltungen zu starr, zu unflexibel.” Das werde man beim Thema Digitalisierung zu spüren bekommen: “KI wird aus meiner Sicht wie ein Tsunami über dieses Schulsystem hereinbrechen. Und die Kultusministerien, die in der Regel Jahre brauchen, um Änderungen auf den Weg zu bringen, werden in keiner Weise in der Lage sein, dem Tempo der Veränderung Rechnung zu tragen. Gleichwohl wird sich das tradierte Schulbildungssystem neu erfinden müssen, um Schülerinnen und Schüler auf eine sich radikal verändernde Berufswirklichkeit vorzubereiten.”
Lieber einigen wenigen als niemandem
Westermeyer ist kein ideologischer Technik-Jünger, Smartphones etwa werden den Schülern in Crans Montana abends abgenommen und erst am nächsten Tag nach dem Unterricht wieder ausgehändigt – “aus internationalen Studien weiß man, dass Teenager sonst stundenlang Pornografie oder Clips konsumieren”, erklärt Westermeyer. Schulen müssten aber durchdacht, offen und brauchbar ausgestattet in die Zukunft gehen.
Überspitzt man ein wenig, dann beherbergt Westermeyer also nicht nur deutsche Bildungsflüchtlinge, er ist selbst einer. Wenn man unter den gegebenen Umständen nicht allen bestmöglich helfen kann, so sieht er es, dann doch lieber zumindest einigen wenigen als niemandem.
Nein – KI wird nicht wie ein Tsunami über die Schulen hereinbrechen. KI selbst wird vom Tsunami “Back to the roots” hinsichtlich Schulen vom Erdboden weggefegt werden. Viele Zeichen in verschiedenen Schulsystemen deuten in diese Richtung.
Und dann noch dies:
Es befremdet mich, dass sich private Schulen, deren Schulgeld jährlich zwischen zwischen 100’000 und 200’000 Franken liegt, im Moment derart in den Vordergrund drängen mit der Message: Wir machen es richtig.
Für eine Durchschnittsfamilie ist das unerschwinglich. Somit feiert sich die Elite einmal mehr selbst. Das widert mich an.
“Ländern wie der Schweiz oder Deutschland sei es finanziell möglich, jedem Schüler eine Ausbildung wie diese zu ermöglichen.”
Für Deutschland können wir das ganz grob so kalkulieren: Gehen wir beim deutschen Preisniveau von nur 50.000 € pro Schüler und Jahr aus, so haben wir bei ca. 11 Millionen Schülern eine Summe von über 500 Milliarden € pro Jahr, mehr als der Bundeshaushalt. Das käme hinzu zu dem, was staatlicherseits ohnehin aufgewendet wird. Wenn man auf Internate verzichtet, bleibt schätzungsweise immer noch knapp die Hälfte dieser Summe übrig. Die allermeisten Eltern könnten das nicht aufbringen, also ginge das zu Lasten des staatlichen Etats (oder Schulabgänger wären mit enormen Kreditschulden belastet). Und für ein Lehrer-Schüler-Verhältnis von 80:260 bräuchte man ca. 3,4 Millionen Lehrer statt der 700-800.000, die man derzeit hat. Und dann sollen die Lehrer auch noch hochkarätig sein wie die Bildung, die sie vermitteln. Das klingt utopisch.
Einfacher und finanzierbar wäre es, Eliteschulen für wenige in dem Sinne einzurichten, dass es strenge Aufnahmeverfahren gibt, die sich an der Leistung orientieren. In Schwäbisch-Gmünd (Baden-Württemberg) hat man eine solche Schule gegründet. Was im Artikel beschrieben wird, ist dagegen eine Geldelite-Schule (mit dieser Abtrennung, noch nicht einmal eine Geld-Eliteschule).