27. September 2024
Denkmoment

Politische Bildung an Berufsfachschulen

Neben dem niedrigen Politikinteresse der jüngeren Generation verfügt ein Drittel der Jungwählerinnen und Jungwähler über ein sehr geringes politisches Wissen. Doch dieses ist eine Vorbedingung für das entsprechende Engagement ab der Mündigkeit. Die Berufsfachschule kann hier – wenn auch nur beschränkt – Gegensteuer geben, indem sie mit fokussierter Bildung die niedrige Stimmbeteiligungsquote zu erhöhen versucht.

In der Schweiz absolvieren gegen 70% der Jugendlichen eine Berufsausbildung. Das sind jährlich rund 70‘000 junge Menschen [1], die sich auf den Weg in Richtung einer zwei-, drei- oder vierjährigen Lehre machen. An den Berufsfachschulen erfolgt die berufs-theoretische Ausbildung mittels der Berufskunde. Daneben besuchen die Lernenden Sport und die Allgemeinbildung. Letztere befähigt die jungen Berufsleute unter anderem, unsere Volkswirtschaft weiterzuentwickeln. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft stellen das dreibeinige Netzwerk dar, in welchem sie sich auch nach der Grundausbildung bewegen.

Condorcet-Autor Niklaus Gerber

In einem direktdemokratischen Land wie der Schweiz ist die politische Beteiligung zentral. Von den Menschen – den Bürgerinnen und Bürgern – braucht es dazu politische Kompetenz, um bei nachhaltigen und weitreichenden Gesetzen mit Auswirkungen auf die Ökologie, das ökonomische System und das Soziale mitbestimmen zu können. Viele Entscheide – insbesondere solche mit Zukunftsbedeutung – werden an der Urne gefällt.

Und hier liegt eines der größeren Probleme der jüngeren Generation: Die Stimmabstinenz [2]. Mit Blick auf wichtige Fragen zeigt sich hier ein dramatisches Bild. Mit dem Wissen, dass die Jahre zwischen dem 16. und 20. Altersjahr – also während der Lehrzeit – für die politische Identitätsentwicklung [3] entscheidend ist, darf diese Tatsache nicht unterschätzt werden. Im Gegenteil. Der Fokus auf die politische Bildung mit proaktiven Auseinandersetzungen bezüglich der vielen Zukunftsthemen ist zentral.

Laut einer Studie gibt es kaum Bestrebungen, das politische Interesse der Berufsschülerinnen und -Schüler zu wecken.

Der allgemeinbildende Unterricht an den Berufsfachschulen kann in Bezug auf das Stimmverhalten sehr viel leisten. Rund die Hälfte aller Lernenden erreichen während ihrer Ausbildungszeit das 18. Lebensjahr und damit die Mündigkeit. Sie werden stimm- und wahlberechtigt. Die Absenkung auf das Stimmrechtsalter 16 würde alle Lernenden resp. die ganze Lehrzeit umfassen. Die zahlenmäßigen Auswirkungen der zwei neuen Jahrgänge auf ein Abstimmungsergebnis wären statistisch allerdings gering, das politische Zeichen an die Adresse der Zukunftsgenerationen hingegen bedeutsam.

Heterogenes Bild bezüglich Qualität und Quantität

In der erwähnten Untersuchung (Koller, 2017) kommt die Autorin zum Schluss, dass die politische Bildung in den einschlägigen Rahmen- und Schullehrplänen wohl enthalten sei. Allerdings präsentiere sich schweizweit ein äusserst heterogenes Bild in Bezug auf Qualität und Quantität. Grösstenteils würden konkrete Richt- und Lernziele für den politischen Unterricht fehlen. Die Zielformulierungen für das Erreichen nachhaltiger Kenntnisse und Fertigkeiten seien uneinheitlich, mehrheitlich unpräzis und mit wenig Stringenz. Insgesamt finde sich in der Mehrzahl der Lehrpläne kaum Bestrebungen, das politische Interesse der Schülerinnen und Schüler zu wecken. Die Einführung verbindlicher Standards puncto Inhalt und Umfang sei daher dringend angezeigt. Die Kantone mit ihren Erziehungs- resp. Bildungsdirektionen sowie das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) müssten hierzu eine Lanze brechen.

An der Nahtstelle zur Mündigkeit braucht es mehr politische Bildung. Es dürfte nicht sein, dass die jüngere stets von der älteren Generation überstimmt wird.

 

Im Schullehrplan [4] Allgemeinbildung des Kantons Bern – als Beispiel – wird die politische Bildung unter dem Thema “Demokratie und Mitgestaltung” aufgeführt. Dotiert ist sie – abgestuft nach der Lehrzeitdauer [5] – mit 18, 24 oder 36 Lektionen und findet in allen Berufsausbildungen im 1. resp. 2. Lehrjahr statt. Diese Lernanlässe gehören zum obligatorischen Unterricht. Was hingegen nicht zum Pflichtauftrag einer allgemeinbildenden Lehrperson gehört, ist alles, was darüber hinaus geht und der politischen Bildung zuträglich wäre.

Folgende Schritte wären sinnvoll:

  • Vorbereitungen der Lernenden auf eidgenössische und kantonale Abstimmungen und Wahlen müssten im Unterricht von allen allgemeinbildenden Lehrpersonen konsequent und aktiv bearbeitet werden.
  • Volksabstimmungen mit Zukunftsauswirkungen müssten an den einzelnen Berufsfachschulen oder überregional als zusätzliche Anlässe [6] installiert werden. Die Abstimmungsvorlagen könnten so weiter in der Breite und Tiefe thematisiert und hinsichtlich ihrer Bedeutung behandelt werden.
  • Die politische Bildung an den Berufsfachschulen müsste schweizweit vereinheitlicht, mit verbindlichen Standards versehen und insgesamt höher dotiert werden.
Schreinerlehrlinge an der Arbeit unter Anleitung des Lehrmeisters.

Fazit

Die Berufsfachschule ist derjenige Ort [7], an welchem die Jugendlichen unabhängig von ihrer Herkunft auf ihre Rolle nach der Berufslehre vorbereitet werden. Auf ihrem Lebensweg in der Gesellschaft werden sie sich mit Zukunftsfragen auseinandersetzen und Antworten dazu finden müssen. Dabei geht es um die Welt von morgen.

Die demografische Situation kann nicht verändert werden. Mit einem höheren Politikverständnis und einer deutlich höheren Partizipation an der Urne kann jedoch Gegensteuer gegeben werden. An der Nahtstelle zur Mündigkeit braucht es deshalb mehr politische Bildung. Es dürfte nicht sein, dass die jüngere stets von der älteren Generation überstimmt wird. [8] – Denn: Die Zukunft gehört den Jungen.

 

[1] Bundesamt für Statistik, Berufliche Grundbildung. Total Lehrverhältnisse über alle Berufe und Lehrjahre im 2021: 211’583. Davon ca. 90% mit   einer EFZ-Lehre und ca. 10% mit einer EBA-Ausbildung.

[2] Analysen über mehrere Jahre zeigen, dass die Stimmbeteiligungsrate bei den jungen Wählerinnen und Wähler im Alter von 18 bis 24 stets und   konsequent um 15-20% unter der gesamtdurchschnittlichen Rate von 45-50%. liegt.

[3] Dermont, C. und Stadelmann-Steffen, I., «Die politische Partizipation der jungen Erwachsenen», (2014).

[4]  Übergeordnet existiert ein nationaler Rahmenlehrplan Allgemeinbildung, an welchem sich die einzelnen Schullehrpläne orientieren.

[5]  Dotation bei der 2-jährige EBA-Lehre = 18 Lektionen, bei der 3-jährigen EFZ-Lehre = 24 Lektionen, bei der 4-jährigen EFZ-Lehre = 36 Lektionen.

[6]  Die gibb Berufsfachschule Bern macht dies mit einer so genannten Polit-Woche mit dem Ziel, das politische Interesse von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu fördern.

[7] Neben den Berufsfachschulen betrifft dies auch die Mittelschulen/Gymnasien oder allgemein die Schulen auf der Sekundarstufe 2.

[8] Das könnte früher oder später zu Generationenkonflikten führen. Und niemand hätte Schuld daran. Siehe hierzu Gerber, N., «Den Jungen die    Zukunft – mit einem Generationenvertrag» in Schulführung im Alltag, 2023.

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4 Kommentare

  1. Politische Bildung an Schulen unterliegt immer der Gefahr der ideologischen Indoktrination, wozu auch die Ablehnung gewisser Perspektiven der politischen Realität gehört. Nehmen wir zum Beispiel das Thema “Wohnungsnot” im Zusammenhang mit einer Initiative für “zahlbare Wohnungen”. Wenn man den Schülern das Thema nach ökonomischen Analysekonzepten (Angebot-Nachfrage, Preismechanismus, Regulierung und Staatsinterventionen) näher bringen wollte, gälte das in breiten Kreisen als ideologische Beeinflussung. Dabei ist im Gegenteil die Verhinderung einer solchen Sichtweise ideologisch. Erst wenn man von den konventionellen, langweiligen Ansätzen politischer Schulbildung wegkommt, kann es für die Schülerschaft interessant werden.

    1. Lieber Hans
      Diskursive Auseinandersetzungen mit politischen Themen – seien es solche im Vorfeld von Abstimmungen oder Wahlen – gehören zwingend auf die Sekundarstufe 2. Der Bildungsauftrag gibt vor, dass solche Diskussionen wertneutral erfolgen müssen. Das hängt selbstverständlich von der Lehrperson ab. Es muss ihr gelingen, die jeweilîgen Meinungen und Haltungen (Pro und Kons) in einer Lernenden- oder Gymer-Klasse zu moderieren und zu steuern. Für Ideologie darf kein Platz sein.

    2. Die Lehrperson muss in der Lage sein zu erklären, von welchem politischen oder weltanschaulichen Ansatz her argumentiert wird und welche Interessen hinter einer Stellungnahme stehen. Das ist Aufklärung, und nicht Indoktrination. Im Gegenteil: Den Jugendlichen muss bewusst werden, dass jede Meinung von einem bestimmten Standpunkt aus gebildet wird.

  2. Niklaus Gerbers Sorge um die politische Bildung unserer Jugend ist sehr berechtigt. Seine Vorschläge sind praxisnah und würden helfen, dass sich nicht nur Jugendliche mit gymnasialer Matur mit relevanten gesellschaftlichen Fragen auseinandersetzen können. Politische Allgemeinbildung für alle ist eine Voraussetzung für das Funktionieren einer lebendigen Demokratie.

    Hilfreich für das Verstehen des politischen Geschehens ist ein solider Unterbau durch einen gehaltvollen Geschichtsunterricht in der Sekundarschule. Doch ein Blick in die Praxis zeigt, dass trotz einer Überfülle an herausfordernden Lehrplanzielen der Geschichtsunterricht in vielen Sekundarschulklassen als langweilig gilt. Das ist fatal und stellt bereits in vielen Fällen die Weichen für das Wecken des politischen Interesses falsch.

    Wo in Klassen beispielsweise die eindrückliche Industrialisierung unseres Landes und die aufrüttelnde Soziale Frage an lebendigen Beispielen geschildert wird, setzt politisches Denken bei den meisten Jugendlichen ein. Es gibt viele Themen, die den Anstoss für politischen Interesses geben können. Was aber nicht geht, ist das Weglassen oder schnelle Abhaken markanter Meilensteine der Schweizer- und der Weltgeschichte.

    Es ist dringend nötig, dass sowohl in den Berufsschulen wie in den Sekundarschulklassen die geschichtlich-politische Grundbildung einen höheren Stellenwert erhält. Die aktuelle Unverbindlichkeit in diesem wichtigen Teil der Allgemeinbildung ist kein Gütesiegel eines Bildungssystems, das eine politische Mitsprache aller ermöglichen soll. Gefordert ist nicht zuletzt die Politik, die sich bisher leider zu wenig darum gekümmert hat, was wirklich in den Schulen an geschichtlich-politischem Grundwissen vermittelt wird.

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