Nach fast vier Jahrzehnten als Auslandskorrespondent der Deutschen Presse-Agentur (dpa) kommt der Anruf des Schuldirektors: Ob ein “Feuerwehreinsatz” als Deutschlehrer möglich sei? Denn ein teils dramatischer Lehrermangel lasse einige Klassen ganz ohne Deutschunterricht. Die eigentlich für wenige Wochen geplante Aushilfe dauert am Ende vier Monate. Eine aussergewöhnliche Gelegenheit, in die Praxis einzutauchen, um die vielen Vorurteile auszuräumen oder zu bestätigen.
Vorweg: Ja, es gibt sie noch – die interessierten, schlauen, mitarbeitenden und sozial agierenden Schülerinnen und Schüler. Und ja – viele Pädagoginnen und Pädagogen bemühen sich nach Kräften und manchmal auch mit bemerkenswerten Erfolgen und Lernresultaten. Hier ist jedoch die Rede von der Mehrzahl, vom schulischen Mainstream.
“Ich spreche so, wie ich spreche und das reicht mir!”
Tatort: Deutschunterricht in Realschulklassen mit Schülerinnen und Schülern zwischen 12 und 14 Jahren. Das deprimierende Urteil: Die Kenntnisse der Muttersprache sind erschreckend niedrig. Und was noch bedenklicher ist: Die meisten Kinder bestreiten offen, dass sie sich für die deutsche Sprache interessieren. Im Gegenteil. “Ich spreche so, wie ich spreche und das reicht mir!” und “Ich brauche keinen Deutschunterricht!”, lauten die “Rechtfertigungen”. Ob Deklinationen, Konjugationen, ob Tempora von Verben, die Bestimmung von Satzgliedern, Pronomen, Adverbien oder der Unterschied von Aktiv und Passiv – böhmische Dörfer für die meisten Schüler. Was Subjekte, Prädikate oder Objekte in deutschen Sätzen sind, weiss kaum jemand und will auch niemand wissen.
Sprachliche Defizite
Ein schludriger Sprachgebrauch, ein sehr eingeschränkter Wortschatz und gravierende grammatische Fehler sind das Ergebnis schon auf den ersten Blick. Über das generelle Weglassen des “e” bei Verben in der ersten Person Präsens (ich fahr, schrei, hab, spiel) kann man vielleicht noch hinwegsehen. Doch beim Präteritum unregelmäßiger Verben (ich fliegte, schlafte, blaste, laufte) muss dann doch der Rotstift her. Die Schulbücher haben sich auf diese geringe Sprachkompetenz eingestellt und übersetzen in Fussnoten deutsche Vokabeln, die Schülerinnen und Schülern angeblich nicht geläufig sind.
“Absurd” wird mit “abwegig, verrückt” erklärt, “er stritt” mit “er kämpfte” und “unwirtlich” mit “arm, karg”. Selbst das Verb “posieren” (“eine gekünstelte Haltung einnehmen”) ist den Kindern laut Schulbuch unbekannt. Das gilt demnach auch für Begriffe wie Motel, Orchidee, Terrarium, Kuvert, Pforte, Stube, Wache, Beute, Makkaroni, Sweater oder ein Dutzend, die allesamt übersetzt und damit erklärt werden sollen.
Vokabeln wie behände (flink, geschickt), töricht (dumm), hoch aufgeschossen (gross), hervorlugen (schauen), nahm sich Urlaub (nahm sich frei), flau im Magen (schwach) und dramatische Turbulenzen (spannende Entwicklung) kommen laut dieser Annahme im Wortschatz Heranwachsender nicht vor. Diese Reihe könnte um dutzende Beispiele verlängert werden.
Schulbücher mit Aktualisierungsbedarf
Das Themenkapitel “Balladen erschliessen” beginnt mit diesem Text: “Ab dem 16. Jahrhundert bis ins 18./19. Jahrhundert zogen sogenannte ‘Bänkelsänger’ durch die Ortschaften, um auf Marktplätzen und Jahrmärkten schauerliche Geschichten (z.B. von Morden oder unglücklicher Liebe) zu erzählen”. Welches Kind soll mit solchen Texten angesprochen werden?
Das Kapitel “Fabeln” stützt sich wesentlich auf die Stücke des griechischen Dichter Äsop aus dem 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, die dann noch in einer antiquierten deutschen Übersetzung daherkommen, die für viele nicht mehr zu verstehen ist. Die Schulbuchtexte als Anschauungs- und Übungsmaterial – ob aus der Literatur oder aus den Medien – stammen vorwiegend aus den Neunzigerjahren, sind also drei Jahrzehnte als. Die Schulbücher müssten in kürzeren Zeiträumen aktualisiert werden, um wieder einen Bezug zur Lebenswirklichkeit der jungen Menschen zu finden.
Die Corona-Pandemie bot eine gute Gelegenheit, sich mit Krankheiten und Medizin während der verschiedenen Epochen zu beschäftigen.
Das gilt offensichtlich auch für den Geschichtsunterricht, in dem Kaiser, Könige und Schlachten nach wie vor dominieren. Statt Schülerinnen und Schüler mit faktografischem Kleinklein abzuschrecken, sollten die Themen an die Aktualität anknüpfen: Die Corona-Pandemie bot eine gute Gelegenheit, sich mit Krankheiten und Medizin während der verschiedenen Epochen zu beschäftigen. Themen wie Hygiene (besonders die Geschichte der Toiletten), Ernährung, Familie oder Wohnverhältnisse und Haustiere kommen ebenfalls für einen “Ritt durch die Geschichte” infrage. Mit dieser “Geschichte zum Anfassen” könnten tiefer gehende Probleme und Analysen einzelner Abschnitte der Historie verknüpft werden.
Kein Wunder, dass auch beim letzten Bildungsvergleich Pisa deutsche Schülerinnen und Schüler besonders im Fach Deutsch schlecht abschneiden. Extrem kritisch sieht es beim Textverständnis aus. In einer anderen Realschule hatte ich mit 10- und 11-Jährigen ein Lied einstudieren wollen. Dazu bat ich mehrere Kinder, die einzelnen Strophen mit jeweils vier Zeilen vorzulesen, dann den Text zur Seite zu legen und mit eigenen Worten zusammenzufassen, was gerade vorgelesen wurde. In vielen Fällen waren die Schülerinnen und Schüler dazu ausserstande. Folgerichtig haben die Bundesländer Bayern und Mecklenburg-Vorpommern fürs kommende Schuljahr für die Klassen drei bis zehn die Aufstockung von Deutsch im Stundenplan beschlossen.
Fragwürdiges Klassenklima
Neben den inhaltlichen Defiziten erschwert das Klassenklima nicht selten den Unterricht überhaupt. Die Kombination von Handy, Süssem und Trinken führt zu ständiger Unruhe, die in ziellosem Aktionismus mündet: Kaum jemand kann länger als ein paar Minuten in üblicher Körperhaltung auf seinem Stuhl sitzen, um dem Unterricht zu folgen. Viele hocken mit angezogenen Beinen auf ihren Plätzen. Dem Nachbarn oder Hintermann werden ohne Grund die Stifte oder das gesamte Etui mit Schreibutensilien weggenommen. Stifte werden zerbrochen und andere damit “abgeworfen”, wie es im Jargon der Jugendlichen heisst. Durch die Klassen geworfene Papierkügelchen gehören zum Unterrichtsalltag.
An manchen Tagen sieht der Boden des Klassenzimmers aus wie ein “Schlachtfeld”: abgerollte Papierhandtücher, leere Flaschen und zerbrochene Stifte… – Nicht ohne Grund gibt es in jeder Klasse einen Fegedienst, weil sich die Putzkräfte sonst weigern, diese “verwüsteten” Klassenräume nach Schulschluss zu säubern.
Das Dauertrinken erinnert ebenfalls stark ans längst vergangene Babyalter. Die top gestylten Trinkflaschen – oft mit süssem Saft – sind für die Sitznachbarn eine ständige Quelle der Begierde.
Regelmässig fallen dauerkippelnde Schülerinnen und Schüler unter großem Jubel der Klasse mit ihren Stühlen um. Einzelne krabbeln unmotiviert wie Kleinkinder auf dem Boden unter Tischen und Stühlen herum. Besonders aktive Jungen werfen sich ohne ersichtlichen Grund auf den Boden und behaupten, sie hätten sich den Fuss verstaucht oder gar einen Muskelfaserriss zugezogen. Das sorgt für lautstarke Heiterkeit. Das Dauertrinken erinnert ebenfalls stark ans längst vergangene Babyalter. Die top gestylten Trinkflaschen – oft mit süssem Saft – sind für die Sitznachbarn eine ständige Quelle der Begierde. Wenn es gelingt, die zu “entwenden”, steht nicht nur in dieser Sitzreihe “Aufruhr”, der sich in konzentrischen Kreisen ausweitet.
Handys sind im Dauereinsatz – wenig erfindungsreich getarnt unter dem Tisch, im aufgeklapptem Federmäppchen oder Schulbuch. Ein Dauerthema. “Meine” Schule versucht es jetzt mit einer “Handygarage”: Zu Beginn des Schultages müssen Schülerinnen und Schüler ihre liebsten Spielgeräte dort deponieren. Am Ende nehmen sie ihre Mobiltelefone wieder an sich.
Das Kämmen langer Haare im Unterricht wird ebenso als selbstverständlich angesehen wie das ständige Aufsuchen der Toiletten. Natürlich geht es in den wenigsten Fällen wirklich ums Klo. Der Toilettengang wird als willkommene Unterbrechung des Unterrichts betrachtet – mit entsprechender Unruhe in der gesamten Klasse.
Fehlende Medienkompetenz
Diese ständige Unruhe und das Ablenken vom Unterrichtsstoff führt zu einer Aufmerksamkeitsspanne, die oft nicht länger als zwei, drei Minuten währt. Möglicherweise ist die intensive Nutzung von TikTok mit standardmässigen Videos von 30 bis 60 Sekunden für dieses Konzentrationsdefizit mitverantwortlich.
Nicht unbegründet ist vor diesem Hintergrund das von der EU-Kommission gegen TikTok eröffnete Verfahren. Denn in der Tat steht die Online-Plattform im Verdacht, durch die Analyse des Nutzerverhaltens Blasen zu bilden, die Suchtgefahren hervorrufen und den Jugendschutz unterlaufen könnten. Schliesslich will Brüssel untersuchen lassen, ob die Algorithmen zulassen, dass sich junge Menschen von diesem Kanal “losreissen” können.
In einer kleinen Unterrichtseinheit für eine 10. Hauptschulklasse konnte ich besichtigen, dass es Schülerinnen und Schülern beinahe vollständig an Einsichten in die Funktion der Medien fehlt, mit denen sie sich nonstop beschäftigen.
Um den Gefahren der extremen Nutzung von Social Media etwas entgegenzustellen, müssten Schulen dem Training von Medienkompetenzen viel mehr Aufmerksamkeit widmen. Die gesamtgesellschaftliche Bedeutung dieser Themen wird zwar nicht in Abrede gestellt. Doch es fehlt an Lehrkräften, Unterrichtsmaterialien und an der Finanzierung eines solchen Angebots. In einer kleinen Unterrichtseinheit für eine 10. Hauptschulklasse konnte ich besichtigen, dass es Schülerinnen und Schülern beinahe vollständig an Einsichten in die Funktion der Medien fehlt, mit denen sie sich nonstop beschäftigen.
“Deutsch als Zweitsprache”
Ein zweiter Schwerpunkt meines Feuerwehreinsatzes waren zwei Kurse für Migrantenkinder (“Deutsch als Zweitsprache – DaZ”). Es handelte sich um Flüchtlinge aus der Ukraine, aus Russland, Syrien, Afghanistan und Serbien. Die DaZ-Gruppen waren sehr inhomogen und verlangsamten damit Sprachfortschritte. Es gab Teilnehmer, die vorher vergleichsweise gute Schulen im Heimatland besucht hatten und andere, die über Jahre keine Schule von innen gesehen hatten bzw. solche Schülerinnen und Schüler, die schon in ihrer Heimatsprache prinzipielle Lücken aufwiesen. Hier ist die Alphabetisierung erstes Ziel, bevor überhaupt mit dem Deutschunterricht begonnen werden kann. Vor allem Kinder aus der Ukraine nehmen oft nur widerwillig an diesem Unterrichtsangebot teil. Sie behaupten, ihre Familien kehrten bald in ihre angestammte Heimat zurück. Daher lohne es sich nicht, Deutsch zu lernen.
Der Unterricht wird oft in Eigenregie der Lehrkräfte gestaltet, meist ohne klare Standards, Curricula und Angebote zur Weiterbildung oder gar Qualifizierung von Lehrerinnen und Lehrern. Dem DaZ-Unterricht müsste viel mehr Bedeutung eingeräumt werden. Denn nur eine sprachliche Teilhabe macht gesellschaftliche Integration überhaupt erst möglich.
Mit den hier beschriebenen Zuständen ist das Thema natürlich längst nicht erschöpft. Allerorten wird beklagt, dass Universitäten am Bedarf der Schulen vorbei ausbilden. Musiklehrkräfte fehlten auf weiter Flur, weil die Unis zu hohe Massstäbe ans Beherrschen von Instrumenten anlegten, Englischlehrer seien rar, weil immer weniger Studierende bereit und finanziell in der Lage seien, ein Jahr im englischsprachigen Ausland zu absolvieren.
Wichtige kognitive Fähigkeiten erwerben
Warum arbeiten heute trotz jahrelangen Lehrermangels sage und schreibe 42,3 Prozent der deutschen Lehrkräfte nur in Teilzeit? Und ist an der jüngsten „Lehrerschelte“ des OECD-Bildungsdirektors Andreas Schleicher (auch im Interview mit der Welt) etwas dran? Schließlich: Stimmt es, dass Familien immer weniger Zeit für die Erziehung ihrer Kinder haben und diese Aufgaben an die Schulen abschieben, die damit überfordert sind?
Warum arbeiten heute trotz jahrelangen Lehrermangels sage und schreibe 42,3 Prozent der deutschen Lehrkräfte nur in Teilzeit?
Im Prinzip sind sich Eltern, Lehrer und die Wissenschaft einig, dass Schulen die junge Generation befähigen müssen, wichtige kognitive Fähigkeiten zu erwerben. Die werden als zentrale Zukunftsressource für Wirtschaft, Gesellschaft und Politik angesehen. Doch diese schulischen Grundaufgaben werden offensichtlich immer weniger erbracht. Mit weitreichenden Folgen für die Forschung, den Arbeitsmarkt und nicht zuletzt für die Funktion des demokratischen Systems.
Denn gebildete Bürger sind die unverzichtbare Voraussetzung für parlamentarische Demokratien. Sie müssen fähig sein, politische Angebote zu beurteilen und zu diskutieren, um ihre Stimme für gesellschaftspolitische Konzepte abzugeben. Damit stehen wir alle vor der wohl grössten innenpolitischen Herausforderung. Die meisten Anzeichen sprechen aber dafür, dass die länderspezifisch zersplitterten Bildungspolitiker dieses Themenfeld immer noch nicht als das zentrale Zukunftsanliegen Deutschlands identifiziert haben, das von ihnen schnelle Reaktionen verlangt.
Meine – sicher zunächst selektive – Erfahrung lässt nur diesen Appell zu: An der Finanzierung des Bildungssystems darf nicht gespart werden. Denn diese Gelder müssen als Zukunftsinvestitionen betrachtet werden. Ihr Ausbleiben birgt kaum abschätzbare Gefahren.
Was hier über die Vorgänge in Klassenzimmern berichtet wird, verschlägt einem gestandenen Leser die Sprache. Aber es gibt keine Aussicht auf Besserung – die erwachsenen Autoritäten haben längst abgedankt. Sich verlorene Autorität zurückzuholen, ist eine Illusion.