Nicol Vidal erläutert zunächst das pädagogische Konzept, das den Kindern zwar eine Lernumgebung vorgibt, ihnen jedoch die Freiheit lässt, selbst zu entscheiden, woran und wie sie arbeiten wollen. Die Lehrerin hält sich als Coach im Hintergrund. Die Kinder überprüfen auch die Ergebnisse ihrer Arbeit selbst. Die Lernstationen lösen Aktivitäten aus, die den Kompetenzformulierungen im Lehrplan entsprechen: z.B. das Verstehen von Konstruktionsprinzipien unterschiedlicher Brücken, indem die Kinder selbst Brücken bauen.
Antwort auf den PISA-Schock!
Solche schülerzentrierte Lernarrangements seien die Antwort auf den PISA-Schock und die wachsende Heterogenität der Klassen. Man hofft, von der unergiebigen Wissensvermittlung durch Frontalunterricht wegkommen, die Problemlösefähigkeit der Kinder besser fördern und das Lernen individueller gestalten zu können.
Vidal fragt, wie gut diese Formen des selbstgesteuerten Lernens wissenschaftlich abgesichert sind. Lehrpersonen holen sich ihre Anregungen aus Ratgebern. Diese beziehen die Legitimation und die theoretische Begründung aus popularisierten und teilweise fragwürdigen Darstellungen der Hirnforschung, die darauf hinauslaufen, dass sich bei subjektiv anregender Atmosphäre das Lernen als anthropologische Konstante von selbst vollzieht. Die theoretische und empirische Abstützung durch Lern- und Unterrichtsforschung fehlt jedoch.
Die Ratgeber erläutern hauptsächlich Methoden, Arbeitstechniken und Kompetenzraster zur Selbstevaluation, welche die Schüler(innen) zur Selbstständigkeit führen und die Lehrperson weitgehend überflüssig machen sollen.
Dominiert werden die Stunden von Materialien, dem Abarbeiten von Stationen, dem Ausfüllen von Blättern, dem Abhaken von Rastern.
In der praktischen Umsetzung zeigen sich die Tücken des Arrangements: Dominiert werden die Stunden von Materialien, dem Abarbeiten von Stationen, dem Ausfüllen von Blättern, dem Abhaken von Rastern. Anspruchsvollere Stationen mit dem Visieren von Videoclips und Quizfragen verlieren schnell ihren anfänglichen Reiz. Unklar ist, ob die Sache, um die es eigentlich geht, verstanden wurde, ob Transferfähigkeiten entstanden sind. Empirische Forschungen zeigen, dass die Fokussierung auf Materialien die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Sache und die Arbeitsergebnisse aufs Nebengleis abdrängt. Kinder erachten die Überprüfung der Ergebnisse als irrelevant, schreiben Lösungen von Lösungsblättern ab und korrigieren Fehler, ohne diese verstanden zu haben.
Nicol Vidal: «Der Bildungsauftrag vollzieht sich mitnichten im Selbststeuerungsmodus.»
Der Zwang zur kontinuierlichen Selbstreflexion mittels Kompetenzrastern und Portfolios verbindet den reformpädagogischen Ansatz mit dem neoliberalen Selbstoptimierungsgebot. Das setzt Lernende ebenso unter Druck wie der traditionelle Unterricht mit der Fremdevaluation durch die Lehrperson. Schüler(innen), die der Norm des selbstständig Lernenden nicht entsprechen, werden schnell als aufmerksamkeitsdefizitär oder undiszipliniert pathologisiert.
Fazit von Nicol Vidal (wörtliches Zitat aus dem Vortragsmanuskript):
«Falsch ist nicht die Idee, dass Kinder im Laufe ihrer Schulzeit in zunehmendem Maße unabhängig werden, sondern die Vorstellung, dass Kinder von Natur selbstständige Lerner sind und sich deshalb die Funktion von Lehrkräften im Bereitstellen von interessanten Lernumgebungen erschöpft. Doch genau dieser Eindruck wird in den Praxisratgebern zuweilen vermittelt. In diesem Sinne ist auch die Neudefinition der Lehrkraft als „Moderator“ oder „Coach“ kritisch zu sehen, denn sie wird der Verantwortung professioneller Pädagoginnen und Pädagogen nicht gerecht. Die Schule hat einen Erziehungs- und Bildungsauftrag – und der vollzieht sich mitnichten im Selbststeuerungsmodus.»
Zusammenfassung von Felix Schmutz, 01.07.2019
Quelle (Audio und Manuskript):
https://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/wissen/selbstgesteuertes-lernen/-/id=660374/did=21970104/nid=660374/1i5kuwy/index.html