4. Dezember 2024
Kompetenzorientierung

Kompetenz ohne Bildung

Kompetenzorientierung, selbstorganisiertes Lernen und integrative Förderung dominieren die Volksschule. Auf der Strecke bleibt das humanistische Bildungsideal. Ein Gastbeitrag von Béatrice Di Pizzo.

In der vordersten Bankreihe einer zweiten Sekundarklasse am Zürichberg sitzen, isoliert und dichtgedrängt, ein Eritreer, ein langsam Lernender und ein Bosniake. Die Klasse ist gut gelaunt und heiter in dieser Frühstunde in Geografie, denn der Lehrer unterrichtet ­offensichtlich sein Lieblingsfach. Er scherzt und ermuntert die Jugendlichen zu Höchstleistungen.

Sie halten sich geduckt, fallen nicht auf und kritzeln irgendwas auf die ausgeteilten Arbeitsblätter.

Bloss: Niemand spricht mit den Dreien, eine ganze geschlagene Lektion lang. Sie halten sich geduckt, fallen nicht auf und kritzeln irgendwas auf die ausgeteilten Arbeitsblätter. “Integrative Förderung”, seufzt der Lehrer, “die Stadt will das so.”

Gastautorin Béatrice Di Pizzo, Erziehungswissenschaftlerin

Die Schule soll für Gleichheit und Gerechtigkeit sorgen, so ihr demokratischer Auftrag, indem die staatlich finanzierte Ausbildung junge Menschen ihren Begabungen gemäss für die Marktwirtschaft qualifiziert.

“Es gibt schlechterdings gewisse Kenntnisse, die allgemein sein müssen, und noch mehr eine gewisse Bildung der Gesinnungen und des Charakters, die keinem fehlen darf. Jeder ist offenbar nur dann ein guter Handwerker, Kaufmann, Soldat und Geschäftsmann, wenn er an sich und ohne Hinsicht auf seinen besonderen Beruf ein guter, anständiger, seinem Stande nach aufgeklärter Mensch und Bürger ist.” So legitimierte noch im ausgehenden 18. Jahrhundert Wilhelm von Humboldt Schulbildung als Mittel zur Selbstermächtigung, ganz ohne Anspruch auf messbaren Bildungsoutput. Sich zu bilden hiess zunächst, sich zu formen, Gestalt anzunehmen, der Gesellschaft als verantwortungsbewusstes und aufgeklärtes Individuum entgegenzutreten. Ist dieser Anspruch überholt?

Wilhelm von Humboldt: Schulbildung als Mittel zur Selbstermächtigung

Ganz im Gegenteil. Die fortschreitende Globalisierung und Digitalisierung unserer Arbeitswelt führt unweigerlich zur Entwicklung von Berufsfeldern, in denen eine reflexive Handlungsfähigkeit das Ziel aller Kompetenzentwicklung ist. Die bewusste, kritische und verantwortliche Einschätzung und Bewertung eigener Handlungen auf der Basis von Erfahrungen und Wissen zielt auf die Eigenschaften eines eigenständigen Individuums, das seine Arbeitspraxis in einen gesellschaftlichen oder beruflichen Kontext stellt. Gerade der Einsatz künstlicher Intelligenz in vielen, auch komplexen Arbeitsfeldern zeigt uns: Der Computer ist uns im Prozessdenken überlegen – er ist schneller, ausdauernder und exakter. Umso wichtiger wird ganzheitliches, auf humanistischen Werten basierendes Denken.

“Während manche junge Menschen aufgrund der jahrelangen, ­gezielten Indivi­dualisierung ihre Selbstinszenierung ­professionalisieren, zerbrechen andere am permanenten ­Vergleich.”

Einfache, messbare ­Leistungen

Unglücklicherweise wurde aufgrund eines Paradigmenwechsels in der pädagogischen Forschung der 1990er-Jahre das humanistische Bildungsideal der Kompetenz­orientierung geopfert, womit nun die Didaktik, also die Unterrichtstechnik, die Bildungsinhalte bestimmt. Der ­zunehmend multikulturelle Hintergrund der Lernenden interessiert kaum, ebenso wenig wird eine ganzheitliche Förderung angestrebt. Die Kompetenzorientierung fordert einfache, messbare Leistungen im Lesen, Schreiben und Rechnen, auch im angesprochenen Geografieunterricht. Die Pädagogische Hochschule bereitet das Lehrpersonal darauf vor, die Individualisierung des Unterrichts ist dabei ihr Mantra. Da jeder individuell in den basalen Kompetenzen gefördert werden soll, tut man dies am effizientesten mit smarter Bildungssoftware.

Einfache Aufgaben nach Schema empfindet die Generation Z als Zumutung

Und das geschieht denn auch. Entsprechend zeichnet sich unsere jüngste Generation Z durch digitale Kompetenzen aus. In Wohlstand aufgewachsen, wollen diese jungen Menschen etwas bewirken; sie suchen Sinn und erwarten Rahmenbedingungen, in denen sie sich entfalten können. Einfache Aufgaben nach einem vorgegebenen Schema abzuarbeiten, empfinden sie als Zumutung. Doch aufgrund der geltenden pädagogischen Konzepte fehlt ­ihnen der Durchhaltewille jener, die sich Wissen und ­Fähigkeiten über die Auseinandersetzung mit Vorbildern aneigneten. Sie sind sich der gesellschaftlichen Dimension ihres Tuns nicht bewusst und können sich an keinen Werten orientieren.

“Für Vorstellungskraft, Kreativität und echten Austausch bleibt wenig Raum im outputorientierten ­Bildungssystem.”

Während manche von ihnen aufgrund der jahrelangen, gezielten Individualisierung ihre Selbstinszenierung professionalisieren, zerbrechen andere am permanenten Vergleich. Viele von ihnen würden gerne zeigen, was sie können, und ihre eigenen Lösungsansätze präsentieren. Doch für Vorstellungskraft, Kreativität und echten Austausch bleibt wenig Raum im outputorientierten Bildungssystem. Die humanistische Bildung hat sich derweil ins ­Private zurückgezogen. Werte werden nur noch in kulturellen Blasen verhandelt. Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass dadurch die Chancengerechtigkeit schwindet.

Die Volksschulen integrieren zu wenig

Dieserart eindimensionale und messbare Leistungsziele, sprich Kompetenzen, erreicht man nur mit würdelosem, preussischem Drill. Die Pädagogische Hochschule propagiert deshalb – und in Anbetracht der Heterogenität der Klassen – selbstorganisiertes Lernen (SOL), bei dem sich jedes Kind eigenständig und intrinsisch motiviert die Lernziele je nach Stufe anhand von Arbeitsblättern oder komplexeren Dossiers selbst erarbeitet und überprüft. Doch das gelingt nur sehr Intelligenten oder Fleissigen, die sich zudem nicht scheuen, die vielbeschäftigten Lehrpersonen auf sich aufmerksam zu machen. Untereinander herrscht Konkurrenzkampf, weshalb alle Kinder auf den Einsatz ihrer Eltern angewiesen sind.

Am anderen Ende der Leistungsskala macht sich funktionaler Analphabetismus oder Illettrismus breit, was aktuell nahezu 20 Prozent der Volksschulabsolventinnen und -absolventen betrifft. Berufsbildner in der Schweiz beklagen sich über Lehrabbrüche, Hochschulen über die mangelnde schriftliche Ausdrucksfähigkeit der Studierenden. Es sind Zeichen einer mangelnden Integrationsfähigkeit unseres Bildungssystems.

Kompetenzen pauken gelingt nur sehr intelligenten oder fleissigen Schülerinnen und Schülern.

Die integrative Förderung, wie sie die Stadt Zürich seit 2009/10 praktiziert, funktioniert nicht. Schulklassen und Lehrerkollegien sind an den meisten Schulen zu gross, um eine Verbindlichkeit herzustellen. Ausserdem hat sich das Jobprofil verändert: Keine Lehrperson widmet sich einer Aufgabe, für die sie nicht zuständig respektive bezahlt ist. Über Pensenzuteilungen verfügen Schulleitungen nach Gutdünken; oft werden Lehrpersonen mehrjährig im Jahresvertrag beschäftigt und Fachlehrpersonen nur stundenweise eingesetzt. Die Personalfluktuation ist entsprechend gross.

Professionalisierte Gleichgültigkeit

Kinder, nicht nur aus Einwandererfamilien, sind auf die Ressourcen und finanziellen Möglichkeiten ihrer Familien und allenfalls ­ihrer Subkulturen zurückgeworfen, denn nur diese bieten verlässliche Beziehungen und einen normativen Kontext. Im Kontakt mit der schweizerischen Zivilgesellschaft hingegen erleben sie professionalisierte Gleichgültigkeit.

Bildung ermöglicht gesellschaftliche Teilhabe, sie lässt uns Zusammenhänge erkennen und ein gegenseitiges Verständnis entwickeln. Ohne geteiltes Wissen schreitet die Segregation der Gesellschaft voran, zentrifugale Kräfte werden verstärkt, und die Chancengleichheit schwindet. Wir müssen die eindimensionale Kompetenzorientierung überwinden und gemeinsam ein humanistisches Bildungsideal stärken, denn nur dieses ermöglicht eine ganzheitliche Förderung junger Talente.

Dieser Bericht erschien zuerst in derZeitschrift “Schweizerischer Monat”: https://schweizermonat.ch/kompetenz-ohne-bildung/

 

image_pdfAls PDF herunterladen

Verwandte Artikel

Mimikry à la LinkedIn

In den vier Wochen LinkedIn-Aktivität hat unser Condorcet-Autor Alain Pichard viel gelernt. Wird im Fernsehen ein Gesprächspartner vorgestellt, geht es automatisch um dessen Beruf. Gibt es keine passende Bezeichnung, muss der „Experte“ ran. Oder dessen kleiner Bruder, der „Publizist“. Die Edelversion des Publizisten ist der „Philosoph“. Dabei ließe sich von der Plattform LinkedIn einiges lernen. Condorcet-Autor Alain Pichard über heiteres Beruferaten.

Passepartout: Reparateure gesucht!

“Dem Schulverlag plus sind die Bedürfnisse der Praxis wichtig,” schreibt der Lehrmittelverlag in seiner Stellenausschreibung. Gesucht werden Leute, welche das Schiff wieder auf Kurs bringen sollen. Im Jargon der Bildungsbürokratie heisst es “weiterentwickeln”. Die Situation erinnert an einen Bahnhofvorstand, dem man vergessen hat zu sagen, dass die Strecke stillgelegt wurde. Die Redaktion schlägt unseren Condorcet-Autor Felix Schmutz vor. Da die Arbeitsgruppensitzungen im Corona-Zeitalter vermutlich auf Teams oder Zoom stattfinden, besteht auch keine Verletzungsgefahr.

Ein Kommentar

  1. Meine Frage: Liegt die Condorcet – Redaktion so total neben der Wirklichkeit, dass sie den
    Bericht der Erziehungswissenschaftlerin Béatrice Di Pizzo,der Zeitschrift “Schweizerischer Monat” kritiklos übernimmt?
    Er bringt keinen Hinweis, wo angesetzt werde soll, aber den Verweis darauf, dass Erziehung und Bildung in dieser Art keine Wissenschaften sind.
    Klar ist schon längstens, dass für 20 % der Kinder Lesen lernen angepasst unterrichtet werden muss- Leider fehlt dazu den Unterrichtenden mehrheitlich das Wissen darüber, wie ein Alphabet mündlich wie schriftlich verwendet wid.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert