21. November 2024

Sind heutige Schüler überfordert?

Mit Tomas Kubelik begrüssen wir einen neuen Gastautor im Condorcet-Blog. Der Gymnasiallehrer und Buchautor aus Österreich vertritt eine dezidiert konservative Pädagogik und hält eine Schule, die von den Kindern zu wenig verlangt, für genauso inhuman wie eine reine Paukerschule. Wir nehmen an, dass es hier auch Widerspruch geben wird.

Tomas Kubelik: Tomas Kubelik, Jg. 1976. Gymnasiallehrer in Österreich

Oft hört man die Klage, Kinder fühlten sich heutzutage gestresst und von der Schule überfordert, man solle doch die Leistungsansprüche senken, die Hausaufgabenlast reduzieren und ihnen mehr Freiheiten und mehr Freizeit gönnen. Der überforderte Schüler ist aber ein irreführender Mythos. Denn Kinder leiden zumeist nicht unter schulischem Leistungsdruck, sondern sie leiden darunter, dass sie selten die Erfahrung machen durften, wie befriedigend es ist sich anzustrengen, um schließlich Erfolg zu haben. Der Pädagoge Hartmut Köhler schrieb einst den schönen klugen Satz: „Die leuchtenden Augen der Schulanfänger erhalten wir dadurch, daß wir ihnen alles erleichtern wollen, gerade nicht.“[i] Der so genannte Schulstress entsteht also nicht durch zu hohe schulische Anforderungen, im Gegenteil. Eine Schule, die Kindern zu wenig abverlangt, erhöht eher ihren Stress, da Langeweile zu Aggressionen und Frustgefühlen führen kann, jedenfalls die Antriebsschwäche nur noch verschärft – ein verheerender Teufelskreis.

Ja, viele Kinder sind heutzutage in der Tat überfordert. Man kann es aber nicht deutlich genug sagen: Das liegt nur selten an der Schule. Vielmehr liegt es meist daran, dass Kindern die emotionale und soziale Reife fehlt, um in einer Gruppe am Unterrichtsgeschehen sinnvoll mitzuwirken, Regeln zu befolgen, sich auf einen Lerngegenstand zu konzentrieren und mit Frustrationen altersadäquat umzugehen. Diesen Mangel aber bringen sie von zu Hause mit und es ist weitgehend aussichtslos, Entwicklungsdefizite, die sich in den frühen Jahren aufgebaut haben, in der Schule kompensieren zu wollen.

Es ist weitgehend aussichtslos, Entwicklungsdefizite, die sich in den frühen Jahren aufgebaut haben, in der Schule kompensieren zu wollen.

Handys wirken stark suchterzeugend.

Zwar wäre es wichtig, eine Schul- und Unterrichtskultur zu etablieren, die nicht von Schnelligkeit und Oberflächlichkeit, sondern von Muße und Vertiefung geprägt ist, damit Erlebnisse nachwirken, Eindrücke verarbeitet und Gedanken wirklich durchdacht werden können. Entscheidend ist aber, dass Kinder auch zu Hause und in ihrer Freizeit nicht dauernd überlastet werden. Genau das aber ist leider sehr häufig der Fall. Ich möchte sechs Lernhemmer herausgreifen, die in meinen Augen hauptverantwortlich dafür sind, dass Kinder überfordert sind, unter Stress leiden und sich schulisch nicht so entwickeln, wie es ihren Anlagen gemäß wäre.

  1. Viel zu viele Kinder verbringen viel zu viel Zeit vor Fernsehern, Computern und Handys. Denn Bildschirmmedien führen fast immer zu Reizüberflutung, die einen großen Teil der Energien bindet, sie zwingen zu oberflächlichem Konsumieren kurzer Reize und fördern generell eine geistige Passivität. Befriedigende Erlebnisse und Erholung bieten sie selten, vielmehr hinterlassen sie meist eine innere Leere. Handys wirken überdies stark suchterzeugend. Innere Unruhe (oftmals verstärkt durch den Konsum nicht altersadäquater Inhalte) und Zeitmangel sind häufige Begleiterscheinungen.
  2. Viele Kinder haben zu viel Freizeitstress. Der Ehrgeiz der Eltern, der Drang, einen erlebnisarmen Alltag durch Ablenkungen aller Art aufzupeppen, und das Gefühl, mit den Moden der Peergroup mithalten zu müssen, führen oftmals zu Tagesabläufen, bei denen ein Termin den anderen jagt. Das aber ist Gift für Lern- und Reifungsprozesse. Schule wird allzu leicht zur Nebensache.
  3. Da schon kleine Kinder Zugang zu denselben Informationen haben wie Erwachsene, werden sie auch viel zu früh mit Problemen der Erwachsenenwelt konfrontiert. Da ihnen aber für viele Dinge sowohl das Wissen als auch die Erfahrung als auch die Reife fehlen, werden sie keineswegs aufgeklärt, sondern verunsichert, gestresst und an der Entwicklung eines tragfähigen Weltbildes eher behindert. Wenn Eltern ihre Sorgen über gesundheitliche Gefahren, ökologische Krisen, politische Verwerfungen oder soziale Ungerechtigkeiten mit ihren Kindern allzu früh und unverblümt teilen, dann fördern sie Ängste, die Kinder unnötig belasten, und zerstören deren Urvertrauen. Dieses ist aber die Voraussetzung, um später kritisch über die Welt und ihre Fehlentwicklungen urteilen zu können. Ein auffallendes Phänomen dieser Verwischung der Unterschiede zwischen Erwachsenen und Kindern ist das weitgehende Fehlen eines echten Generationenkonflikts. Dadurch wird den jungen Menschen allerdings die für ihre Reifung notwendige Reibungsfläche vorenthalten. Wenn sich Jugendliche heutzutage für etwas öffentlich einsetzen, kämpfen sie meist exakt für das, was ihnen die Elterngeneration beigebracht hat. Entsprechend laut ist dann oft der Applaus durch die Erwachsenen.
  4. Zu viele Kinder sind nicht erzogen.

    Zu viele Kinder werden nicht erzogen. Damit ist nicht nur gemeint, dass Grundprinzipien guten Benehmens und gesitteter Umgangsformen bei Schulkindern nicht mehr allgemein vorausgesetzt werden können. Wichtiger als das ist die verhängnisvolle Tatsache, dass sich Eltern, ja Erwachsene insgesamt, häufig vor der Erziehungsverantwortung drücken, weil sie sich kaum noch trauen oder gar nicht mehr in der Lage sind, Kindern Werte und Normen zu vermitteln und vorzuleben. Weil sie selber in ihrem Weltbild und ihrem Urteil verunsichert sind, sind sie meist keine selbst- und verantwortungsbewussten Repräsentanten jener Welt, in die sie die Kinder eigentlich hineinführen sollten. Wenn Erwachsene aber keine verlässlichen Vertreter einer Erwachsenenwelt sind, die sich fundamental von der Kinderwelt unterscheidet, dann entsteht eine Lücke, die unweigerlich durch die Medien, vor allem aber durch die Gruppe der Gleichaltrigen gefüllt wird. Die Gruppe ersetzt den Mangel an elterlicher Autorität, und zwar dadurch, dass sie eine neue, nicht mehr zu steuernde und niemandem mehr verantwortliche Autorität der Gruppe erzeugt. Bereits vor Jahrzehnten fand Hannah Arendt für den daraus entstehenden Konformitätsdruck der Gleichaltrigen unerbittliche Worte: „… die Autorität einer Gruppe, auch einer Kindergruppe, ist stets erheblich stärker und tyrannischer als die strengste Autorität einer einzelnen Person je sein kann.“[ii] Sie sah in dem Rückzug der Autorität von Eltern und Lehrern ein große Gefährdung der Kinder, da diese „aus der Welt der Erwachsenen gewissermaßen ausgestoßen sind.“[iii] Dadurch, so Arendt, habe man „Kinder, als man sie von der Autorität der Erwachsenen emanzipierte, nicht befreit, sondern einer viel schrecklicheren und wirklich tyrannischen Autorität unterstellt, der Tyrannei durch die Majorität.“[iv] Die Folge sei „Konformismus auf der einen und Haltlosigkeit auf der anderen Seite.“[v] Gruppendruck bei gleichzeitiger Orientierungslosigkeit also – welch ein weitblickender Befund!

  5. Zu viele Kinder leiden unter einem Mangel an persönlicher Zuwendung. Damit ist zunächst gemeint, dass Eltern zu wenig Zeit mit ihren Kindern verbringen, eine Zeit voller Aufmerksamkeit und gemeinsamer Tätigkeit wohlgemerkt. „Kinder konkurrieren mit Smartphone und Laptop um die Zuwendung ihrer Eltern – und Kinder ziehen regelmäßig
    Viele Eltern verbringen zu wenig Zeit mit den Kindern.

    den Kürzeren“[vi], schreibt der Kinderpsychiater Michael Winterhoff. Mehr noch als um ausreichend so genannte „Quality time“ geht es darum, dass Eltern die psychische Entwicklung ihrer Kinder oftmals ungenügend fördern – darauf haben Kinder aber ein Recht. Entscheidend ist dabei, dass Kinder vor echte Herausforderungen gestellt werden, ihnen einiges zugemutet, aber auch vieles zugetraut wird und sie nicht nur nach dem Lustprinzip erzogen werden. Kinder müssen Grenzen erleben und lernen, auch unangenehme Aufgaben zu erfüllen und Anstrengungen auf sich zu nehmen. Kinder müssen von den Erwachsenen klare und angemessene Reaktionen auf ihr Verhalten bekommen, positive wie negative, um sich in der Welt überhaupt zurechtfinden zu können und zu lernen, Gefühle und Bedürfnisse anderer wahrzunehmen. Nur so können Kinder reifen, können eine soziale Sensibilität entwickeln und die Fähigkeit zu Freude, Ehrgeiz und Anstrengungsbereitschaft erwerben. Nur wer gelernt hat, seine Impulse zu kontrollieren und Befriedigungen aufzuschieben, kann Regeln akzeptieren und mit Frustrationen umgehen. Nur wer gelernt hat zu warten, ist zur Freude fähig. Nur wer gelernt hat sich anzustrengen, kann Erfolge genießen. Nur wer gelernt hat zu verzichten, kann Entscheidungen verantwortungsvoll treffen.

  6. Viele Kinder sind leider physisch kaum mehr in der Lage, dem Unterricht aufmerksam und konzentriert zu folgen. Sie leiden häufig unter chronischem Schlafmangel, der mitunter im Unterricht nachgeholt wird. Sie haben häufig viel zu wenig Bewegung in ihrer Freizeit, was sich in übertriebenem Bewegungsdrang während des Unterrichts niederschlägt. Und sie nehmen zu viel ungesunde fett- und zuckerreiche Nahrung zu sich; eine erschreckend hohe Zahl an übergewichtigen Kindern ist die Folge, abgesehen davon, dass Zuckerkonsum müde und unkonzentriert machen kann.

Statt Ignoranz herrscht plötzlich Aktionismus, Mediziner und Psychotherapeuten werden auf den Plan gerufen, das Kind wird zum Therapiefall.

Tomas Kubelik: Warum Schulen scheitern. Betrachtungen eines Praktikers. Garamond Verlag, Gera 2021

„Wenn Kinder viel fernsehen und wenig frei spielen, wenn sie wenig ausprobieren dürfen oder ihnen jede Schwierigkeit aus dem Weg geräumt wird, verzögert sich die Reifung des Frontalhirns. Die dort entstehenden Nervenzellverschaltungen entwickeln sich nur, wenn sie gebraucht werden – um Handlungen verantwortlich zu planen, ihre Folgen abzuschätzen und mit Disziplin und Ausdauer ein Ziel zu erreichen“[vii], sagt der Neurobiologe Gerald Hüther. Bemerkenswerterweise gelten Kinder, die dazu nicht mehr in der Lage sind, heutzutage kaum als entwicklungsgestört, ja sie fallen oftmals gar nicht auf, weil es viele unbewusst akzeptieren, wenn Kinder ausschließlich lustfixiert und ichbezogen agieren, nicht imstande sind, auch nur die einfachsten Grundregeln des Zusammenlebens zu befolgen, und sich nur ganz kurz auf eine Sache konzentrieren können. Diese Defizite gehören aber zu den häufigsten Ursachen für schulisches Versagen. Sobald daher die Disziplinlosigkeit, die Aggressionsbereitschaft und die Konzentrationsschwäche der Kinder so große Ausmaße annimmt, dass es ernsthafte schulische Probleme gibt, schlägt das Pendel rasch um: Statt Ignoranz herrscht plötzlich Aktionismus, Mediziner und Psychotherapeuten werden auf den Plan gerufen, das Kind wird zum Therapiefall. Angesichts der oben aufgezählten Ursachen für psychische und physische Fehlentwicklungen wäre allerdings zu fragen, ob die „um sich greifende Therapeutisierung und Pathologisierung der Kindheit“[viii] die richtige Antwort auf die offensichtlichen Verhaltensstörungen und Lernprobleme vieler Kinder ist oder ob nicht vielmehr eine Besinnung auf die Grundbedürfnisse von Kindern in vielen Fällen einfacher, zielführender und humaner wäre. Das freilich kann die Schule zwar in bescheidenem Umfang fördern, entscheidend ist und bleibt jedoch das gesamte übrige Umfeld des Kindes. Eltern sollten daher wissen, wie sie eine gesunde Entwicklung ihrer Kinder fördern können. Das Wichtigste ist, dass Kinder Aufgaben erhalten, an denen sie wachsen können. Und gleichzeitig sollte man alles von ihnen fernhalten, was sie überfordert, das heißt, was unnötige Ablenkungen und unnötigen Stress auslöst.

Tomas Kubelik, 1976 in der Slowakei geboren, wuchs in Stuttgart auf und studierte Germanistik und Mathematik an der Universität Wien. 2005 promovierte er zum Dr. phil. Er ist seit 20 Jahren als Gymnasiallehrer für Deutsch und Mathematik sowie publizistisch tätig. Er ist verheiratet und lebt in der Nähe von St. Pölten/Niederösterreich. Im Jahr 2015 erschien sein Buch „Genug gegendert! Eine Kritik der feministischen Sprache“, das im Jahr 2017 mit dem Jürgen-Moll-Preis für verständliche Wissenschaft und im Jahr 2018 mit dem Deutschen Schulbuchpreis ausgezeichnet wurde.

 

[i] Köhler, Hartmut: Mathematik als Bildungsgrundlage in der veränderten Welt, in: ZDM, 91/2, S. 65

[ii] Arendt, Hannah: Die Krise in der Erziehung, in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. Texte 1954–1964, hrsg. v. Ludz, Ursula, München 1994, S. 260

[iii] ebda.

[iv] ebda.

[v] ebda.

[vi] Winterhoff, Michael: Die Wiederentdeckung der Kindheit, S. 144

[vii] Alm statt Ritalin (Interview mit Gerald Hüther), in: GEO Nr. 11/09

[viii] Kraus, Josef: Helikopter-Eltern. Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung, Reinbek bei Hamburg 2013, S. 139

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2 Kommentare

  1. Sie sind überfordert, weil sie täglich und oft auch bis in die tiefe Nacht hinein von Handy-Schrottmessages überflutet werden. Das ist die Wahrheit. Der Zersetzungsprozess in der Gesellschaft hat schon längst begonnen – mit verheerenden Folgen.

  2. In dem Artikel steckt gar viel Kulturpessimismus und auch etwas Pauschalität. In einem Punkt gebe ich Herrn Kubelik aber recht. Leistung zu verlangen ist nicht inhuman. Im Gegenteil. Lehrkräfte und die Schule sollten Rückgrat zeigen und nicht alle Modeströmungen mitmachen. Wie sagte es schon einmal Condorcet-Autor Alain Pichard: “Die Schule verzettelt sich, wenn sie nach allen möglichen Zielen hinterherjagt, die ausserhalb der Reichweite von Unterricht liegen.”

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