In der Diskussion, wie man die Lesefertigkeit in den Schulen fördern könnte, steht ganz zuoberst der Grundsatz, Lesen müsse Spass machen und die Freude am Lesen führe dann quasi automatisch zu besseren Leseleistungen. Und bessere Leseleistungen zu mehr Erfolg in Schule und Beruf. Meine eigene diesbezügliche Erfahrung deckt sich nur teilweise mit dieser simplifizierenden, wenn auch populären Ansicht.
Das Lesen verliert an Reiz, weil wir konditioniert wurden, ständige Stimulation zu erwarten.
Die grundlegende Korrelation ist definitiv zutreffend. Kinder, die viel und mit Freude lesen, erzielen tendenziell bessere Leistungen. Der Sprung von der Korrelation zur Kausalität ist jedoch weitaus weniger sicher. Ein Grossteil des Effekts scheint in die entgegengesetzte Richtung zu verlaufen: Kinder, die besser lesen können, haben tendenziell mehr Freude am Lesen. Flüssiges Lesen erzeugt Freude und nicht umgekehrt.

Aufmerksamkeitsspanne schrumpft
Der PISA-Bericht 2022 der OECD verzeichnet dort den stärksten Rückgang der Leselust, wo das Lesen von Printmedien durch digitale Medien verdrängt wurde. Der Übergang von längeren Texten zu schnellem Browsen scheint das Lesen als vergleichsweise langsam und mühsam erscheinen zu lassen. Das Lesen verliert an Reiz, weil wir konditioniert wurden, ständige Stimulation zu erwarten.
In diesem Klima klingen Schulstrategien, die verordnen, Lesen solle Spass machen, geradezu simpel. Sie gehen davon aus, dass Lesen mit TikTok oder YouTube konkurrieren müsse. Je mehr Lesen jedoch als Unterhaltung dargestellt wird (Lesenächte etc.), desto mehr wird es nach den Massstäben der Unterhaltung beurteilt. Wenn ein Roman gegen einen Feed antritt, der sich jede Sekunde aktualisiert, ist es kaum verwunderlich, dass er verliert. Das Problem ist, dass die Fähigkeit zur anhaltenden Aufmerksamkeit nachgelassen hat. Freude entsteht nicht dadurch, dass Bibliotheken zu Themenparks umgestaltet werden, sondern hängt von der Fähigkeit ab, einem Gedankengang über einen längeren Zeitraum zu folgen.
Gute Leser getrauen sich, auch schwierigere oder längere Bücher zu lesen, während schwache Leser auf einem tiefen Niveau festsitzen. Dies wird offenkundig, wenn man die Wahl der Lektüre den individuellen Wünschen der Kinder überlässt.
Qualität geht vor Quantität
In meinen eigenen Lesestunden ging es mir vor allem darum, dass die Schüler möglichst viel lesen. Mehr Seiten, mehr Minuten, mehr Bücher. Dabei war die Komplexität der Texte zweitrangig. Jüngste Erkenntnisse deuten jedoch darauf hin, dass diese Methode nur teilweise angebracht ist. Gute Leser getrauen sich, auch schwierigere oder längere Bücher zu lesen, während schwache Leser auf einem tiefen Niveau festsitzen. Dies wird offenkundig, wenn man die Wahl der Lektüre den individuellen Wünschen der Kinder überlässt.
Geübte Leser neigen also dazu, Bücher zu wählen, die ihnen genügend Herausforderungen bieten, während schwächere Leser sich in ihre Komfortzone zurückziehen. Die Folge ist, dass Lese-Autonomie bestehende Unterschiede verstärkt, anstatt sie auszugleichen. Autonomie zahlt sich nur aus, wenn der Leser bereits in der Lage ist, sich mit anspruchsvolleren Texten auseinanderzusetzen.
Wir müssen den wachsenden Lese-Problemen ungeschminkt in die Augen schauen. Schulen können sich nicht länger vor der langwierigen Arbeit des Lesen-Lernens drücken. Ihre Aufgabe ist es, Kindern das genaue und ausdauernde Lesen beizubringen. Dieser Prozess lässt sich nicht durch das Verteilen von Kissen, das Anbieten von Süssigkeiten oder das Veranstalten von Fun-Wettbewerben umgehen. Anspruchsvolles Lesen scheint die Voraussetzung für späteren Leseerfolg zu sein und macht den Kindern den Weg frei, damit Bücher ihnen offenstehen und sie nicht länger abschrecken.

