8. Dezember 2025
Arbeitsbeschaffung im Bildungssystem

Es ist alles eine Frage der Wirkung

Condorcet-Autor Alain Pichard gehörte in seinen jungen Jahren auch zu den Personen, die versuchten, mit staatlichen Geldern im Bildungsbereich neue Stellen zu schaffen. Und er war darin durchaus erfolgreich, wie sein Rückblick in die 80-ger Jahre zeigt. Von einem älteren Kollegen wurde er dabei allerdings auf den Boden der Realität geholt, was ihm gar nicht passte. Ein selbstkritischer Bericht über ein aktuelles Thema.

Als ich 1977 mein Lehrerpatent am staatlichen Seminar Biel erhielt, gab es für mich keine Aussicht auf eine sichere Stelle. Denn inzwischen hatte der Pillenknick seine Wirkung entfaltet, die Schülerzahlen sanken und ganze Jahrgänge von frisch ausgebildeten Junglehrern und-lehrerinnen fanden nur mit Mühe eine Anstellung. Eine Entlastung gab es durch die Immigration. Schon in den 60er- und 70er Jahren gab es Flüchtlingswellen grösseren und kleineren Ausmasses. 1968 aus der Tschechoslowakei, 1973 aus Chile und 1976 flohen Hunderttausende von

Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission: 15 Lehrkräfte fanden eine Anstellung.

Vietnamesen aus dem kommunistischen Paradies, einige von ihnen landeten bei uns. Und so stand die Bieler Schule wiederholt vor der Herausforderung, sich besondere Massnahmen für die Integration von Schülern zu überlegen, die kein Wort Deutsch sprachen und aus einem völlig anderen Kulturkreis stammten.

Als wirbliger linker Junglehrer mit guten Verbindungen zum SP-Establishment schlug meine Stunde. Ich empfahl meinem Velokollegen und späteren Gemeinderat Raymond Glas, eine Art Deutschunterricht für Ausländer zu installieren. Das Motto hiess damals: Zu viele Lehrer? Eine Chance für eine bessere Schule!

Im Auftrag der Bieler Schuldirektion durfte ich ein Konzept ausarbeiten, konnte selber die Vernehmlassung organisieren und sorgte schliesslich dafür, dass 15 Lehrkräfte mit Lektionen aus diesem neuen Lektionenpool eine Art Auskommen erzielten.

Das Konzept war simpel. Die fremdsprachigen Schüler wurden für einige Lektionen aus dem Unterricht genommen, um mit ihnen intensiv Deutsch zu lernen.

Daneben kreierte ich noch eine sogenannte Koordinationsstelle, welche das Ganze administrativ begleiten sollte. Und selbstredend bot mir der damalige Schulamtsleiter diese von mir vorgeschlagene Stelle gleich selber an, was ich freilich ablehnte, weil mir das Unterrichten näher lag.

In meinem Kollegium gab es einen älteren Kollegen, der dieser ganzen Sache etwas skeptisch gegenüberstand. Walter Marti hatte zwei Vietnamesinnen in seiner Klasse, die er nun immer wieder abgeben musste.

„Die lernen ja gar nichts in diesem Unterricht.“

Nach etwa einem halben Jahr meinte Walter in einer Konferenz: „Die lernen ja gar nichts in diesem Unterricht.“ Und um es noch schlimmer zu machen, meinte er lakonisch: “Die würden besser bei mir im Unterricht bleiben!”

Ich war tödlich beleidigt und reagierte dementsprechend gehässig. Mit einem Wortschwall schalt ich diesen verdienten Kollegen als konservativ, ja ich unterstellte ihm sogar eine Fremdenfeindlichkeit. Dieser reagierte stoisch: „Weißt du, Kollege, es ist alles eine Frage der Wirkung.“

Im Rückblick weiss ich nicht einmal, ob Walter Marti ein konservativer Lehrer war. Fremdenfeindlich war er sicher nicht, sondern durch und durch sozialdemokratisch gesinnt. Er pflegte unter anderem  seine Klasse mit Ukulelen auszurüsten und veranstaltete mit ihnen richtig mitreissende Konzerte im Unterricht. Seine Schüler konnten aus dem Stand sicher an die 15 Lieder auswendig singen und zum Teil auch begleiten. Das können meine Schüler nicht mehr, dafür haben sie 2000 Songs auf ihrem Handy gespeichert.

Und natürlich hatte Walter Marti Recht. Das von mir ausgearbeitete Konzept war schlecht. Ich hatte keine Ahnung von Fremdsprachendidaktik, im Vordergrund standen die Stellenschaffungen. Vor allem aber wurde dieser Unterricht allzu oft von Lehrkräften erteilt, denen die Lektionen lediglich als willkommener Zusatzverdienst für andere Tätigkeiten diente.

Hätte der 2009 verstorbene Walter die heutige Entwicklung miterlebt, würde er sich wohl im Grabe umdrehen. Ein Heer von Zusatzlehrkräften tummeln sich heute in unseren Klassenzimmern oder vor allem in den neugeschaffenen Gruppenräumen. DaZ-, IF-Lehrkräfte, Logopädinnen, Psychomotorik-Expertinnen, Heilpädagoginnen, Assistenzlehrkäfte und Schulsozialarbeiter betreuen mittlerweilen über 20% unserer schulpflichtigen Kinder. Es herrscht ein Kommen und Gehen.

Und der vom Saulus zum Paulus gewordene Schreiber dieser Zeilen darf mit Schmunzeln feststellen, dass ihm heute genau dieselben gehässigen Unterstellungen entgegenschlagen, mit denen er auf den bedauernswerten Walter eindrosch, wenn er es heute wagt, gewisse bildungspolitische Jobkreationen in Frage zu stellen. Die Schaffung solcher Stellen ist per se noch kein humanitärer Akt. Das ist sie erst, wenn sie auch etwas bringt, oder wie es Walter damals ausdrückte: Es ist alles eine Frage der Wirkung.

 

 

image_pdfAls PDF herunterladen

Verwandte Artikel

Die feine Art des Widerstands

Das Umsetzungskonzept zum Integrationsartikels des Kantons Bern in der Gemeinde Orpund wurde von einer nicht unterrichtenden Fachperson geschrieben, enthielt fünf Seiten, wurde von der Schulkommission abgesegnet und den Lehrkräften als Beschluss mitgeteilt (nicht zur Beschlussfassung, notabene). Die erste der fünf Seiten enthielt nur Abkürzungen und deren Erklärungen (insgesamt 22 Übersetzungen). Ein älterer Kollege verfasste daraufhin eine Stellungnahme, der im Kollegium zustimmendes Schmunzeln, beim Schulkommissionspräsidenten einen Lachanfall und bei den Integrationsfachleuten der Bildungsverwaltung betretenes Schweigen auslöste.

Bonjour, Untergang Schweiz! Oder: Wenn das Lernen der Kinder ausgeblendet wird

Der Entscheid des Zürcher Kantonsrats wirft Wellen. Nicht nur im Welschland. Auch bei den Involvierten. Die Schweiz steht am Abgrund. Und warum? Weil Zürcher Kinder künftig erst in der Oberstufe lernen, dass bonjour nicht das Maskottchen eines Freizeitparks ist. So jedenfalls klingt es, wenn Erziehungswissenschaftlerin Christine Le Pape Racine den Fremdsprachenentscheid des Zürcher Kantonsrats kommentiert. Ein Zwischenruf von Condorcet-Autor Carl Bossard.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert