Während meiner langjährigen Tätigkeit als Lehrer engagierte ich mich nebenbei auch als Gewerkschafter. Diese Herausforderung brachte es mit sich, dass ich ab und zu Kollegen und Kolleginnen verteidigen musste, die ins Fadenkreuz der Behörden gerieten. Zu Beginn meiner Tätigkeit im VPOD gab es noch den Beamtenstatus und eine 6-jährige Amtszeit, während dieser es fast nicht möglich war, Lehrkräfte zu entlassen. Das «erleichterte» unsere Arbeit etwas, wobei es in schwierigen Fällen immer noch die Möglichkeit des «Blauen Briefs» gab. Nicht mehr tragbare Lehrkräfte wurden manchmal krankgeschrieben und wanderten in die Frührente.

Im Rückblick auf diese Zeit muss ich natürlich zugestehen, dass nicht alle Kollegen, es waren fast immer Männer, zu Unrecht in den Arbeitskonflikt gerieten. Es gab in unseren Reihen leider auch einige untragbare Lehrer. Unvergessen blieb mir ein Kommissionspräsident, der mich mit dem Satz in Verlegenheit brachte: «Was hätten denn Sie an meiner Stelle getan?»
Mit der Abschaffung der Amtszeit und dem Übergang in die «Öffentlich-rechtliche Anstellung» wurde es leichter möglich, sich von schlechten Lehrkräften zu trennen. Man musste einfach einen ordentlichen Rechtsweg einhalten: «Ermahnung», «Verweis», «rechtliches Gehör», «Fristen» usw. und das immer mit der Möglichkeit verbunden, gegen einen solchen Schritt Einspruch zu verlangen.
Mit dem Aufkommen der Begriffe wie «Mobbing», «Verletzung des Vertrauensverhältnisses» oder «Fürsorgepflicht des Staates» wurden die Dinge richtig kompliziert, was einen «Hobbygewerkschafter» wie mich überforderte. Die Professionalisierung der Schulstrukturen rief die Anwälte auf den Plan. Aber grundsätzlich blieb es dabei: Arbeitskonflikte münden für alle Parteien in harte Auseinandersetzungen und man muss einiges an seelischem Stehvermögen besitzen, um aus solchen Situationen unbeschadet hinauszukommen.
Diese Resilienz ist heute oft nicht mehr vorhanden. Und so erleben wir ein Revival des «Blauen Briefes». In den letzten anderthalb Jahren habe ich in den Schulen unserer Gegend mehrere beeindruckende und bedrückende Krankmeldungen mitbekommen.
Fall 1: Ein pensionierter Schulleiter übernimmt die Leitung einer Schule, die sich in einer schwierigen Situation befindet. Der Job erweist sich als ein Himmelfahrtskommando. Nach zwei Monaten lässt er sich krankschreiben und kündigt anschliessend.
Fall 2: Ein Lehrer, der nicht das stufengerechte Patent besitzt, übernimmt eine Schulklasse an einer Oberstufe in Biel. Er schafft das erste Jahr recht gut, dann mehren sich die Probleme in der Klassenführung. Im April eröffnet die Schulleitung ihm, dass man den Vertrag nach den Sommerferien nicht mehr verlängern werde. Zwei Tage später trifft das Arztzeugnis ein, das bestätigt, dass er aus psychischen Gründen nicht mehr unterrichten könne.
Fall 3: Eine Schulleiterin übernimmt nach bestandener Ausbildung eine Oberstufe im Seeland. Bald einmal gibt es Kritik. Lehrkräfte wenden sich mit einem Schreiben an ihre Schulkommission. Es kommt zu einer Aussprache, am nächsten Tag erscheint die Schulleiterin nicht mehr in der Schule, zwei Tage später trifft das Arztzeugnis ein, das ein Burnout feststellt.
Fall 4: Ein Schulleiter übernimmt die Leitung einer Schule im Seeland. Er hat viele Ideen und stösst auf Widerstand, sowohl im Schulleitungsteam wie auch bei den Behörden. Die Behörden informieren ihn im April, dass sie seine Anstellung nicht mehr verlängern werden, weil sie die Leitungsorganisation verändern wollten. Die Krankschreibung aus gesundheitlichen Gründen folgt auf dem Fuss.
Krankschreibungen aus psychischen Gründen gibt es nicht nur im Schulwesen. Nach IBW (Höhere Fachschule Südostschweiz) und SWICA-Daten folgen dem Spitzenreiter Schule die Öffentliche Verwaltung und das Gesundheitswesen.
Laut «Workmed» hat sich die Zahl der psychisch bedingten Krankschreibungen in den letzten 20 Jahren verdreifacht.
Ich habe in meinem Freundeskreis einige Ärzte. Wenn ich mit ihnen über dieses heikle Thema spreche, sind sie sich des Dilemmas bewusst. Es gibt unzweifelhaft schwerste seelische Notlagen. Aber Krankschreibungen haben – zynisch betrachtet – ihre Vorteile. Sie ersparen aufwändige Rechtskonflikte, sorgen für schnelle Lösungen des Konflikts und garantieren für eine gewisse Zeit eine Lohnfortzahlung. Sie sind allerdings teuer. Neben der Taggeldversicherung müssen die Arbeitgeber auch die Stellvertretungen berappen. Laut «Workmed» hat sich die Zahl der psychisch bedingten Krankschreibungen in den letzten 20 Jahren verdreifacht.
Vor einem halben Jahr traf ich einen meiner Ex-Schüler auf der Strasse. Nennen wir ihn Patrick. Er wurde nach mehrmaliger Verspätung aus der Lehre geworfen. Er war weder Mitglied einer Gewerkschaft, noch kannte er einen Arzt und landete daher auf dem RAV und anschliessend beim Casemanagement.

