Die 17-jährige Gymnasiastin Anna blickt mit gemischten Gefühlen auf das erste Jahr an der Mittelschule zurück. Am Anfang war sie mit der neuen Situation derart überfordert, dass sie beinahe aufgegeben hätte. Anna ist nicht ihr richtiger Name. Die Schülerin aus Bern möchte anonym bleiben.
Sie wechselte in der 9. Klasse an ein öffentliches Gymnasium. Während sie in der Sekundarschule einer Berner Vorortsgemeinde mühelos zurechtkam und kaum Druck verspürte, sah sie sich an der Mittelschule plötzlich einer riesigen Menge an Lernstoff gegenüber, die sie nicht bewältigen konnte.
Verzweifelt suchte sie nach Wegen, um mit dem Druck umzugehen. Damit sie überhaupt noch Zeit zum Lernen fand, begann sie, der Schule fernzubleiben. Doch das führte zu einem Teufelskreis: immer mehr Absenzen, zunehmend grössere Probleme mit der Schulleitung.


Anna ist nicht die Einzige, die am ersten Gymnasialjahr beinahe zerbrochen wäre. Verschiedene Eltern berichten, der Übertritt sei “massiv” und das Pensum “happig”. Sie erzählen von Jugendlichen, die spät bis in die Abende und auch an den Wochenenden büffeln und fast keine Freizeit mehr haben.
Jeder fünfte Sekundarschüler wechselt ans Gymnasium
Ist das Gymnasium schwieriger geworden oder kommen vielleicht die falschen Jugendlichen an die Mittelschule? Die Zahlen der Gymnasiasten und Gymnasiastinnen im Kanton Bern steigen kontinuierlich an. Die Recherche zeigt aber, dass weder das eine noch das andere der Fall ist. Doch der Umgang mit dem Lernstoff hat sich durch den Lehrplan 21 verändert.
Eine Auswertung der kantonalen Bildungsdirektion zeigt nämlich, dass die Übertrittsquote von der Sekundarschule ans Gymnasium konstant bei rund 20 Prozent aller Jugendlichen liegt. Der Anstieg der Schülerzahlen hängt mit dem Bevölkerungswachstum zusammen.

Und der Lehrplan ist zwar um verschiedene Fächer, etwa Informatik, erweitert worden und könnte also schwieriger sein. Doch die Quote der Jugendlichen, die die Probezeit nicht bestehen, ist ebenfalls konstant und liegt bei vier bis fünf Prozent.
Auch Anna hat nicht aufgegeben, sondern die Schule gewechselt. Heute besucht sie ein halbprivates, kostenpflichtiges Gymnasium in der Stadt Bern. Sie erzählt, dass sie dort Unterstützung der Lehrpersonen gefunden habe, um effiziente Lernstrategien aufzubauen. Mit Stress und grosser Stoffmenge könne sie heute umgehen.
Jugendliche sind stärker belastet als früher
Hört man sich in Gymnasiallehrerkreisen um, gibt es vor allem zwei Erklärungsansätze für den Druck, den viele Jugendliche verspüren. Die Jugendlichen seien weniger belastbar als früher, lautet die erste These.
Dass die Jugendlichen heute stärker belastet sind als früher, trifft zu. Gemäss Studien der Weltgesundheitsorganisation (WHO), an denen auch die Schweiz regelmässig teilnimmt, hat sich das Wohlbefinden der 15-Jährigen seit 2014 verschlechtert.
“Die Schule empfinden sie als sehr kompetitiv und sie spüren, dass das Versprechen, dass wer sich anstrenge, eine gute Ausbildung machen und einen guten Job haben könne, nicht mehr gilt.”
Pro-Juventute Jugendstudie
In der Schweiz fühlen sich die Jugendlichen hauptsächlich durch die Schule und den Alltag gestresst, wie die letzte Pro-Juventute Jugendstudie gezeigt hat. “Sie machen sich Sorgen um die eigene Zukunft oder um die finanzielle Existenz, wenn sie erwachsen sind”, erklärt Studienleiterin Lulzana Musliu. “Die Schule empfinden sie als sehr kompetitiv und sie spüren, dass das Versprechen, dass wer sich anstrenge, eine gute Ausbildung machen und einen guten Job haben könne, nicht mehr gilt.” Der Wettbewerb in der Schule und knapper werdende Ressourcen in der Gesellschaft erhöhen bei den Schülern und Schülerinnen also das Gefühl von Stress und Belastung.
Vorher Klassenbeste, am Gymnasium im Mittelfeld
Zudem erleben die Jugendlichen am Gymnasium laut Peter Heiniger, Rektor der Neuen Mittelschule Bern, eine Art doppelten Kulturschock: durch die hohen Anforderungen an Inhalte sowie Selbstständigkeit und durch den Wechsel in ein neues Umfeld mit leistungsstarken Klassenkameraden.

“War ein Kind in seiner alten Schule eines der Besten in der Klasse, liegt es am Gymnasium vielleicht nur noch im Mittelfeld”, sagt Heiniger. Gleichzeitig sei der fachliche Anspruch am Gymnasium viel höher als an der Sekundarschule und von den Jugendlichen werde viel Selbstständigkeit erwartet.
Gemäss der zweiten These von Gymnasiallehrpersonen kommen die Jugendlichen aber zunehmend auch mit fachlichen Wissenslücken an die Mittelschule. Einige Gymnasien sind deshalb dazu übergegangen, gewisse Grundkompetenzen zu prüfen und allfällige Lücken in Zusatzkursen zu schliessen. Das wiederum erhöht den Lernaufwand der Betroffenen.
Wissenslücken bei Lesen, Schreiben oder Französisch
Tatsächlich sinken in der Schweiz die Fähigkeiten der Schulkinder in den sogenannten Grundkompetenzen, insbesondere Lesen und Schreiben oder Französisch. Das zeigten neben den Pisa-Studien jüngst die sogenannten Check-Tests verschiedener Kantone.
Die Ursachen dafür sind noch nicht erforscht. Die sozialen Medien dürften einen Einfluss haben. Jugendliche lesen deutlich weniger als frühere Generationen, und durch das rege Konsumieren von audiovisuellen Häppchen sinkt die Aufmerksamkeitsspanne. “Auf solche Einflüsse kann die Schule nur bedingt reagieren”, sagt Marc Eyer, Leiter des Instituts Sekundarstufe II an der Pädagogischen Hochschule PH Bern.

Gleichzeitig sieht der Erziehungswissenschaftler aber den Lehrplan 21 als eine von mehreren möglichen Ursachen für den Stress und die bemängelten Wissenslücken der Gymeler.
Der Lehrplan 21 definiert nämlich nicht mehr einen zu erreichenden Kanon von Inhalten, sondern Kompetenzen, die die Schüler und Schülerinnen erwerben sollen. Obwohl der Lehrplan auch Inhalte definiert, bleibt es den Lehrpersonen überlassen, eine Auswahl zu treffen.
Dazu kommt, dass der Lehrplan 21 dicht ist, die Klassen aber heterogen und gross sind. In der Realität gelingt es oft nicht, mit dem Plan durchzukommen.

Der Kanton Bern hat den Lehrplan 21 vor sieben Jahren auf der Unter- und Mittelstufe eingesetzt. Seit 2020 wird auch in der Ober- beziehungsweise Sekundarstufe danach unterrichtet. Welchen Einfluss er auf das Wissen und die Fähigkeiten der Schüler und Schülerinnen hat, ist bisher nicht erforscht.
Trotzdem erkennt der Erziehungswissenschaftler Eyer das Problem der Wissenslücken aber eher bei den Gymnasien als beim Lehrplan der Volksschule. Im Gegensatz zu den inhaltsorientierten Gymnasien habe die kompetenzorientierte Volksschule gar nicht mehr den Anspruch, möglichst vollständiges enzyklopädisches Wissen zu vermitteln, sagt Eyer.
Der Gymnasiallehrplan wird angepasst
Die Gymnasien orientieren sich noch vor allem an den zu lehrenden Inhalten, also beispielsweise an den literarischen Werken, die ein junger Mensch nach der Erwartung einer gymnasialen Deutschlehrperson am Ende der Volksschule kennen sollte. Doch der Lehrplan 21 definiert keinen Kanon zu lesender Bücher. “Die Jugendlichen sind aber weder dümmer noch weniger motiviert oder interessiert”, sagt Eyer. Gemäss Lehrplan 21 sollen die Jugendlichen am Ende ihrer Schulzeit durchaus literarische Texte lesen und verstehen können. Bloss bleibt es ihrer Lehrperson überlassen, anhand welcher Werke sie diese Fähigkeiten vermittelt.
“Die Volksschule ist mit der Kompetenzorientierung des Lehrplans 21 heute pädagogisch weiter als die Gymnasien mit ihrer Inhaltsorientierung und ihren überfüllten Fächern.”
Marc Eyer, Erziehungswissenschaftler
An den Gymnasien, die noch sehr inhaltsorientiert seien, könne dadurch sowohl bei den Lehrpersonen als auch bei den Jugendlichen der Eindruck von Wissenslücken entstehen, sagt Eyer. Zudem seien Gymnasiallehrer und -lehrerinnen Fachpersonen, nicht selten mit Doktortitel, die für ihr Fach brennen und deshalb leicht in die sogenannte Vollständigkeitsfalle treten würden.
Für die Studierfähigkeit seien aber persönliche Reife und die grundlegenden fachlichen Kompetenzen wie Lesen, Schreiben und Rechnen viel wichtiger als möglichst vollständiges Vorwissen in den Studienfächern, sagt Eyer. “Das Studium beginnt ohnehin wieder bei den Grundlagen.”
Deshalb werde der neue Gymnasiallehrplan – nach ihm soll im Kanton Bern ab Sommer 2028 gelehrt werden – ein Schwergewicht auf fächerübergreifende Themen wie etwa Umweltschutz und überfachliche Kompetenzen wie Verantwortungsbewusstsein und Problemlösefähigkeit legen. “Die Volksschule ist mit der Kompetenzorientierung des Lehrplans 21 heute pädagogisch weiter als die Gymnasien mit ihrer Inhaltsorientierung und ihren überfüllten Fächern”, sagt er. Nun müsse der Lehrplan des Gymnasiums dem der Volksschule angepasst werden.
Legende Titelbild: Viele Jugendlichen büffeln bis spät am Abend und haben kaum mehr Freizeit: Eine Klasse im Gymnasium Neufeld in Bern (Symbolbild) – Foto: Nicole Philipp

