5. Dezember 2025
Gastkommentar

Sprache ist mehr als nur Kommunizieren: Der Erwerb der Erstsprache ist die Basis von Bildung

In der hitzigen Debatte über den Fremdsprachenunterricht wird oft übersehen, dass eine solide Basis in der Erstsprache grundlegend ist für den Erwerb weiterer Sprachen wie für die erfolgreiche Vermittlung von Lernstoffen in den anderen Schulfächern. Wir bringen einen Kommentar der Psychologin und Heilpädagogin Eliane Perret, der zuerst in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) erschienen ist.

 

Die in den letzten Jahren durch Pisa und andere Testinstanzen erhobenen Daten zeigen deutlich, dass mit den Deutschkenntnissen unserer Schulabgänger vieles im Argen liegt. Das ist nicht neu, aber wird allmählich nicht mehr schöngeredet. Besonders deutlich wird das Problem mangelnder Deutschkenntnisse heute bei der Lehrlingsausbildung, in den weiterführenden Schulen und an den Universitäten und Hochschulen.

Eliane Perret: Beobachtet seit 30 Jahren Kinder und Jugendliche sehr genau.

Lehrmeister beklagen selten, dass ihre Lehrlinge zu wenig Englisch können, sondern dass es ihnen nebst einer oft problematischen Einstellung zur Arbeit an grundlegenden Kenntnissen in Deutsch (und Mathematik) mangle. Das ist umso bedeutungsvoller, als rund 60 Prozent aller Berufe weder eine zweite Landessprache noch Englisch verlangen, mündliche und schriftliche Deutschkenntnisse hingegen trotz KI zum Berufsalltag der meisten Berufe gehören und Voraussetzung für Weiterbildungen sind.

Die Erstsprache steht am Beginn der Bildung

Seit einiger Zeit ist nun erneut eine Diskussion darüber im Gange, wann und welche Fremdsprache zuerst gelernt werden soll. Vom Bundesrat steht sogar die Drohung im Raum, durch einen Bundesentscheid die kantonale Bildungshoheit zu brechen.

Bevor jedoch mit schnellen Entscheiden reagiert wird, muss geklärt sein, warum eigentlich so viele Jugendliche ihre Schulzeit ohne ausreichende Deutschkenntnisse beenden und damit nicht nur schlechte Karten für die Berufsausbildung, sondern auch schlechte Voraussetzungen für den Fremdsprachenerwerb haben. Zu klären wäre ebenso, wieso man immer häufiger bei kleinen Kindern sogenannte Sprachentwicklungsverzögerungen feststellt und sie bereits in jungen Jahren sprachtherapeutische Unterstützung brauchen.

Es hat sich gezeigt, dass nicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht entscheidend ist, wie man lange Zeit vermutete, sondern dass eine sichere Bindung des Kindes zu seinen Beziehungspersonen die wichtigste Grundlage für eine gelingende Sprachentwicklung ist.

 

Im Zusammenhang mit dem frühen Fremdsprachenunterricht wird immer wieder darauf hingewiesen, wie leicht Kinder neue Sprachen lernen. Das betrifft jedoch, wie Studien zeigen, nur sehr kleine Kinder mit einem “familiären Sprachbad”, das heisst: in deren Familien sauber getrennt zwei verschiedene Sprachen gesprochen werden. Im Schulunterricht können diese Voraussetzungen nicht geschaffen werden.

In den letzten Jahrzehnten haben jedoch verschiedene Untersuchungen gezeigt, wie grundlegend eine solide Basis in der Erstsprache für den Erwerb weiterer Sprachen ist. Wer darin fit ist, hat gute Voraussetzungen für erfolgreiches Lernen, denn in der Schule werden Inhalte meist sprachlich vermittelt und Aufgabenstellungen in Worten formuliert.

Bereits im frühen Alter können Eltern und andere Erziehende entscheidend dazu beitragen, dass ein Kind der Sprache mächtig wird. In den letzten Jahren wurde in verschiedenen Studien untersucht, weshalb die einen Kinder bereits in jungen Jahren wesentlich mehr Wörter kennen als andere. Es hat sich gezeigt, dass nicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht entscheidend ist, wie man lange Zeit vermutete, sondern dass eine sichere Bindung des Kindes zu seinen Beziehungspersonen die wichtigste Grundlage für eine gelingende Sprachentwicklung ist.

Sprache wird im sozialen Miteinander gelernt. Wichtig ist deshalb, ob in einer Familie mit Freude, genügend und differenziert miteinander gesprochen wird. Dann lernen die Kinder nicht nur Grammatik, sondern auch zu denken. Hier wäre dringend über den Einfluss digitaler Medien nachzudenken, die heute bereits im frühen Alter den Alltag vieler Kinder bestimmen.

Spracherwerb ist ein komplexer Vorgang

Ein kleines Kind lernt seine Sprache nicht einfach, indem es seine Umgebung nachahmt, sondern es erhält bereits in den ersten Lebensmonaten über das Hören der Sprache seiner Beziehungspersonen grundlegende Informationen über den Aufbau seiner Erstsprache und erfasst in einem unbewussten Lernprozess ohne gezielte Anleitung deren Strukturen.

Die erste “Gesprächspartnerin” eines Kindes ist in den meisten Fällen die Mutter. Sie nimmt den Dialog mit dem Kind auf, hält ihn vorerst alleine aufrecht und schafft damit eine erste gemeinsame Erfahrungswelt. Es geht nicht in erster Linie darum, dem Kind die Sprache beizubringen, sondern es ist der zwischenmenschliche Bezug, der den Spracherwerb möglich macht – was niemals durch Medien ersetzt werden kann.

Unter diesen Bedingungen erwirbt ein Kind in seinem ersten Lebensjahr zum Beispiel die Fähigkeit, Regelmässigkeiten aus den gehörten Lauten herauszufiltern und in seinem Sprachgedächtnis abzuspeichern, mit den Sprechwerkzeugen mögliche Laute auszuprobieren und Beziehungen zwischen Wörtern und der Gegenstandswelt aufzubauen.

Wenn das Kind etwa 50 Wörter spricht, setzt im dritten Lebensjahr ein richtiggehender Wortschatzspurt ein. Das Kind erweitert seinen Wortschatz um bis zu zehn Wörter pro Tag.

 

Das ist umso erstaunlicher, als es zu vergleichbaren Aufgaben in anderen Bereichen des Denkens in diesem Alter noch nicht in der Lage ist. Wenn es etwa 50 Wörter spricht, setzt im dritten Lebensjahr ein richtiggehender Wortschatzspurt ein. Das Kind erweitert seinen Wortschatz um bis zu zehn Wörter pro Tag. Mit drei Jahren verfügt es über einen Mitteilungswortschatz von 800 bis 1000 Wörtern, und im vierten Lebensjahr steht die weitere Entwicklung der Grammatik im Vordergrund.

Damit haben die meisten Kinder die nötigen sprachlichen Komponenten erworben, die sie brauchen. Sie beherrschen nun die Satzmuster ihrer Erstsprache, auch wenn damit die Sprachentwicklung noch nicht abgeschlossen ist. Doch setzt nun ein zunehmend bewusster Lernprozess ein. Die Sprache wird in allen Facetten differenzierter und reichhaltiger, bis ein junger Mensch mit 16 Jahren über einen Grundwortschatz von ungefähr 60’000 Wörtern verfügt. Bei vielen Kindern und Jugendlichen verläuft die Entwicklung jedoch nicht mehr so, das zeigen die Resultate der verschiedenen Erhebungen.

Eine Fehlüberlegung, die korrigiert werden muss

Der Erwerb der Erstsprache ist für die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes wichtig. Sie ist mehr als einfach eine Sprache, denn sie ist gebunden an die Beziehung zu einem oder mehreren Menschen, die dem Kind ein gefühlsmässiges Zuhause geben sollten. Sie in ihren ganzen Feinheiten zu beherrschen, bedeutet deshalb mehr, als sie einfach in ihrer kommunikativen Funktion wahrzunehmen, sondern sie ist Teil der Persönlichkeitsgeschichte des Sprechenden. Sie bedarf einer besonderen Pflege und muss daher im Bildungsprozess von Kindern eine hervorragende Bedeutung haben.

Erschwerend für viele Kinder in unseren Schulen kommt dazu, dass Deutsch nicht ihre Erstsprache ist und sie auch ihre eigene Erstsprache nur schlecht beherrschen. Dennoch wurden Frühenglisch und Frühfranzösisch mit riesigem finanziellem Aufwand flächendeckend eingeführt. Dieses Vorgehen vernachlässigte die wichtige Bedeutung der Erstsprache als Fundament beim Erlernen einer Fremdsprache – eine Fehlüberlegung, die heute korrigiert werden muss.

 

Dr. phil. Eliane Perret unterrichtete zuerst als Primarlehrerin. Später bildete sie sich zur Heilpädagogin weiter und absolvierte in den1990er-Jahren an der Universität Zürich ein Studium in Psychologie, Psychopathologie und Sonderpädagogik. Von 1992 bis 2020 leitete sie die Sonderpädagogische Tagesschule Toblerstrasse in der Stadt Zürich, an der Kinder mit Verhaltens- und Lernschwierigkeiten beschult werden. Perret ist Autorin verschiedener Fachbücher und schaltet sich regelmässig in bildungspolitische Debatten ein. 

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Ein Kommentar

  1. Vielen Dank für diesen Beitrag. Man kann nicht oft genug betonen, dass Deutsch das Fundament bildet. Und: Deutsch ist eine Fremdsprache für uns Deutschschweizer. Es braucht viel Zeit und Raum, um solide Deutsch und Mathematikkenntnisse zu bilden.

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