5. Dezember 2025
Akademisierung

Der Preis der endlosen Bildungsexpansion

Die Zahl der Studienanfänger in Deutschland wird nach Prognosen der Kultusminister langfristig steigen. Hoch qualifizierte Abschlüsse decken zwar den Bedarf an spezialisierten Fachkräften. Doch der anhaltende Trend zur Über-Akademisierung hat auch negative Folgen, schreibt Hannah Bethke in einem Beitrag, der zuerst in der WELT erschienen ist.

 

Es gibt Lehrsätze, die sich hartnäckig halten, obwohl sie längst von der Realität eingeholt worden sind. Dazu gehört der oft wiederholte Appell der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), es brauche mehr Studenten in Deutschland. Einen ähnlichen Ton schlägt die Kultusministerkonferenz (KMK) an, die kürzlich neue Vorausberechnungen der Studienanfängerzahlen veröffentlicht hat.

Laut ihrer Prognose werden die Zahlen von 2027 an wieder deutlich steigen – nach einem leichten Rückgang, der zuvor durch die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium zu erwarten sei. Das sei eine gute Nachricht, erklärte Bettina Martin, Präsidentin der Wissenschaftsministerkonferenz. Deutschland brauche “gut ausgebildete Fachkräfte und kluge Köpfe, die Innovationen vorantreiben”. Dafür seien Hochschulen “wichtige Partner”.

Hannah Bethke, Journalistin bei der WELT

Die Zahl der Studienanfänger lag im Jahr 2023 laut KMK bei rund 407’000. In den kommenden beiden Jahren erwarten die Kultusminister einen leichten Rückgang auf etwa 380’000. Bis zum Jahr 2035 prognostizieren sie dann wieder einen Anstieg auf 446’000 Studienanfänger. Im Vergleich zum Ausgangswert von 2023 wäre das ein Zuwachs von rund zehn Prozent.

Doch ist das wirklich ein Grund zur Freude?

Tatsächlich gibt es dafür gute Argumente: Je differenzierter der Arbeitsmarkt wird, desto größer ist der Bedarf an hoch spezialisierten Arbeitskräften, deren Qualifikation ein Studium voraussetzt. Das gilt aber längst nicht für alle Fächer und sagt auch noch nichts über das tatsächliche Niveau der Abschlüsse aus. Die Inflation guter Noten sowohl im Abitur als auch im Studium führt seit Jahren immer wieder zu Debatten über den gefährdeten Bildungsstandort Deutschland, ändert allerdings nichts daran, dass die Hürden für ein Hochschulstudium immer weiter gesenkt und Bildungsabschlüsse auf diese Weise entwertet werden.

Immer mehr junge Menschen drängen in die Hörsäle.

So ist längst zur Gewohnheit geworden, was früher einer Minderheit vorbehalten war: Wer kann, studiert. Das hat nicht nur etwas mit einer sozialen Öffnung zu tun, deren Erfolg ohnehin begrenzt ist, wie die Pisa-Studien zeigen. Denn die soziale Herkunft bestimmt nach wie vor in erheblichem Maß den Bildungserfolg – allen politischen Bemühungen um Chancengleichheit zum Trotz.

Doppelt so viele Studenten wie Auszubildende

Dass diese Kluft nach wie vor existiert, ist umso bemerkenswerter, als die Zahl an Studenten in den vergangenen Jahren exorbitant gestiegen ist. Das zeigen etwa Daten, die das Statistische Bundesamt 2023 veröffentlicht hat:

Im Jahr 1960 lag die Studienberechtigtenquote noch bei 6,1 Prozent, 2020 betrug sie 46,8 Prozent. 2021 gab es mit einer Anzahl von 2,9 Millionen bereits mehr als doppelt so viele Studenten wie Auszubildende (Azubis), die nur noch auf 1,3 Millionen kamen. Das Statistische Bundesamt rechnet vor: “Auf zehn Studierende kamen somit 4,3 Auszubildende. 1950, im früheren Bundesgebiet, war das Verhältnis noch ein völlig anderes: Auf zehn Studierende kamen 75,5 Auszubildende.“ Im vergangenen Jahr ist die Zahl der Azubis weiter auf rund 1,22 Millionen gesunken.

Der Fachkräftemangel im Handwerk und vielen anderen Branchen wird zum Dauerzustand.

 

Die Folgen sind bekannt: Die Betriebe suchen händeringend Lehrlinge, geeignete Azubis sind schwer zu finden, der Fachkräftemangel im Handwerk und vielen anderen Branchen wird zum Dauerzustand. Gleichzeitig hat sich vielerorts die fatale Auffassung durchgesetzt, wer kein Abitur mache und nicht studiere, sei weniger wert und habe auf dem Arbeitsmarkt geringere Chancen. Auf diese Weise setzt sich die Diskrepanz zwischen Studentenflut und Lehrlingsmangel fort. In Kenntnis dieser Lage hätte man eigentlich erwarten können, dass die Prognosen der Kultusministerkonferenz mindestens auf ein geteiltes Echo stoßen. Doch es scheint eher so, als sei die Bildungsexpansion, die in den 1970er-Jahren eingesetzt hat, noch immer nicht ans Ende gelangt.

Überakademisierung und Krise der Geisteswissenschaften

In der Auswahl der Fächer ist es allerdings zu einer auffälligen Verschiebung gekommen. So studieren immer weniger Menschen Geisteswissenschaften. Laut Statistischem Bundesamt ist die Zahl der Studienanfänger in geisteswissenschaftlichen Fächern binnen 20 Jahren um 22 Prozent zurückgegangen. Es lassen sich daher zwei Trends ausmachen, die nur scheinbar im Widerspruch stehen: Es gibt erstens eine Über-Akademisierung der Gesellschaft und zweitens eine Krise der Geisteswissenschaften, die wiederum keine nennenswerte Auswirkung auf die Gesamtzahl an Studenten hat.

Kürzlich warnte auch Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) vor einer Über-Akademisierung. Der Mensch fange nicht erst beim Abiturienten an und erfahre auch nicht erst als Akademiker seine Vollendung, sagte Merz bei seinem Besuch im nordrhein-westfälischen Olsberg.

Deutschland braucht nicht nur Master, sondern auch Meister.

Die Problembeschreibung allein führt allerdings noch nicht zu einer Lösung. Wie holt man mehr junge Menschen in die Lehre und in die Berufsausbildung? Das bleibt die entscheidende Frage, auf die auch die Vorgängerregierungen keine zufriedenstellenden Antworten gefunden haben. Der Appell des früheren Bundesarbeitsministers Hubertus Heil (SPD), Deutschland brauche nicht nur Master, sondern auch Meister, verhallte angesichts der Studentenzahlen, die in die genau gegenteilige Richtung weisen.

Solange sich an dem Bewusstsein nichts ändert, die Aufnahme eines Studiums sei gegenüber einer Lehre oder Ausbildung die bessere Wahl und mit mehr Anerkennung verbunden, werden Politik und Betriebe alle Mühe haben, am gegenwärtigen Ungleichgewicht und dem damit verbundenen Fachkräftemangel nachhaltig etwas zu ändern.

 

Politikredakteurin Hannah Bethke ist bei WELT zuständig für die SPD und innenpolitische Debatten.

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