Es war das Jahr 2013, als der große Wandel erstmals unübersehbar wurde, jedoch nahm kaum jemand Kenntnis davon, obwohl es im gewissen Sinne den vorläufigen Höhepunkt eines Systemwechsels markierte.
Nicht zu diesem Zeitpunkt begründet, da die Weichen lange zuvor gestellt wurden, jedoch gestaltete es sich als Entwicklung, die bis heute nachwirkt: Erstmals gab es mehr Studien- als Ausbildungsanfänger.
Studium verdrängt Ausbildung: Eine fehlgeschlagene Transformation
Auf den ersten Blick ein Nischenthema, banal klingend, und doch hatten wenige Veränderungen solch gravierende Folgen für den ökonomischen und gesellschaftlichen Fortbestand Deutschlands. Es ist ein Feld, über das man nicht so gerne spricht. Eine am Ende wohl fehlgeschlagene Transformation, die selten Erwähnung findet – vielleicht auch, weil so viele daran beteiligt waren und es sich kaum mehr noch unterscheiden lässt, wo sinnvolle Weiterentwicklung durch ideologisches Gedankengut verdorben wurde und an welcher Stelle Dogmatismus den Pragmatismus verdrängte.

Daher wird der Tadel an dieser Stelle lauten, dass es die vielen erwünschten und unerwünschten Köche waren, die das Gericht verdarben. Aber der Verköstigte kann letztendlich nur das bewerten, was ihm einerseits tatsächlich serviert wurde und andererseits, welche Folgen der Verzehr in der Folge hatte: Am Ende steht die Erkenntnis, dass sich das Land auch selbst – durch eine langfristig wirkende Fehlsteuerung im Bildungswesen, um Teile seiner potenziellen Fachkräfte gebracht hat.
Eingebettet in andere Entwicklungen wie demografische Verschiebungen, ökonomischen Bedarf und Digitalisierung trug und trägt besagte Entwicklung dazu bei, die Ausbildungsberufe unattraktiver und das Studium leichter zugänglich zu machen.
Akademisierung zwecks europäischer Harmonisierung
Dabei war doch alles einst so gut gemeint: Es gab bereits in den 90ern die Konferenzen von Lissabon, Amsterdam, Bologna und vor allem den Wunsch nach europäischer Harmonisierung im Bildungssystem. Grenzenlos lernen und arbeiten, Chancengleichheit, Gerechtigkeit in einem sich immer mehr vereinigenden Europa. Und die Wirtschaft wollte es auch.
Ein Traum, der sehr schnell überladen, manche mögen sogar sagen, gekapert wurde. Denn wenn es schon einmal Reformen gibt, so sollten sie, ganz deutsch, auch gründlich und umfassend sein. Bereits beim Abitur sowie den Barrieren dorthin, und auch die betriebliche Ausbildung erschien vielen wieder einmal als ein deutscher Sonderweg.
Vielleicht ist das Scheitern deswegen auch so bitter und tragisch. Denn wo guter Wille unvollkommen waltet, bleibt am Ende nur unvollendetes Stückwerk.
Gleichheit und Durchlässigkeit statt Selektion und Elitedenken – es floss vieles mit ein. Vielleicht ist das Scheitern deswegen auch so bitter und tragisch. Denn wo guter Wille unvollkommen waltet, bleibt am Ende nur unvollendetes Stückwerk. Mancher Stein wurde sehr gut gesetzt, andere brillant – die Mauer aber blieb brüchig.
Doch soll dies keine Debatte über die Sinnhaftigkeit einzelner Maßnahmen werden, denn das würde vom Ergebnis ablenken. Ziel war die Akademisierung zwecks Harmonisierung, und jenes wurde auch erreicht. Denn die Reformen wirkten:
Erst beim Abitur: Hier betrug die Quote, laut Kultusministerkonferenz (KMK) derjenigen, die pro Jahrgang ein solches erlangten, im Jahr 2002 ca. 32 Prozent. 2010 waren es bereits um die 45 Prozent und im Jahr 2023 ca. 55 Prozent. Nicht berücksichtigt wurden dabei andere Zugangsmöglichkeiten wie etwa die Fachhochschulreife.
Letzteres erklärt teilweise den Umstand, warum die Studienanfängerquote höher ist: Im Jahr 2000 studierten ca. 33 Prozent der relevanten Geburtsjahrgänge, im Jahr 2010 ca. 53 Prozent und 2023 ca. 58 Prozent.
Hier fließen zusätzlich Menschen mit ein, die ihre Hochschulzugangsberechtigung auf anderem Wege (z. B. im Ausland oder aber über den Beruf) erlangt haben. Oder, um ein Beispielsjahr zu nehmen und keine Verwirrung zu stiften: 2023 geht man – als Quellen seien hier Destatis und BMBF genannt – davon aus, dass ca. 66 Prozent ein Abitur besitzen, ca. 27 Prozent eine Fachhochschulreife und ungefähr 7 Prozent einen sonstigen Zugang haben.
Es sei allerdings darauf hingewiesen, dass die Zahlen leicht variieren, da die Grundgesamtheiten jeweils schwanken und es nötig ist, sich verschiedener Quellen zu bedienen. Die Unschärfe ist aber überschaubar und die Tendenz kaum zu leugnen.
Der einst übliche Weg in die Ausbildung ist keine Norm mehr
Der traditionelle Weg von der Schule in die Ausbildung ist nicht mehr die Norm. Die Ausbildung verlor an Boden und wurde zunehmend unattraktiver für junge Leute.
Gewiss kann an dieser Stelle viel diskutiert werden:
- Erstens müssen wir darüber sprechen, wie viele Leute weder die Befähigung zu einem Studium noch zu einer Ausbildung haben.
- Zweitens ist es nicht statistisch nachzuweisen, welchen Einfluss die Flüchtlingskrise ab 2014 auf die Studienanfängerquote hatte. Wurde diese durch den Zuzug – vor allem junger Menschen, die aufgrund von Sprachbarrieren oder fehlender Qualifikation zunächst nicht studieren konnten – gesenkt?
- Drittens müssen wir über die NEETs (“Not in Education, Employment or Training”) reden, also jene jungen Menschen, die schlicht nichts tun. Das sind allein in Deutschland aktuell bis zu 1,2 Millionen.
- Viertens ist da das digitale Umfeld, das neue Welten schafft und wohl der mächtigste Einfluss ist, dem Menschen ausgesetzt sind – stärker noch als dem von Schule oder Eltern.
An dieser Stelle wollen wir uns auf einen einzelnen Aspekt konzentrieren: das ungleiche Verhältnis zwischen Ausbildungen und Studium.
Deutlicher Zuwachs bei ausländischen Azubis
Diese Disbalance hatte Folgen, letztendlich auch, weil die Akademisierung eben keine vollständige war, sondern Teilbereiche gar nicht erfasste. Das mag vielleicht beim Handwerk noch irgendwie erklärbar sein, auf anderen Feldern, wie beispielsweise der Pflege, die in vielen Ländern längst akademisch anschlussfähig ist, ist es das nicht.
Die Folgen lassen sich konkret an den Zahlen messen. Waren 2007 noch ca. 475’000 Auszubildende im Handwerk, so sind es 2024 nur noch 324’000, was ungefähr 28 Prozent der aktuellen Lehrlinge in Deutschland entspricht.
Wichtiger als absolute Zahlen ist aber natürlich der Bedarf – und der ist im Handwerk, betrachtet man die drohende Welle der Renteneintritte, groß.
Dabei hat sich der Anteil der ausländischen Azubis von 2013 auf 2022 von ca. 7 Prozent auf knapp 14 Prozent verdoppelt. Was wiederum einerseits zeigt, wie wichtig ausländische Arbeitnehmer für den deutschen Markt sind, aber auch, dass sich das Problem nur mit Arbeitskräfteanwerbung wohl nicht lösen lässt.
Wichtiger als absolute Zahlen ist aber natürlich der Bedarf – und der ist im Handwerk, betrachtet man die drohende Welle der Renteneintritte, groß.
Perspektiven auf hohes Gehalt durch Studium haben sich verschlechtert
Und ja, es gab den Versuch der kosmetischen Korrektur. Beispielsweise gibt es seit Jahresbeginn 2020 den Bachelor (z. B. Meister, Techniker) und den Master Professional (z. B. Betriebswirt IHK), welche das Image der Ausbildungsberufe aufwerten sollten. Aber wirklich erfolgreich war das nicht.
Schlimmer noch: Laut den meisten Umfragen sind die Bezeichnungen in der Bevölkerung schlicht nicht bekannt. Die alte Trennung besteht in den Köpfen fort – und damit auch das jeweilige Ansehen.
Gleichfalls sei erwähnt, dass das Studium, vermutlich ebenfalls ein Relikt aus den Diplomzeiten, zwar noch immer einen großartigen Ruf genießt, aber die Perspektiven auf ein hohes Gehalt und Karriere in anderen Bereichen nicht unbedingt schlechter sind. Nehmen wir das Beispiel einer frisch examinierten Pflegekraft (TV-ÖD, P1), die mit Schichtzulagen im Schnitt durchaus auf 3600 bis 3900 Euro brutto kommen kann. Dem gegenüber verdient der junge Sozial- und Geisteswissenschaftler nach dem Studium im Schnitt nur 2800 bis 3200 Euro brutto.
Betrachtet man nur das Gehalt, so haben sich die Erwartungen an ein Studium bei vielen wohl eher nicht erfüllt, und sie werden es mit zunehmendem Marktungleichgewicht auch nicht mehr erfüllen.
Bei diesem Thema möchte ich nebenbei dem Gerücht widersprechen, dass die Frauen so schrecklich benachteiligt werden, weil die Universitäten eine “männliche Domäne” seien. Man schaue auf diese Studierendenstatistik vom WS 2024/25 an der FU Berlin:
https://www.fu-berlin.de/studium/studieren/studienorganisation/statistik/statistik/daten/WiSe2425_Studierende-nach-Studienfach-und-Abschluss.pdf
Man wird Mühe haben, überhaupt noch Studiengänge zu finden, in denen die Frauen in einer deutlichen Minderheit (etwa unter 40 %) sind. Ich fand folgende 5 Fächer:
Informatik (21 % Bachelor, 16 % Master), Mathematik (37 % Bachelor, 40 % Master), Physik (34 % Bachelor, 31 % Master), Statistik (31 % Master), Wirtschaftsinformatik (34 % Master), alles ohne Lehramtsstudiengänge, dort sind die Frauen insgesamt in der Mehrheit, z.B. auch beim Grundschullehramt Mathematik mit über 80 %. Beim Fach Kunstgeschichte beträgt der Frauenanteil 76 %, bei der Veterinärmedizin (Staatsexamen) 88 %, bei der Pferde-wissenschaft 96 %. In Hunderten von Studiengängen liegt der Anteil um die 50 % oder höher, in der gesamten Uni bei 61 %. Auch interessant: Bei der Informatik sind über 200 (bzw. 25 %) der Bachelorstudenten im 13. oder höheren Fachsemester, über alle Studiengänge gemittelt sind es über 10 %. Offenbar ist der Langzeitstudent wieder da, obwohl uns doch durch den Bologna-Prozess das Gegenteil versprochen wurde.
Es ist schon eine Leistung, einen solchen Artikel zu schreiben, ohne die OECD auch nur einmal zu erwähnen.