5. Dezember 2025
Verrohung unter Jugendlichen

Das wahre Ausmaß der Gewalt an Schulen

Gewaltdelikte an Schulen nehmen besorgniserregend zu. Das Bundesinnenministerium lässt in seiner Antwort auf eine parlamentarische Anfrage jedoch ausgerechnet die Zahlen weg, die den größten Anteil haben. Wir bringen einen Beitrag, der zuerst in der WELT erschienen ist.

 

Es war das Ende einer Gewalteskalation, die sich über Monate aufgebaut hatte: Auf dem Gelände der Poul-Due-Jensen-Schule im kleinen schleswig-holsteinischen Ort Wahlstedt kam es Ende Juni zu einem Übergriff, bei dem mehrere Schüler zwei Erwachsene attackierten. Ein 14-Jähriger schubste einen Sicherheitsmann in ein Gebüsch. Als ein zweiter Erwachsener dazu eilte, würgte ein 13-Jähriger den Helfer. Auch ein weiterer Junge, zwölf Jahre alt, mischte mit.

Schon zuvor hatten sich die Vorfälle auf dem Schulgelände gehäuft, die Direktorin berichtete von eingeschlagenen Scheiben, Schmierereien an den Wänden des Schulgebäudes und Vandalismus auf dem Pausenhof. Den “Lübecker Nachrichten” sagte sie, auch Beleidigungen von Lehrkräften seien an der Tagesordnung. Bereits Monate davor hantierte die Gruppe aggressiver Schüler demnach mit einer Soft-Air-Pistole, Mitschüler und Reinigungskräfte fühlten sich bedroht. Nun soll ein Runder Tisch den Schulfrieden wieder herstellen.

Komplette Zahlen erst auf Nachfrage

Alexander Dinger, Journalist bei der WELT

Was wie ein Einzelfall wirkt, ist Teil eines besorgniserregenden Trends. Doch wie groß ist das Problem wirklich? Auf diese Frage liefert die Bundesregierung nun erstmals bundesweit belastbare Zahlen. Sie liegen WELT exklusiv vor. Allerdings sorgt die Auswahl der Daten für Kritik. Denn das Bundesinnenministerium (BMI) lässt in seiner Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der AfD-Fraktion genau jene Form von Gewalt unerwähnt, die an Schulen am häufigsten vorkommt: die vorsätzliche einfache Körperverletzung. Erst auf Nachfrage von WELT liefert das Ministerium die kompletten Zahlen.

Demnach fanden im vergangenen Jahr 35’570 Gewaltdelikte an Deutschlands Schulen statt – im Durchschnitt also jeden Tag rund 97 Vorfälle, bei denen Schülerinnen und Schüler zu Opfer oder Tätern wurden. 743 davon waren Messerangriffe. Diese Zahlen liegen noch einmal höher als die von den Ländern gemeldeten Werte, über die WELT AM SONNTAG kürzlich exklusiv berichtet hatte.

Blickt man auf alle Straftaten, die in Schulen passieren, also nicht nur Gewaltdelikte, gibt das Bundesinnenministerium für das Jahr 2024 rund 94’318 Straftaten an. Weitere 24’292 Straftaten fanden bei schulischen Veranstaltungen statt, 284 Mal spielte dabei ein Messer eine Rolle. “Das sind erschütternde Zahlen, die belegen, dass unsere Kinder sogar in vermeintlich geschützten Bereichen einer immer größeren Gefahr ausgesetzt sind”, kommentierte die AfD-Abgeordnete Birgit Bessin, die die parlamentarische Anfrage gestellt hatte.

Keine Angaben zu Nationalitäten

Bei tatverdächtigen Jugendlichen wuchs die Zahl der Delikte laut der jüngsten Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) von 2023 auf 2024 um 3,8 Prozent auf 31’383 an; bei Kindern (unter 14 Jahren) sogar um 11,3 Prozent auf 13’755. Über die Nationalität der Tatverdächtigen geben diese Zahlen keinen Aufschluss.

Philipp Wolding, Korrespondent bei der WELT

Die Polizeiliche Kriminalstatistik ist die wichtigste Annäherung an die Kriminalität in Deutschland. Sie bildet den jeweiligen Stand der polizeilichen Arbeit ab und erfasst nur Verbrechen, die auch angezeigt werden. Studien über das Dunkelfeld müssen diesen “Arbeitsnachweis” zwingend ergänzen. Ob der jeweilige Tatverdächtige, der erfasst wird, später auch von einem Gericht schuldig gesprochen wird, darüber geben die Daten keine Auskunft.

In diesem Jahr weist die Polizeistatistik auch erstmals bundesweit aus, welches Ausmaß an Gewalt sich an Schulen abspielt. Die Kriminaldaten erfassen bei Straftaten, ob sich diese am Tatort “Schule” – definiert als öffentliche oder private Schule bis zur Abiturstufe, Berufsschulen und Gebäuden beziehungsweise Flächen, die schulisch genutzt werden – abspielten. Straftaten auf dem Schulweg gehören nicht dazu. Auskunft gibt die Statistik auch darüber, ob ein Delikt auf einer “schulischen Veranstaltung” wie etwa einer Klassenfahrt, beim Schulsport außerhalb des Schulgeländes oder Musik- oder Theateraufführungen stattfand.

Die vorsätzliche einfache Körperverletzung

Welche Sorte Gewalt spielt sich auf Deutschlands Schulhöfen also ab? Am meisten verbreitet sind sogenannte vorsätzliche einfache Körperverletzungen. Gemeint ist die Ohrfeige am Pausenstand, aber auch etwas abstrakter gesprochen Tritte, Schläge, Spucken ins Gesicht und Misshandlung ohne schwere Folgeschäden. Solche Vorfälle machen rund 70 Prozent aller Gewaltdelikte an Schulen aus.

Umso erstaunlicher, dass das Bundesinnenministerium in seiner Antwort auf die parlamentarische Frage nach “Gewalt an Schulen” diese Zahlen zu Körperverletzungsdelikten weglässt. Aufgelistet sind nur 9849 Delikte aus dem Bereich der Gewaltkriminalität, einer Kategorie, die schwere Gewalttaten wie Mord, Totschlag, Vergewaltigung und gefährliche Körperverletzung umfasst. Einfache Körperverletzungen, immerhin 25’721 Fälle, fallen nicht in diesen Bereich. Damit verschwinden rund fünf von sieben Gewaltvorfällen aus der Statistik, die das Bundesinnenministerium liefert.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mehrfach betont, dass das parlamentarische Fragerecht nicht formalistisch ausgehebelt werden darf – etwa durch bewusst enge Auslegung, irreführende Auslassung oder “strategische Blindheit”.

 

Auf Nachfrage erklärt ein Sprecher: Sofern durch den Fragesteller keine Informationen “zu konkreten Straftaten” im Kontext Gewalt erbeten würden, erfolge die Beantwortung grundsätzlich mit den Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik zum Summenschlüssel “Gewaltkriminalität”. Und weiter: “Schwere und schwerste Gewalttaten stehen meist im Fokus beziehungsweise sind Anlass entsprechender Anfragen, sodass dieses Vorgehen auch sachgerecht ist.”

Diese Argumentation ist juristisch korrekt, aber politisch umstritten. Denn die Frage nach Gewalt an Schulen richtet sich erkennbar auf das tatsächliche Ausmaß. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mehrfach betont, dass das parlamentarische Fragerecht nicht formalistisch ausgehebelt werden darf – etwa durch bewusst enge Auslegung, irreführende Auslassung oder “strategische Blindheit”. Wer nur das aufzählt, was in engen Kriminalstatistik-Kategorien als “Gewaltkriminalität” zählt, entzieht sich der eigentlichen Aussageabsicht der parlamentarischen Kontrolle.

Länder erheben schon länger detaillierte Daten

Das handhaben auch die 16 Bundesländer anders als das Innenministerium in Berlin. Die meisten Länder lieferten bei journalistischen Anfragen dieser Art auch die Zahlen zu einfacher Körperverletzung mit, die in der Masse das Bild der Verrohung an Schulen entscheidend prägen. Auf Nachfrage stellte nun auch das Bundesministerium diese Daten bereit.

Für Schulen sind die Länder zuständig, sie erheben schon länger detaillierte Daten, so lassen sich Vergleiche zum Vorjahr ziehen. Hier zeigt sich ein starker Anstieg an Gewaltdelikten etwa in Bayern, Hessen, Brandenburg, Baden-Württemberg, Niedersachsen, Sachsen und Rheinland‑Pfalz.

Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) schlägt angesichts der neuen Zahlen Alarm. Ihr Bundesvorsitzender Gerhard Brand sieht die schulische Gewalt auch als Folge gesellschaftlicher Entwicklungen. “Bedenklich ist dabei, dass nicht nur die Zahl, sondern auch die Ausprägung der Gewaltvorfälle ansteigt.” Eine Rolle spielten dabei auch strukturelle Fehler der Vergangenheit wie “Personalmangel, marode Schulgebäude und ständig neue, teils völlig fachfremde Aufgaben”. Brand sagt: “Nach Jahren im Krisenmodus braucht es Ruhe und Verlässlichkeit. Dies gilt auch für unsere Schulen.” Es brauche “Entlastungen, die auch tatsächlich im Arbeitsalltag ankommen”.

 

Alexander Dinger ist stellvertretender Ressortleiter Investigation und Reportage. Seine Themenschwerpunkte sind Polizei, Extremismus, Geheimdienste, Clankriminalität und Demonstrationen.

Korrespondent Philipp Woldin kümmert sich bei WELT vor allem um Themen der inneren Sicherheit und berichtet aus den Gerichtssälen der Republik.

Im September erscheint im Verlag C.H. Beck ihr gemeinsames Buch „Neue Deutsche Gewalt. Wie unsicher unser Land wirklich ist.“

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