Zum rituellen Kahlschlag der 68er gehörten auch Mythen. Radikal räumten sie mit ihnen auf. Auch Tell ging es an den Kragen – nicht nur mit Max Frischs Gegengeschichte «Wilhelm Tell für die Schule». Mythen wurden für irrelevant erklärt und die Narrative guter Geschichten amputiert. Sie fielen dem Faktencheck zum Opfer und verschwanden. Später tauchten sie andernorts und in anderer Form wieder auf, beispielsweise im Schulwesen.
Von den sieben Mythen des Lernens
Pädagogische Mythen prägten und bestimmten den Bildungsdiskurs der vergangenen Jahre. Mit apodiktischer Wucht wirkten sie – Widerspruch unnütz! Wer beispielsweise das frühe digitale Lernen oder die beiden Fremdsprachen auf der Primarstufe kritisch kommentierte, landete sehr schnell in der Ecke der Ewiggestrigen.

In seiner neuen Publikation «Die Pädagogik der Privilegierten» hinterfragt der Ordinarius für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Universität Zürich, Roland Reichenbach, solch gängige Vorstellungen.[1] Dazu gehörten Prinzipien wie «Selbstorganisiertes Lernen SOL» und «Eigenerfahrung», «Auf gleicher Augenhöhe» oder «Vom Lehren zum Lernen». Die Mythen des Lernens, so der Hochschullehrer, seien inhaltlich eng miteinander verbunden. Er reiht sie ein unter die beiden mythisch überhöhten Hauptbegriffe «Eigenverantwortung» und «Individualisierung».
Hohe Erwartungen an schwache Begriffe
Diese kategorisch formulierten Absichten bezeichnet Reichenbach als modische, oft unbewiesene Überzeugungen; sie kämen Axiomen gleich. Doch nicht die «Eigenerfahrung» an sich – um ein Beispiel zu nennen – sei der eigentliche Mythos. Mythisch sei die Bedeutung, die diesem Phänomen beim Reden über das Lernen zugeschrieben werde. Der übertriebene Stellenwert und die bedauerliche Einseitigkeit im pädagogischen «Diskurs» machten den Mythos der «Eigenerfahrung» aus.[2] Damit verbunden seien implizit oder explizit viel zu hohe Erwartungen an den jeweiligen Begriff. Der pädagogische Alltag könne diese Ideen oft gar nicht einlösen. Wenn Bildungsversprechen und Schulwirklichkeit nicht übereinstimmen, leidet bloss die Wirklichkeit. Das zeigt sich auch beim Frühfranzösisch.
Wer wegrückt vom dialogischen Lernen in der Klassengemeinschaft und hinzielt zum selbstorganisierten Individuallernen, privilegiert bestimmte Schüler und verstärkt gleichzeitig bestehende Unterschiede.
Mythen verstärken soziale Unterschiede
Eigentlich wissen wir es schon lange. Doch manche Bildungsexperten zeigen sich erkenntnisresistent: Die vielen Innovationen in den Lehr- und Lernformen bringen nicht das, was sie versprechen, nämlich bessere Lernleistungen für alle. Und ebenso wenig generieren sie gerechtere Bildungschancen für Kinder aus engen sozialen Verhältnissen.
Das Absurde am Ganzen: Mit den vielen Innovationen benachteiligt die Schule genau solche Kinder. Dies geschieht paradoxerweise durch das, was diese Jugendlichen in ihrer Selbstständigkeit vermeintlich fördern und stärken soll. Der Grund: Wer wegrückt vom dialogischen Lernen in der Klassengemeinschaft und hinzielt zum selbstorganisierten Individuallernen, privilegiert bestimmte Schüler und verstärkt gleichzeitig bestehende Unterschiede.
Der Matthäus-Effekt: Wer hat, dem wird gegeben.
Die Bildungsschere zwischen Kindern aus sogenannt bildungsnahem Elternhaus und jenen aus einem angeblich bildungsfernen Sozialmilieu weitet sich. Die aktuellen Vergleichsstudien und ihre Resultate verdeutlichen es. Roland Reichenbach, selbst ausgebildeter Primarlehrer, hat ein feines Sensorium für solche Entwicklungen. Eine seiner Kernthesen: Eine Pädagogik, die das einzelne Kind und sein selbstorientiertes Lernen ins Zentrum rückt, fördert vor allem leistungsstarke und privilegierte Kinder. Sie profitieren von dieser Freiheit und vom selbständigen, eigenverantworteten Lernen. Daran sind sie sich von daheim aus eher gewohnt. Das Elternhaus bringt Bildungsvorteile. Wer hat, dem wird gegeben: der berühmte Matthäus-Effekt!
Lernschwächere Schüler dagegen bräuchten einen stärker angeleiteten Unterricht; sie wären angewiesen auf klare Vorgaben und eine stützende Strukturierung der Arbeitsabläufe. Und sie kommen nicht ohne regelmässiges und intensives Üben aus. Doch vieles davon gilt Bildungsreformen als zu wenig fortschrittlich und zu lehrerzentriert. Damit unterstützen sie bereits bevorteilte Kinder – und verschleiern gleichzeitig die sozialen und kulturellen Unterschiede zwischen den Schülerinnen und Schülern einer Klasse.
Guter Unterricht lebt vom Dialektischen
Roland Reichenbach ist kein Mythen-Zertrümmerer. Ganz im Gegenteil. Er zeigt lediglich auf, dass pädagogischen Mythen vielfach der gleichwertige Gegenbegriff fehlt. Was bedeuten beispielsweise die reformpädagogischen Edelvokabeln «aktives» Lernen, «offenes» Lernen?, fragt sich Reichenbach. Und weil den Mythen das Komplementäre fehlt, forcieren sie eine «Vereindeutigung» des pädagogischen Denkens.[3]
Doch guter, bildungswirksamer Unterricht ist ein dialektischer Prozess, ein Sowohl-als-auch, kein Entweder-oder.
Doch guter, bildungswirksamer Unterricht ist ein dialektischer Prozess, ein Sowohl-als-auch, kein Entweder-oder. Dazu gehören beispielsweise das Zusammenspiel zwischen Instruktion und Konstruktion, das Junktim zwischen dem lehrergelenkten Impuls-Geben und dem schülerzentrierten Selber-Tun, die Wechselwirkung zwischen Freiheit gewähren und den Schülern gleichzeitig Halt und Sicherheit vermitteln. Das Anspruchsvolle der Bildungsprozesse, das Dialektische! Es ist die Kombination von zwei Handlungen, die sich vordergründig widersprechen und gleichzeitig bedingen, beispielsweise standhaft sein und zugleich nachsichtig, flexibel bleiben und doch konsequent sein. Das wieder zu erkennen und zu praktizieren, dafür macht sich Roland Reichenbach stark. Er tut dies unaufgeregt, undogmatisch.
Als Verehrer der heiligen Dialectica weiss er um die Spannungsfelder des pädagogischen Alltags und ihren konstitutiven Wert. Reichenbachs kluger Essay «Die Pädagogik der Privilegierten» regt hier zum (Nach-)Denken an.
Die Farben der Schule sind die Zwischentöne
Ein persönliches Postskriptum: Es kommt mir vor, als müssten wir zuerst wieder Hell und Dunkel erkennen und uns so bewusst werden, dass dies bloss zwei Pole sind. Dazwischen liegen unzählige Schattierungen. Vielleicht sind die Farben der Schule eben die Zwischentöne. Oder konkret und als dialektische Antithese zum Mythos «Selbstorganisiertes Lernen SOL» formuliert: So viel Autonomie der Lernenden wie möglich, so viel Unterstützung und Hilfe durch die Lehrerinnen und Lehrer wie nötig. Damit wäre lernschwächeren Kindern und der Bildungsgerechtigkeit weit mehr gedient als mit falsch verstandenen Mythen. Roland Reichenbachs drängendes Anliegen!
[1] Roland Reichenbach (2025), Die Pädagogik der Privilegierten. Ein Essay. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.
[2] a.a.O., S. 15
[3] Vgl. Thomas Bauer (2023), Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Stuttgart: Reclam, S. 12
Im aufschlussreichen Kommentar von Carl Bossard zum Essay von Roland Reichenbach kommen pädagogische Mythen unserer Tage auf den Prüfstand. Jedes Kind könne fast alles lernen, sofern man die richtigen didaktischen Rezepte anwende, gehört zu diesen Wunschvorstellungen. Doch die angestrebte Chancengerechtigkeit wird mit den vielgepriesenen Methoden des selbstorganisierten Lernens am wenigsten erreicht. Statt alle Schüler erfolgreich zu fördern, geht die Schere zwischen den Schnelllernern und den labileren Schülern rasch weit auseinander. Die Vorstellung, schwächere Schüler bräuchten nur etwas mehr Zeit, dann würden auch sie in allen Fächern auf individualisierten Lernwegen weit kommen, hat sich als Luftschloss erwiesen.
Zwei konzeptionelle Mängel beim Lehrplan 21 tragen dazu bei, dass schwächere Schüler häufig überfordert sind und steckenbleiben. Das eine ist die erwähnte forcierte Individualisierung der Lernprozesse und die damit verbundene Abwertung des geführten gemeinsamen Klassenunterrichts. Im Kommentar von Carl Bossard wird überzeugend erklärt, warum eigenverantwortliches Lernen die vorhandenen Unterschiede beim Bildungsstand der Kinder verstärkt statt vermindert.
Der zweite konzeptionelle Fehler liegt in der Annahme, dass Chancengerechtigkeit in einem weitgehend identischen Fächerkatalog für alle Abteilungen der Sekundarschule liege. Jeder Schüler und jede Schülerin müsse – nicht könne – eine identische Basisbildung erhalten, auch wenn unterschiedliche Begabungen diese Aufgabe nicht einfach machten. So soll sich beispielsweise jeder Jugendliche am Ende der Schulzeit in zwei Fremdsprachen verständlich ausdrücken können. Man hat dafür Mindeststandards aufgestellt, die für Begabte ein Zwischenschritt, für Schwächere hingegen das Bildungsziel sein müssen. Obwohl aus der Bildungsforschung längst bekannt ist, dass das Begabungsprofil besonders bei schulschwachen Jugendlichen sehr einseitig sein kann, war man nicht für flexiblere Lösungen bereit.
Die Folgen dieser Gleichmacherei sind verheerend. Statt den Mut aufzubringen, ein für die berufliche Zukunft eines Jugendlichen irrelevantes Fach ganz wegzulassen, wird weiter in ein stures Plansoll investiert. Der Lernfortschritt ist in solchen Fällen gleich null und die Frustration gross. Gleichzeitig geht viel Lernzeit verloren. Viel besser wäre es, dort mehr zu investieren, wo ein schwacher Schüler seine Stärken hat. Eine solches Bildungskonzept ist schülergerecht und erhöht die beruflichen Chancen. Die Konzentration aufs Wesentliche würde es auch erlauben, bei den kulturell prägenden und beliebten Realienfächern keine Abstriche machen zu müssen.