19. Juli 2025
DENKMOMENT

Innere Kündigung – oder: Die Volksschule verliert ihre erfahrensten Lehrpersonen

Langjährige und erfahrene Volksschul-Lehrpersonen mutieren zunehmend zu verwaltenden Personen. Sie hängen sich vom Reform-Zug ab und machen nur noch ihre Arbeit – “Dienst nach Vorschrift” nennt man das. In den Schulentwicklungsvorhaben erkennen sie den Sinn und den vermeintlichen Mehrwert nicht mehr. Das langjährige Grundverständnis einer guten Schule wird erschüttert. Ihre Vorstellung divergiert mit den Erwartungen, welche die Schulleitung an sie stellt.

Die kritischen Stimmen zum System Volksschule häufen sich. Am Pranger steht insbesondere der Lehrplan 21 und die zahlreichen Reformen der letzten Jahre. Befürworter derselben argumentieren mit dem Generationen-Gap. Wenn es um die Durchsetzung von Schulreformen geht, dann wird die ältere Garde der Lehrpersonen oft der reform-bremsenden, die jüngeren Kolleginnen und Kollegen hingegen der reform-fördernden Fraktion zugeordnet. Das ist ein fataler Trugschluss und eine Diskreditierung langjähriger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Trennlinie verläuft keineswegs zwischen Alt und Jung, sondern querbeet durch das Kollegium. Dabei gehen die Lehrpersonen auf unterschiedliche Weise mit der Situation um: Sie retten sich in die Pension oder quittieren ihren Job[2] oder verbleiben mit innerer Kündigung an der Schule. Während die ersten zwei Fälle einer üblichen Fluktuation entsprechen, lässt die Schule bei Lehrpersonen mit innerer Kündigung ein grosses Potenzial verkümmern.

Niklaus Gerber, war bis zu seiner Pensionierung im August 2021 Abteilungsleiter und Mitglied der gibb-Schulleitung und hat sich mit NORDWÄRTS – Kompass für kompetente Führung selbständig gemacht.
www.nord-waerts.com

Wie zeigt sich innere Kündigung?

Sie zeigt sich auf verschiedene Art und Weise. Die Anzeichen kann eine aufmerksame Schulleitung erkennen:

Desinteresse. – Lehrpersonen verlieren das Interesse an der Schule und sind nicht mehr bereit, in Teams, Arbeitsgruppen, Projekten etc. aktiv mitzuwirken.

Ermüdung. – Lehrpersonen mögen nicht mehr dagegen ankämpfen, dass der Kernbereich «Unterricht» von Nebenschauplätzen verdrängt wird.

Unzufriedenheit. – Sie entwickeln eine negative Einstellung vielem gegenüber. Den Unmut äussern sie unter anderem im Kollegium, wo sie andere anstecken können. 

Kompensation. – Um ihre Lebensqualität hochzuhalten, verlegen Lehrpersonen den Fokus von der Schule in den Freizeitbereich und zu den Hobbies. Hier erfahren sie Genugtuung.

Abwesenheiten. – Ihre Fehlzeiten nehmen zu und sie lassen sich häufiger krankschreiben. An Sitzungen und schulischen Veranstaltungen nehmen sie nicht mehr oder nur unter Zwang teil.

Resignation. – Die Beziehungen zu den Schülerinnen und Schülern, zum nicht gleichgesinnten Kollegium und insbesondere zur Schulleitung ist emotional distanziert.

Kritik auf mehreren Ebenen

An die Adresse der Politik und Schulbehörden

«Stoppt die Reformen!» ist vermehrt zu vernehmen. Gleichzeitig wird gefordert, dass der Lehrplan nach 10 «Betriebsjahren» mit Beteiligung erfahrener Lehrpersonen entlastet wird. Erwartet werden inhaltliche und strukturell-organisatorische Anpassungen[3]. Neben diesen sollen unausgereifte Informatik-Applikationen[4] nicht in die Schule gelangen.

An die Adresse der Schulleitung

Die Schulleitung soll sich nicht ständig und unreflektiert den neuen pädagogischen Strömungen anpassen; auch nicht den gesellschaftlichen. Die Kernfrage des Mehrwerts schulischer Entwicklungsmassnahmen sei immerzu zu stellen. Lehrpersonen kritisieren insbesondere, dass neben den vielen Reformen die Umgebungsfaktoren des Unterrichts zu wenig Beachtung finden. Zu den häufig gehörten Beispielen gehören die Hausordnung[5], die Pflege des sozialen Umgangs[6], das Aufzeigen von Regeln und Grenzen[7], der Umgang mit Konflikten[8].

Krankschreibungen nehmen zu.

An die Adresse der Schülerinnen und Schüler und ihrer Eltern

Die Streubreite innerhalb heutiger Volksschulklassen ist gross. Das Leistungsvermögen der Schülerinnen und Schüler ist das eine Problem, gleichzeitig sind die Verhaltensauffälligkeiten kräftezehrende Herausforderungen, die den Lehrpersonen an die Substanz gehen. Bezüglich Umgangsformen bringen viele Kinder bestimmte Eigenschaften nicht mehr mit, weil sie von den Eltern nicht mehr vorgelebt werden. Einfache Umgangs- und Kommunikationsformen sind ihnen fremd. Begegnungen mit ihnen sind anspruchsvoll und häufig nicht mehr von Respekt und Anstand geprägt. Bezüglich Lernbereitschaft fehlt es an Fleiss, Engagement und Durchhaltevermögen. Sie werden dem «Strebertum» zugeordnet. Die Bereitschaft, mehr als das Minimum zu leisten, ist verblasst und das Interesse am Lernen und am Bildungszuwachs hat abgenommen. Hausaufgaben als wichtiger Teil des mehrfachen Lernens, der Vertiefung und Festigung eines Lerninhalts ist auch wegen des Lehrplans 21 in den Hintergrund gerückt. Zudem führt ein fehlendes Bildungsverständnis dazu, dass die Schülerinnen und Schüler die Verantwortung für das eigene Lernen nicht mehr übernehmen.

Folgerung: In der Summe der Volksschul-Kritik wird gar von einem Systemversagen[9] gesprochen. Die Stimmen, wonach die Abwärtsspirale gestoppt werden muss, ist unüberhörbar.

Weniger Reformen – mehr Führung

Die Erwartungen an die verantwortliche Schulführung sind vielschichtig. Im Grundtenor tönt es heute nach Rückbesinnung; nicht zu verwechseln mit Rückwärtsorientierung. Vielmehr geht es um Werte, die an der Schule lange Zeit erfolgreich waren, gepflegt wurden und nun zunehmend am Verwässern sind. Der Ruf nach weniger Reformen und mehr Schulleitung ist spürbar. Das Lager der reform-kritischen Lehrpersonen wird grösser. Die Sinnfrage nach der Wirkung ständiger Veränderungen beschäftigt das lehrende Kollegium.

Die Ansprüche haben nichts mit «alter Schule» zu tun. Wenn sich die Lehrpersonen von der Schulleitung – gerade auch bei Themen rund um einen geordneten Schulbetrieb – nicht mehr unterstützt fühlen, macht sich Resignation bemerkbar. Es stimmt nachdenklich, wenn sich langjährige Pädagoginnen und Pädagogen mehrere Jahre im Voraus nach ihrer Pensionierung sehnen, den Mut jedoch nicht aufbringen, die Schule zu verlassen. Ergo bleibt die innerliche Verabschiedung.

Fazit

Innere Kündigungen von Lehrpersonen sind ein Indikator, dass der Faden zwischen Schulleitung und den betroffenen Lehrpersonen gerissen ist. Es ist deshalb wichtig, dass die Führung ein offenes Ohr für die Anliegen ihrer wichtigsten Mitarbeitenden hat, die Rauchzeichen wahrnimmt und frühzeitig das Gespräch sucht, wenn sich im Kollegium spürbarer Unmut breit macht. Regelmässige Feedback-Runden und eine wertschätzende Schulkultur können helfen, Anzeichen der inneren Kündigung rechtzeitig zu erkennen und entsprechend Gegensteuer zu geben. Ausserdem wird erwartet, dass sich das Leitungsgremium gegen fragwürdige[10] Reformen wehrt und sich nicht instrumentalisieren lässt. Die Schule muss sich weiterentwickeln, doch soll sie sich auch werte-bezogen auf Altbewährtes rückbesinnen. Weiterentwicklung bedeutet nicht immer mehr. Oftmals gilt «weniger ist mehr».

[1] Im vorliegenden Sinn: (ver)walten = sich sorgen. Die Lehrpersonen fühlen sich nur noch dem eigenen Unterricht verpflichtet.

[2] Die Hälfte der über 55-jährigen Lehrpersonen kehren der Schule den Rücken. L-CH. Standpunkte: Warum verlassen manche Lehrpersonen den
Beruf, während andere bleiben? https://www.lch.ch/standpunkte/detail/warum-verlassen-manche-lehrpersonen-ihren-beruf-waehrend-andere-ihm-treu-bleiben. 2022.

[3] Beispiele sind die Diskussionen um das Frühfranzösisch, um die Thematik Integration versus Separation, um Notengebung, um späteren
Schulbeginn, um die grundlegenden Basiskompetenzen, usw.

[4] In der Stadt Bern wurden in den letzten Jahren mit dem Informatikprojekt «base4kids» grosser Unmut und viel Aufwand ausgelöst.

[5] Im Schulhaus hängende Plakate nützen nichts, wenn sie a) mit den Klassen nicht aktiv thematisiert werden und b) wenn die Nichtbeachtung keine Folgen hat. Der Kontakt zum Hausdienst und die aktive Zusammenarbeit zählen hier zu den Erfolgsfaktoren.

[6] Weniger Ablenkungen resp. die aktive Förderung des sozialen Umgangs unter den Schülerinnen und Schülern wird explizit gewünscht. Hier
gehören auch die Smartphone- und Smartwatch-Regelungen dazu.

[7] Das pädagogische Konzept HAG (Hinschauen – Ansprechen – Grenzen setzen) zeigt die Grundbotschaft einer Schule.

[8] Gerber, N. (2024). Neue Autorität: Neuer Wein in alten Schläuchen? https://condorcet.ch/2024/06/neuer-wein-in-alten-schlaeuchen/

[9] Aus fremder Feder. Komplettes Systemversagen: Wurden Hilferufe von Lehrkräften jahrelang ignoriert?
https://condorcet.ch/2025/06/komplettes-systemversagen-wurden-hilferufe-von-lehrkraeften-jahrelang-ignoriert/ 8.6.2025

[10] Das Wort «fragwürdig“ meint, es ist würdig – also angebracht – etwas zu (hinter-)fragen.

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4 Kommentare

  1. Lieber Niklaus
    Du warst u. a. Schulleiter. Nicht an der Volksschule zwar, aber Schulleiter. Vom Reformwahn an der Volksschule warst du wahrscheinlich eher indirekt betroffen. Meine Erfahrung – direkt erlebt und indirekt aus Gesprächen mit betroffenen Lehrpersonen – war, dass hyperkonforme Schulleitungen, die m. E. den Hauptteil dieser Berufsgattung ausmachen, die grösste Verantwortung trugen für das verqueere WIE der Umsetzung all der angeordneten Reformen. Dabei spielten u. A. auch Androhungen von Kündigung und der Entzug gewisser Funktionen wie z. B. das Amt der Klassenlehrperson durchaus mit hinein in den Kanon der Massnahmen betreffend lehrpersonenseitiger Reformrenitenz. Sogar die offene Ankündigung in einem Konvent, das Kollegium sei genau aus diesen Gründen zu verjüngen, war Teil der Drohkaskade.
    Du wirst kaum Mühe haben, zu verstehen, dass erfahrene und altgediente Hasen irgendwann das Handtuch werfen und (teils innerlich gekündigt) Jüngeren Platz machen, die meinen, das Ei des Kolumbus gefunden zu haben. Doch Hochmut kommt vor dem Fall und nun ist dieser Fall tatsächlich im Gang. Wundert mich das? Nicht wirklich…
    Beste Grüsse!

    1. Lieber Daniel
      Danke für deine Zeilen und den Erfahrungsbericht. Das Phänomen der “Inneren Kündigung” existiert nicht alleine in der Volksschule, sondern auch auf den anderen Bildungsstufen wie auch ausserhalb der Bildungswelt. Ich kenne das Thema – wie du richtig einordnest – primär vom Berufsbildungsbereich her und von der Wirtschaft her. In meiner Familie gibt es Volksschullehrpersonen, die unterschiedlich alt und in den verschiedenen Zyklen tätig sind. Ihnen höre ich stets zu, wenn sie von ihrer oft belastenden Situation berichten.

      1. Lieber Niklaus
        Dein offenes Ohr für Berichte und Anliegen der Volksschul-Lehrpersonen freut mich und wird auch die Betroffenen freuen. Letztlich infiszieren die von den überbordenden Reformen angehäuften Defizite auch die Sekundarstufe II und die Tertiärstufe. So finden z. B. an etlichen Universitäten Deutschkurse für Jus-Studentinnen und -studenten statt. Doch die Glocke bei den Verantwortlichen bleibt stumm.
        Es ist ein Trauerspiel. Warnungen gab es genug.

        1. Lieber Daniel
          Danke für deine Zeilen. Du hast recht, die Situation auf der Volksschulstufe zeigt sich zwischenzeitlich auch auf den weiteren Bildungsstufen, bis hinauf zu den Unis. Ich lese gerade ein Buch mit dem Titel “Akadämlich – Warum die angebliche Bildungselite unsere Zukunft verspielt”. Autorin ist die an einer deutschen Uni lehrende Rechtsprofessorin Zümrüt Gülbay-Peischard. Eine empfehlenswerte Lektüre.

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