Mustafa zieht das schlechtere Los als Heinz – zumindest laut Statistik. Die beiden fiktiven Schüler besuchen eine sechste Klasse in der Schweiz. Obwohl sie gleich begabt, motiviert und intelligent sind, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass Mustafa in der Sekundarschule in ein tieferes Niveau eingeteilt wird als Heinz.
Es ist wissenschaftlich belegt, dass die soziale Herkunft den Bildungsverlauf beeinflusst. Kinder mit Schweizer Namen erhalten tendenziell bessere Noten. Und bei Übertrittsentscheiden setzen sich bildungsnahe Eltern stärker für ihre Kinder ein. Darum ist es hoch umstritten, ob und wie Kinder nach der sechsten Klasse überhaupt selektioniert werden sollen – in verschiedene Sekundarstufen oder gar ins Langgymnasium.

Gegner dieser Praxis kritisieren, dass sie Ungleichheiten verstärke. “Die Herkunft spielt eine zentrale Rolle in der Schulkarriere”, sagt Markus Neuenschwander von der Pädagogischen Hochschule FHNW. Seine Forschung zeigt: Je früher Kinder selektioniert werden, desto stärker gehen ihre Bildungswege auseinander.
Befürworter der Selektion hingegen betonen, dass diese eine zentrale Aufgabe der Volksschule sei. Einer von ihnen ist Urs Moser, ehemaliger Bildungsforscher an der Universität Zürich. “Wenn man etwas gegen die sozialen Ungleichheiten im Bildungssystem unternehmen will, dann muss man mehr Ressourcen im Vorschulalter und im Kindergarten einsetzen und die Kinder dort fördern”, sagt er.
Schule durchlässiger machen
Diese Debatte spaltet nicht nur Forscher, sondern auch die Schullandschaft, wie sich nun zeigt. Letztes Jahr ging der Verband der Schulleiter Schweiz (VSLCH) in die Offensive und forderte die Abschaffung der Selektion in der sechsten Klasse. Eine verbandseigene Umfrage zeigte: 55 Prozent der Schulleiterinnen und Schulleiter teilen diese Ansicht.
Nun hat sich auch der Verband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) positioniert – gegen die Schulleitungen. Kürzlich hat er dazu sein Positionspapier verabschiedet, das dieser Zeitung vorliegt. Kernaussage: “Der LCH erachtet Selektionsprozesse in der Volksschule als notwendig, um Schülerinnen und Schüler passenden Bildungsangeboten zuzuweisen, wo sie gezielt gefördert und gefordert werden.”
Der LCH fordert gerechte Selektionsprozesse in der sechsten Klasse. “Es braucht klare Beurteilungskriterien, die eine faire Zuteilung ermöglichen”, sagt die Präsidentin Dagmar Rösler. Und: Der Entscheid soll vorwiegend bei den Lehrpersonen liegen, aber mit den Eltern besprochen werden. Heute haben Eltern in einigen Kantonen ein Mitspracherecht.
Lehrpersonen auf Sekundarstufe stehen eher zur Selektion, während auf Primarstufe viele sich eine Aufweichung des Selektionsprozesses vorstellen können.
Rösler betont, der Entscheid zu diesem Positionspapier sei nicht leichtgefallen: “Es ist das Resultat einer Befragung unserer Basis.” Natürlich sei die Chancengleichheit nicht überall gegeben – auch weil die Selektion kantonal unterschiedlich gehandhabt wird. Einige Kantone setzen in der Sekundarschule auf strikte Trennung, andere auf Modelle mit gemischten Klassen und Niveauunterricht in einzelnen Fächern.
Um die negativen Effekte der Selektion abzufedern, verlangt der LCH nun schweizweit solche durchlässigeren Modelle. “Ein Wechsel zwischen verschiedenen Anforderungsprofilen sollte niederschwellig und flexibel gestaltet sein”, heisst es in dem Papier. Heute wechseln nur 3,5 Prozent der Sek-Schüler das Niveau – meist nach unten.
Der Kurs des LCH ist ein Kompromiss: Er reflektiert die unterschiedlichen Meinungen innerhalb des Verbands. Denn: Lehrpersonen auf Sekundarstufe stehen eher zur Selektion, während auf Primarstufe viele sich eine Aufweichung des Selektionsprozesses vorstellen können.
Angst vor Unruhe
Hinzu kommt ein praktischer Grund: “Wir hätten gar nicht die Kraft, jetzt eine solche Reform durchzuziehen”, sagt Rösler. Das Schulsystem sei durch zahlreiche Herausforderungen bereits an der Belastungsgrenze. Der Bildungsforscher Moser findet den Entscheid vernünftig: “Ich verstehe, dass der LCH an der Leistungseinteilung festhält. Die Diskussion über die Abschaffung der Selektion würde viel Unruhe auslösen, die den Kindern nichts bringt.”
Markus Neuenschwander begrüsst wiederum das Anliegen, die Qualität der Selektion zu verbessern: “Lehrpersonen brauchen gute Grundlagen für eine faire Zuteilung.” Eine gewisse Selektion sei sinnvoll, sagt er – doch sie könne auch innerhalb gemischter Klassen geschehen.
Die Schulleitungen zeigen sich gelassen. “Veränderungen stossen nicht immer auf Gegenliebe”, sagt der VSLCH-Präsident Thomas Minder. Doch niemand, der evidenzbasiert entscheide, könne bestreiten, dass Selektion Nachteile habe. Einige Schulen verzichteten bereits heute auf Niveaueinteilungen – mit guten Resultaten. Für ihn ist klar: “Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich auch die Lehrpersonen mehrheitlich gegen die Selektion in der sechsten Klasse aussprechen.”
Endlich! Steht alle auf!! ES REICHT!!!
Das Wort ‘Selektion’ hat in Deutschland einen unguten Beigeschmack, wenn man einen emotionsfreien Diskurs möchte, sollte man es vermeiden. Für ein positiv belegtes oder neutrales Synonym wäre ich dankbar.
Lieber Herr Osterholz. Sie haben Recht. Der Ausdruck ist unmöglich, vor allem in Deutschland. In der Schweiz wird er uneingeschränkt verwendet, ist fester Bestandteil des fachlichen und politiuschen Diskurses. Das ist fast ein Kampf gegen Windmühlen. Aber auch in Deutschland ist dieser Begriff “eingeschliffen”. Ich spreche immer von einer Gliederung. Aber das versteht niemand. Und “Auslese” ist noch schlimmer. Ich bin etwas ratlos.
Diejenigen, die den Begriff “Selektion” permanent pushen, tun dies bewusst, im Wissen darum, was damit assoziiert wird. Es geht um Leistungsdifferenzierung.
Die Gelassenheit des Schulleiterverbandes trägt für mich Züge narzisstischer Ignoranz.
“Heute wechseln nur 3,5 Prozent der Sek-Schüler das Niveau – meist nach unten.”
Das soll ein Argument sein für mehr Durchlässigkeit?
Diese tiefe Zahl kann auch bedeuten, dass die Selektion zweckmässig war und die Kinder am richtigen Ort sind. Anderenfalls müssten mir die Expertinnen einen Zielwert nennen können, der erreicht werden muss. Müssen 5% wechseln? Oder 10%? Pro Jahr?
Und nebenbei: Chancengleichheit gibt es nicht. Dafür gäbe es Bildungsgerechtigkeit.
Vor allem werden immer mehr SuS den höheren Leistungszügen zugewiesen, in Baselland waren es 2020 schon 78 % – und das, obwohl von PISA bis ÜGK stetig weiter sinkende Leistungen konstatiert werden. Da liegt es allein aufgrund der Mengengerüste auf der Hand, dass “Aufstiege” tendenziell seltener vorkommen dürften als “Abstiege”. Doch wer immer und überall Opfer sehen will, den interessiert das nicht.
Jaja, Herr Minder bemüht einmal mehr die “evidenzbasierten” Entscheidungen. Die Grundlagen dafür liefern dieselben Institutionen, welche uns “evidenzbasiert” die Segnungen der Frühfremdsprachen versprochen haben und “evidenzbasiert” dafür garantierten, die Integrative Schule komme ausnahmslos allen Beteiligten zugute. Dass die Glaubwürdigkeit dieser “evidenzbasierten” Aussagen im Bildungswesen darunter arg gelitten hat, wollen die Verantwortlichen partout nicht einsehen. Stattdessen treten sie unverändert auf, als würden sie die Keplerschen Gesetze verkünden.
Ich empfehle die Lektüre des Aufsatzes “Policy recommendations for language learning: Linguists’ contributions between scholarly debates and pseudoscience.” von Prof. Raphael Berthele, den Felix Schmutz wie folgt paraphrasiert hat:
Berthele empfiehlt den Kolleginnen und Kollegen seiner Zunft, sich künftig streng wissenschaftlicher Erkenntnismethoden zu bedienen und nicht in spekulativen Annahmen stecken zu bleiben. Die Gefahr der Pseudowissenschaft bestehe darin,
1. aus Ignoranz falsche Empfehlungen an die Politik abzugeben,
2. bei unsicherer Evidenz pädagogische Innovationen auszulösen, die zum Scheitern verurteilt seien, und
3. der eigenen Disziplin zu schaden, indem man schlechte Wissenschaft, vage Theorien verkündet und Studien so zurechtbiegt, dass sie die eigenen Überzeugungen bestätigen, nicht aber fundierte Wahrheiten aufzeigen.
Überdies stimme ich ausdrücklich Carl Bossard zu, der von einer “Marginalisierung der Praxisempirie” spricht. Reformen gegen den Willen überdeutlicher Mehrheiten der für die Umsetzung Verantwortlichen (sprich der Lehrerinnen und Lehrer) durchzustieren, zeugt von einer ungeheuren Ignoranz.
Leistungsdiffernezierung ist eine Frage der Unterrichtseffizienz und der Anforderungsgerechtigkeit. Die Zusammenfassung in leistungsähnlichen Gruppen erhöht für alle Gruppen die Zuwendungsmöglichkeiten durch die Lehrpersonen. Länder, die bis zum Alter 15 nicht nach kognitiven Fähigkeiten differenzieren, haben keine deutlich bessere soziale Aufstiegsbilanz als die Schweiz, die Anschluss- und Ausbildungslösungen für praktisch alle Jugendlichen bietet, denn der soziale Background und die kognitive Ausstattung schlagen überall durch. Im Gegenteil: Jugendarbeitslosigkeit, Scheitern in der Tertiärausbildung belasten die Gesellschaften mit selektionsfreier Schule erheblich. Der ausschliessliche Blick auf die Gymnasialquote und deren angeblich bessere berufliche Aufstiegschancen ist zu einseitig.
Ganz Ihrer Meinung: Selektion geht nicht. In der 6. Klasse vom “Übertritt in die…” zu sprechen ist
a. neutral und schliesst sich
b. dem (für alle gleichen) Übertritt in die 1. und 4. Klasse an.
In der Einladung an die Eltern heisst es dann “Einladung zum Übertrittselternabend” mit “Informationen zur Sek-Einteilung”.
Macht die Sache nicht besser aber vermeidet das historisch dermassen belastete Wort, welches so unglaublichen Schrecken beinhaltet.