21. Juni 2025
Interview mit einer Französischlehrerin

“Das Argument mit dem Sprachenbad ist ein Witz”

Die Deutschschweizer Schüler könnten deutlich schlechter Französisch als noch vor zehn Jahren, sagt die Lehrerin Jacqueline Derrer in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ). Die Ursache sieht sie bei den Reformen der vergangenen Jahre.

Die Deutschschweizer Schülerinnen und Schüler sind schlecht im Französisch. Dies belegt ein Bericht der Erziehungsdirektoren der Kantone (EDK). In der 11. Klasse, nach jahrelangem Französischunterricht, fehlen der Hälfte der Schüler die Grundkenntnisse der Sprache.

Jacqueline Derrer ist seit dreissig Jahren Französischlehrerin an der Kantonsschule Baden. Im Gespräch sagt sie, was sich in den vergangenen Jahren verändert hat und wie sie versucht, ihre Schüler für das oftmals unbeliebte Fach zu motivieren.

NZZ-Journalistin Corina Gall

NZZ: Frau Derrer, ich war von 2008 bis 2012 eine Ihrer Schülerinnen. Meine Noten waren durchschnittlich, eine Liebe fürs Französische entwickelte ich erst im Studium in Genf. Wie war das bei Ihnen?

Jacqueline Derrer: Als ich in der Primarschule war, fuhren meine Eltern mit uns Kindern an den Neuenburgersee zum Zelten. Ich sprach kein Wort Französisch, aber ich ging trotzdem alleine in den kleinen Laden des Zeltplatzes. Dort zeigte die Verkäuferin erfreut auf meinen Pullover, auf dem ein Schmetterling aufgedruckt war, und sagte: «Papillon.» Das klang so schön, es war um mich geschehen.

Es wäre also so einfach: Deutschschweizer Familien sollten mit ihren Kindern mehr in die Westschweiz fahren?

Die Liebe zu Sprachen geht immer über Menschen, persönliche Erlebnisse, Emotionen. Als Teenager durfte ich alleine mit einer Freundin nach Frankreich reisen, um Reitferien zu machen. Wir hatten eine wunderschöne Zeit. Da wusste ich, dass ich die Sprache einmal richtig gut beherrschen will.

Kann man Jugendliche trotzdem mit Schulunterricht fürs Französisch begeistern?

Bis zu einem gewissen Grad geht das. Aber in der Deutschschweiz gibt es dem Französisch gegenüber leider viele Vorurteile.

Zum Beispiel?

Ich war gerade mit einer Klasse auf einer Exkursion an die Sprachgrenze in Biel. Dort wurde uns erzählt, dass es auch zweisprachige Klassen gibt. Meine Schülerinnen und Schüler wurden gefragt, welche Klasse sie besuchen würden. Eine Schülerin sagte überzeugt: deutschsprachig. Sie möge Französisch nicht, weil es schwierig sei.

Ist das ein Vorurteil? Der Schülerin würden wohl viele recht geben.

Französisch zu lernen, ist anspruchsvoller, als Englisch zu lernen. Englisch ist nicht nur einfacher, die Jugendlichen begegnen der Sprache auch im Alltag. Es gibt eine passive Immersion durch die Pop-Kultur. Mein Sohn kann perfekt Englisch, und dies ohne Matura. Denn er schaut alle Filme und Serien auf Englisch. Das ist auch bei meinen Schülern so. Sie finden Englisch cool. Französisch hat diesen Bonus nicht. Es gilt gar häufig als uncool, zu sagen, dass man Französisch mag.

Jacqueline Derrer, Französischlehrerin an der Kantonsschule Baden/AG

Da blutet einem als Französischlehrerin doch das Herz.

Nicht mehr, ich bin abgehärtet. Wenn man Französisch unterrichtet, muss man akzeptieren, dass man es schwerer hat als ein Englischlehrer.

Inwiefern hat man es schwerer?

Es gibt Schüler, die im Französisch schon aufgegeben haben, bevor sie an die Kantonsschule kommen. Die Schüler vergleichen zudem ihre Französischfähigkeiten oft mit ihrem Niveau im Englisch und denken deshalb, sie seien schlecht.

Wären Sie manchmal lieber Englischlehrerin?

Nein! Ich sage nur, für eine junge Lehrperson kann es zu Beginn hart sein. Ich sehe es pragmatisch: Es ist mein Job, die Schüler erfolgreich zur Matura zu führen. Ich mache ihnen klar, dass sie diese Sprache lernen müssen.

Warum müssen sie Französisch lernen?

Französisch ist eine Landessprache, deshalb muss man sie können. In der Politik ist oft von Kohäsion die Rede. Französisch zu können, ist wichtig für den Zusammenhalt des Landes, davon bin ich überzeugt. Ich bin so sehr davon überzeugt, dass ich vor zehn Jahren an der Kantonsschule Baden einen alljährlichen Schüleraustausch mit einem Gymnasium im Kanton Freiburg initiiert habe.

Und das funktioniert?

Oh ja. Ich war diesen Frühling am Bahnhof dabei, als sie sich voneinander verabschiedet haben. Es gab Tränen. Einige haben sicher ab und zu englisch miteinander gesprochen, das können wir nicht verhindern. Aber das ist auch nicht schlimm.

So oder so: Es ist ein Schulfach, es ist im Lehrplan vorgeschrieben, und es gibt eine klare Vorgabe, was die Schüler können müssen.

Neben dem Zusammenhalt der Schweiz sind auch die Berufschancen ein Argument fürs Französisch. Kann man damit Jugendliche überzeugen?

Gymnasiasten überzeugt das kaum. Es sind vielleicht auch nicht alle, die das Französisch später im Job brauchen. Aber wenn sie es brauchen, ist es sehr wertvoll. So oder so: Es ist ein Schulfach, es ist im Lehrplan vorgeschrieben, und es gibt eine klare Vorgabe, was die Schüler können müssen.

Aber die Vorgaben erfüllen viele nicht. Warum ist das so?

Ich kann vor allem für den Kanton Aargau sprechen. Hier gab es in den vergangenen Jahren einschneidende Reformen, die dazu geführt haben, dass die Schüler schlechter im Französisch wurden.

Welche waren das?

Seit ich unterrichte, sank im Französisch die Anzahl der Stunden pro Woche. Zudem schaffte man die Abschlussprüfung an der Bezirksschule ab, das Repetieren des Stoffs fiel damit weg. Dann stieg man von fünf auf sechs Jahre Primarschule um und führte das Frühfranzösisch ein. Neu hatten die Schüler bereits in der Primarschule Französisch, dafür wurde die Zahl der Lektionen in der Oberstufe gekürzt.

Die Gesamtzahl der Französischstunden in der obligatorischen Schulzeit blieb mit dem Frühfranzösisch etwa gleich. Wo liegt das Problem?

In der Primarschule sind die Leistungsziele tiefer. Zudem machen die Schüler langsamere Fortschritte, weil sie noch nicht in ihre jeweiligen Leistungsniveaus aufgeteilt sind. Später an der Oberstufe ist der Unterricht an das jeweilige Niveau angepasst. Die Schüler können dort vom Französischunterricht mehr profitieren.

Bei der Einführung des Frühfranzösisch wurde argumentiert, dass die Schüler die Sprache besser lernen, je früher sie damit beginnen. Von einem sogenannten Sprachenbad war die Rede.

Das Argument mit dem Sprachenbad ist ein Witz. Der Begriff ist in diesem Kontext völlig falsch. Die Kinder erhalten Französischlektionen, fertig. Als wir mit unserer einjährigen Tochter für zwei Jahre nach Paris gezogen sind, war sie einem Sprachenbad ausgesetzt, weil alle um sie herum französisch gesprochen haben, ihre Eltern aber schweizerdeutsch.

Als Argument gegen das Frühfranzösisch wird oft gesagt, dass die Kinder erst richtig Deutsch lernen sollten. Wie sehen Sie das?

Wenn ich sagen würde, das Frühfranzösisch soll abgeschafft werden, würde das in der Westschweiz nicht verstanden. Doch es gibt zwischen der Westschweiz und der Deutschschweiz einen entscheidenden Unterschied: Wir Deutschschweizer leben in einer sogenannten Diglossie und müssen in der Primarschule erst einmal richtig Hochdeutsch lernen. Unsere Primarschüler müssen im Deutschunterricht mehr leisten als die Welschen im Französischunterricht.

Das Frühfranzösisch überfordert die Kinder?

Absolut. Das gilt erst recht für ein Kind mit einem Migrationshintergrund, das zu Hause kein Schweizerdeutsch spricht. Man verlangt von diesem Kind zu viel, wenn es in der Primarschule auch noch Französisch lernen soll. Es besteht die Gefahr, dass es dann weder gut Hochdeutsch kann noch wirklich Fortschritte im Französisch macht. Am Schluss kann es beide Sprachen schlecht. Doch das Frühfranzösisch ist nicht das einzige Problem.

Was noch?

Bei den erwähnten Reformen im Aargau wurde auch die Notenberechnung für den Übertritt an die Kantonsschule angepasst. Die Noten im Englisch und im Französisch werden seither zusammengezählt. Das ist verheerend.

Warum?

Weil die Schüler ihr schlechtes Französisch mit der Englischnote kompensieren können. Den meisten gelingt dies problemlos. Ihnen fehlt damit die Motivation, im Französisch eine gute Note zu schreiben.

Woran erkennen Sie, dass die Schüler schlechter wurden im Französisch?

Wir beobachten dies nicht nur im ersten Jahr der Kantonsschule, sondern auch bei den Aufnahmeprüfungen. Diese müssen jene schreiben, die aus einem anderen Kanton kommen oder an der Bezirksschule nicht den nötigen Schnitt erreichten. Der Notenschnitt aller Teilnehmenden liegt im Französisch regelmässig zwischen 2 und 3.

Ich stelle regelmässig fest, dass Generationen die negativen Geschichten weitertragen. Das ist für die Französischlehrer von heute hart. Manche bitten die Eltern vor dem Schuleintritt der Kinder, das Französisch bitte nicht schlechtzureden.

In meiner Klasse waren viele sehr sprachbegabt, unter ihnen auch mehrere mit Migrationshintergrund. Es gab aber auch bei uns Schüler, die sehr schlecht im Französisch waren, die nötigen Seiten im Buch nie lasen, kaum am Unterricht teilnahmen. Was ist bei den heutigen Klassen anders?

Es gibt immer noch Schülerinnen und Schüler, die stark sind. Aber der Anteil jener, die wenig bis nichts können, ist viel höher. Und deren Noten gehen tiefer nach unten. Daran sind, anders, als es oft heisst, nicht die Lehrpersonen schuld. Es liegt an der generellen Abwertung des Französisch.

Sie sagen, die schlechten Französischkenntnisse liegen an den Schulreformen und der Beliebtheit des Englisch. Aber ist es nicht so, dass das Fach schon immer als unbeliebt galt, über die Französischlehrer schlecht gesprochen wurde und viele sagten, ihnen sei aus dem Unterricht kaum etwas geblieben?

Ich vermute, dass das Französisch auch darum unbeliebt war, weil Lehrer den Finger in die Wunde der Schüler steckten und andauernd Fehler hervorgehoben haben. Auch war der Unterricht sicher weniger auf Kommunikation aufgebaut als heute. Die Schüler haben sich kaum getraut, im Unterricht etwas zu sagen. Sie wurden entmutigt.

Mein Vater hat mir, als ich noch ein Kind war, erzählt, dass er direkt nach seiner Abschlussprüfung mit Freunden alle Französischbücher verbrannt habe. Die Schuld für seinen Hass aufs Französisch gab er seiner Lehrerin.

Ich stelle regelmässig fest, dass Generationen die negativen Geschichten weitertragen. Das ist für die Französischlehrer von heute hart. Manche bitten die Eltern vor dem Schuleintritt der Kinder, das Französisch bitte nicht schlechtzureden. Der Ruf ist nicht mehr gerechtfertigt, unser Unterricht heute ist lustvoller.

Was heisst das nun für Ihren Unterricht, wenn die Schüler so schlecht geworden sind?

Das Defizit der schlechten Schüler können wir Lehrpersonen bis zur Matura nicht immer aufholen. Aber wir tun, was wir können.

Was tun Sie konkret?

Neu machen wir zu Beginn eine Standortbestimmung, mit der wir das Niveau der Schüler eruieren. Jene, die eine zu tiefe Punktzahl erreichen, können Stützkurse besuchen. Aber die sind freiwillig, dauern eine Woche und finden in den Herbstferien statt.

Sprich, kaum jemand geht hin?

Nein, es kommen viele. Denn jene, die die Kurse besuchen, profitieren davon. Drei junge Lehrpersonen haben zudem für das kommende Schuljahr ein neues Stützkursprojekt aufgebaut. Wenn die ungenügenden Schüler den Kurs in den Herbstferien nicht besuchen, müssen sie in einen Lerntreffpunkt, wo sie mit Lehrpersonen und Tutoren üben können.

Das klingt aufwendig und teuer.

Das ist es auch. Und die Finanzierung ist leider noch nicht gesichert. Doch wir müssen zu kompensieren versuchen, was zuvor verbockt wurde. Das Niveau B2, das die Schüler bei der Matura haben müssen, ist eidgenössisch vorgeschrieben, und es wurde bisher nicht nach unten angepasst.

Wie bringen Sie Ihre Schüler zu diesem Ziel?

Ich will zum Beispiel, dass sie reden können und sich getrauen, auf Französisch zu sprechen. Das ist oft das Schwierigste. Ich vergebe manchmal Noten für die Arbeitshaltung, damit sie bei Sprechübungen nur französisch reden.

Es braucht also Druck und Bestrafung, damit die Schüler sich bemühen?

Eine sehr harmlose Bestrafung, ja. Manchmal braucht es Druck. Es ist eine Herausforderung, die aber auch Spass macht. Wenn wir es schaffen, dass alle französisch sprechen, freuen sich auch die Schüler. Sie merken, dass es möglich ist. Und ich sage ihnen immer wieder, dass sie stolz darauf sein sollen, was sie schon alles können. Ich rede ihnen gut zu, muntere sie auf.

Sind Sie genügsamer geworden?

Grosszügiger, ja. Und einfacher zufriedenzustellen. Man entwickelt sich mit der Zeit ja auch menschlich weiter und hat mehr Erfahrung. Ich fordere immer noch viel von den Schülern, aber ich kann heute besser positives Feedback geben, das musste ich lernen.

Haben Sie nach dreissig Jahren immer noch Spass daran, die französische Grammatik zu erklären?

Manchmal sage ich zu meinem Mann: «Ach, jetzt muss ich schon wieder erklären, wie man Konditionalsätze bildet.» Das stinkt mir manchmal. Aber wir machen an unserer Schule auch coole Projekte. Kürzlich haben wir im Akzentfach Moderne Sprachen Musikvideos gedreht und uns mit dem Eurovision Song Contest in der Schweiz befasst. Die Schüler waren sehr motiviert.

Apropos Konditionalsätze: Si nous avions mené toute l’interview en français, vos élèves l’auraient-ils comprise?

Les élèves de première année n’auraient sans doute pas tout compris, mais les élèves des classes de maturité, oui.

Verstehen Sie, weshalb Schülerinnen und Schüler in Ihrem Unterricht leiden?

Leiden tun sie trotz allem nicht! Aber auch ich weiss, dass es viel Ausdauer braucht, eine neue Sprache zu lernen. Ich bin seit längerem dabei, Spanisch zu lernen. Ich muss nach diesem Gespräch auch gleich zum Unterricht. Ich merke dabei selbst, wie schwierig das ist mit dem Vokabular. Auch ich vergesse manchmal die neu gelernten Wörter.

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2 Kommentare

  1. Frau Derrer erlebt die geringe Motivation bei der kognitiv stärksten Schülergruppe im späten Jugend- und frühen Erwachsenenalter und kämpft gemeinsam mit ihrem Kollegium engagiert dagegen an. Wie muss das erst auf der Sekundarstufe 1, und dann noch bei kognitiv schwächeren Pubertierenden sein? Statt der “subordonnée conditionnelle” kämpfen die Jugendlichen da mit “Je n’ai plus soif.” oder eher “J’ai ne pas a soif” oder “J’ai n’ a pas soif”, wenn sie einfachste Gespräche führen sollen. Solche Hürden zu überwinden braucht vor allen Dingen mehr Übungszeit, die bei der auf sieben oder fünf Jahre gestreckten kleinen Stundendotation für die Fremdsprache im jetzigen Konzept fehlt.

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