Bildungskrise

“Wenn jedes Kind tut, was es will, ist erfolgreicher Unterricht nicht machbar”

Guter Unterricht an Grundschulen sei heute vielerorts kaum möglich, sagt Ex-Rektorin Petra Hänny: Kinder würden trotz extremer Leistungsunterschiede in dieselben Klassen gesteckt. Sie fordert eine Abkehr von “offenen Unterrichtsformen” – und ein Comeback des Leistungsgedankens, schreibt Sabine Menkens. Wir bringen einen Beitrag, der zuerst in der WELT erschienen ist.

Petra Hänny, 62, arbeitete bis zu ihrem Abschied aus dem Schuldienst 2012 aufgrund einer schweren Erkrankung als Rektorin und Ausbilderin für Studenten und Referendare. Zuletzt leitete sie eine Grundschule im rheinland-pfälzischen Grünstadt. Der Schule ist sie im Rahmen von Lesungen ihrer Kinderromane, Beraterin in Bildungsfragen und Initiatorin eines kleinen Netzwerks von Lehrern verschiedener Schulformen noch immer verbunden. Im Folgenden schildert sie ihre Eindrücke, woran das deutsche Bildungssystem momentan kranke.

WELT-Journalistin Sabine Menkens

“Um eins vorwegzusagen: Ich war mit großer Begeisterung Lehrerin. Kinder auf ihrem Weg ins Leben zu begleiten, ist für mich einer der schönsten Berufe, die es überhaupt gibt. Dass Mädchen und Jungen mit den unterschiedlichsten Voraussetzungen in die Schule kommen, ist für mich nicht neu. Ich habe mein Referendariat 1987 in einer Schule im sozialen Brennpunkt gemacht, wo Kinder mit vielen Talenten und vielen Problemen unterrichtet wurden.

Heute aber gibt es in beinahe jeder Grundschule eine stark heterogene Schülerschaft. Manche Kinder können bei der Einschulung bereits fließend lesen und bis Tausend rechnen, andere haben noch nie ein Buch in der Hand gehabt und können keinen Stift halten. Es gibt Klassen, in denen Kinder mit ausreichenden Sprachkenntnissen in der Minderzahl sind. In Einzelfällen tragen Kinder sogar noch Windeln, die dann “heimlich” von der Lehrkraft gewechselt werden! Natürlich spricht darüber niemand, weil kein Lehrer diese Kinder und deren Eltern bloßstellen will.

Früher konnte man sich darauf verlassen, dass in einer neuen Klasse in vier Wochen alle Grundregeln eingeführt waren. Dann war guter Unterricht möglich. Aber das funktioniert heute oft nicht mehr.

 

Es ist diese extreme Heterogenität, die vernünftiges Unterrichten heute oft so schwierig macht. Vor allem die Lehrer der ersten Klassen sind wirklich verzweifelt. Früher konnte man sich darauf verlassen, dass in einer neuen Klasse in vier Wochen alle Grundregeln eingeführt waren. Dann war guter Unterricht möglich. Aber das funktioniert heute oft nicht mehr.

Manche Kinder sind nicht einmal mehr daran interessiert, dass ihre Lehrer sie mögen. Nicht weil sie garstig oder dumm sind, sondern weil sie von klein auf daran gewöhnt wurden, dass sie und ihre Interessen immer im Mittelpunkt stehen und sie immer tun können, wonach ihnen ist.

Petra Hänny fordert eine “Vorschulpflicht ab vier Jahren für alle Kinder”

Auch diese Jungen und Mädchen müssen wieder lernen, das zu tun, was von ihnen erwartet wird. Sie müssen verstehen, dass sie “nur” ein Teil ihrer Lerngruppe sind. Anweisungen zu folgen, ist dabei eine Schlüsselkompetenz, auch wenn Regeln befolgen oft keinen Spaß macht. Wenn jedes Kind nur tut, was es will, ist erfolgreicher Unterricht mit 24 oder mehr Kindern einfach nicht machbar.

Frontalunterricht, wie man ihn kennt, ist inzwischen zu Unrecht verpönt. Die Wahrheit ist nämlich, dass bei offenen Unterrichtsformen vor allem die schwachen Kinder schnell unter die Räder kommen. Kinder brauchen Anleitung und Sicherheit. Sie müssen wissen, was wir von ihnen verlangen. Anzunehmen, jedes Kind würde ab der ersten Klasse seine Bildung eigenverantwortlich steuern können, ist weltfremd.

Um Sprachdefizite auszugleichen und damit Heterogenität abzubauen, planen die Bundesländer eine Sprachprüfung für Kinder im Alter von viereinhalb Jahren. Mancherorts gibt es sie schon heute. Das ist an sich ein gutes Vorhaben. Mir stellt sich allerdings die Frage der Umsetzung. Eltern, deren Kinder einen Sprachförderbedarf haben, schicken ihr Kind oft nicht in eine Kita. Ob dann eine bloße Aufforderung für einen regelmäßigen Kitabesuch reicht, wage ich zu bezweifeln.

Bildungsfenster werden kleiner

Ich spreche mich daher, nach Schweizer Vorbild in den meisten Kantonen, für eine Vorschulpflicht ab vier Jahren für alle Kinder aus. Dann hätten wir die Jungen und Mädchen früher im Blick und könnten sie auch früher fördern. Es gibt Bildungsfenster, die werden irgendwann kleiner und sind dann schwer wieder zu öffnen. Das gilt nicht nur für die Sprache, sondern auch für die Bewegung. Es gibt Kinder, die bis zur Grundschulzeit im Buggy herumgefahren werden! Frühere Förderung der Grobmotorik wäre wichtig für sie.

Wenn in der Schule bei einem Kind ein Förderbedarf diagnostiziert wird und ein individueller Förderplan erstellt werden muss, ist das mit umfangreichsten Dokumentationspflichten verbunden. Das frisst unendlich viel Zeit – Zeit, die dann leider für die Arbeit mit dem Kind fehlt. Und oftmals lässt auch die Mitarbeit der Eltern sehr zu wünschen übrig. Viele erscheinen einfach nicht zu den vereinbarten Terminen in der Schule und müssen immer wieder angeschrieben werden. Das ist inakzeptabel.

Wir haben in Deutschland kein Problem damit, fürs Falschparken Strafzettel zu verteilen. Warum verteilen wir nicht auch Knöllchen für die Verweigerung der Eltern-Mitarbeit und wiederholt verpasste Termine? Eltern haben laut Grundgesetz eine Erziehungspflicht, und wir sollten diese konsequenter einfordern!

Inklusion und ihre fatalen Folgen

Im Zuge der Inklusion werden in der Grundschule alle Kinder in derselben Klasse beschult. Das tut weder den Leistungsstarken durchgehend gut noch den Leistungsschwachen. Ein Kind mit Lernschwierigkeiten ist in einer guten Förderschule mit einem hervorragenden Personalschlüssel oft besser aufgehoben, weil es dort täglich Erfolgserlebnisse hat und Selbstbewusstsein tankt, anstatt jeden Tag zu erfahren, dass andere mehr können als es selbst. Wer behauptet, leistungsschwache Kinder würden das nicht merken, nimmt diese Jungen und Mädchen nicht ernst genug.

Um diese Kinder nicht mit schlechten Noten zu traktieren, gehen viele Kollegen in letzter Konsequenz mit ihren Anforderungen herunter. Die Pisa-Studie und Vera, also die Vergleichsarbeiten in der Grundschule, führen uns das regelmäßig vor Augen.”

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Ein Kommentar

  1. Passend dazu schrieb Hermann Giesecke schon vor über 20 Jahren:

    “Gerade die Grundschule ist – von der Öffentlichkeit kaum bemerkt, weil sie ihr
    ohnehin nicht interessant genug erschien – zum Versuchslabor für alle möglichen, meist unausgereiften pädagogischen Ideen geworden; immerhin stellt sie die einzig flächendeckende und konkurrenzlose Gesamtschule dar. Alles soll dort „spielerisch“ sein, systematischer Unterricht gilt ebenso als kinderfeindlich wie das Erteilen von Zensuren – vom Sitzenbleiben ganz zu schweigen. Alles zusammen deutet darauf hin, dass Anstrengung und Leistung in der Grundschulkultur keine zentralen Werte darstellen. Klassische Lerntechniken wie Einmaleins, Auswendiglernen von Gedichten, Vorlesen von Texten und vor allem ständiges Üben des Gelernten sind weitgehend verloren gegangen. Hausaufgaben könnten die familiär benachteiligten Schüler
    diskriminieren. Wie soll eine solche seit Jahren gefestigte und unangefochtene pädagogische Grundeinstellung kurzfristig geändert werden – mit demselben Personal, denselben Ausbildern und Fortbildnern?”

    Sein sehr empfehlenswerter Artikel von 2003 könnte auch dieser Tage geschrieben worden sein, er enthält auch einen Abschnitt mit der Überschrift “Pädagogische Gesinnungsorientierung”, hier steht er auf S. 106 ff.:

    https://www.pedocs.de/volltexte/2010/3037/pdf/Hansel_2003_Pisa_und_die_Folgen_D_A.pdf

    Demgegenüber ist es Mode geworden, alle im obigen Artikel genannten Probleme mit “alles eine Frage der Haltung” wegzudiskutieren, und Landesinstitute für Schulentwicklung erläutern die “inklusive Schulkultur” wie folgt:
    “Die Arbeitshilfe „Inklusive Schulkultur – Arbeitshilfe mit Reflexionsbögen und Impulsen für die schulische Praxis“ richtet sich gezielt an alle schulischen Akteure. Sie bietet konkrete Unterstützungsmaterialien und Anregungen für Schulentwicklungsprozesse an, die es im Kontext der Neuausrichtung der Inklusion und durch die Arbeit in Multiprofessionellen Teams fortlaufend zu gestalten gilt.”

    Und an der TU Dortmund gibt es schon seit 50 Jahren ein “Institut für Schulentwicklungsforschung” mit inzwischen 4 Professoren und ca. 40 wissenschaftlichen Mitarbeitern. Von den Professoren hat offenbar niemand je an einer Schule selbst unterrichtet, eine Akad. Rätin und Vertretungs-professorin hat aber ein Referendariat abgeschlossen.

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