Anregungen eines Praktikers

Die öffentliche Schule muss besser werden – Anregungen eines Praktikers

Die Schweizer Volksschule ist zum Gegenstand heftiger Debatten geworden, mittlerweile auch unter Beteiligung der politischen Parteien. Für die Lösung der Probleme ist das wenig hilfreich. Da bringt ein Blick ins Schulhaus mehr, schreibt Condorcet-Autor Andreas Aebi in einem Gastkommentar in der NZZ.

«Unsere Volksschule befindet sich im Niedergang», behauptet der Nationalrat Benjamin Fischer im neuen SVP-Bildungspapier und fordert Spezialklassen für fremdsprachige Kinder. Mittlerweile ist das eine einstudierte Freistossvariante des bürgerlichen Sturmduos auf die Leistungsschwäche der Schule, und der linke Torhüter faustet den Ball standardmässig zurück ins Spiel: «Die Integration von Kindern mit Migrationshintergrund oder mit Beeinträchtigung ist ein Verfassungsauftrag.» «Wir brauchen also mehr Fachkräfte», schreit der Goalie und meint damit: Heilpädagogen.

Res Aebi, Französischlehrer, Schulleiter, Fussballtrainer und Buchautor: Im Schreiben ist der Absturz noch viel krasser

Dummerweise weiss niemand im Land, ob die Volksschule tatsächlich krank ist. Zwar gibt es Leistungstests wie Pisa und ÜGK (Überprüfung des Erreichens der Grundkompetenzen), aber diese decken höchstens 30 Prozent des Fächerkanons ab und liefern zur Primarstufe praktisch keine Erkenntnisse. Darum sind auch kantonale Vergleiche zur Wirksamkeit der eingesetzten Mittel und Menschen ein Ding der Unmöglichkeit. «Wir verfügen überhaupt nicht über die Daten, die uns irgendeine Aussage zur Effizienz erlauben würden», gestand Stefan C. Wolter, der Hauptverfasser des letzten Schweizer Bildungsberichts, vor einem Jahr in einem Fachgespräch.

Zwar hat die Schweiz gemäss der letzten Pisa-Erhebung in Mathematik, Lesen und in den Naturwissenschaften ihre Position in der OECD-Rangliste verbessert. Der Bundesrat musste diese Aussage aber relativieren; die Konkurrenz war leistungsmässig geradezu abgesackt. Und: Wir haben eine Leiche in unserem Pisa-Keller. Seit 2015 ist der Anteil der 15-Jährigen, die höchstens einen ganz einfachen Text verstehen, von 20 Prozent auf 25 Prozent gestiegen. Es gibt also immer mehr leseschwache Schüler und Schülerinnen im Land.

Von 1986 bis 2024 habe ich an Sekundarschulen auf dem Land Deutsch unterrichtet. Meine Beobachtung: Im Schreiben ist der Absturz noch viel krasser, nur misst das keiner. Rechtschreibung und Zeichensetzung sind unterirdisch. Punkto Wortschatz und Satzbau stehen die Siebtklässler heute auf dem Entwicklungsstand der Fünftklässler von 1990. Weil ihnen grammatische Kenntnisse fehlen, veranstalten sie ein Zeitenwirrwarr und verwechseln Täter (Nominativ) und Opfer (Akkusativ). Ihre Satzanfänge haben dasselbe Muster, und jeder dritte Satz verdunstet wie das Rinnsal in der Sahara. Meine Bilanz: Viele junge Menschen sind nicht mehr in der Lage, sich verständlich auszudrücken.

Es braucht Gegenmassnahmen zur Verzettelung und Vereinzelung, die der Konzentration und dem Klassenleben so abträglich sind.

Der Niedergang hat mit der gesellschaftlichen und der technischen Entwicklung zu tun. Ausdauer und Aufmerksamkeit nehmen umgekehrt proportional zur Bildschirmzeit ab – und zwar nicht nur bei den Kindern, sondern auch bei ihren Eltern. Auch wir wenden uns lieber den Geräten zu als unseren Freunden.

Es braucht Gegenmassnahmen zur Verzettelung und Vereinzelung, die der Konzentration und dem Klassenleben so abträglich sind. Ich hätte da schon ein Rezept zur Hand. Zu den Grundzutaten gehörte ein ausgewogener Mix von Frontalunterricht, kooperativem Lernen, Projektunterricht und entdeckendem Lernen. Und für alle Methoden gilt: Die Kinder sollen die Dinge tatsächlich tun, denn nur was sie selber durchdenken, ausführen, vollbringen, hat einen nachhaltigen Lerneffekt.

Vergessen wir darum dieses selbstorganisierte Lernen, wo jeder Jugendliche macht, was ihn umtreibt, und die Lehrperson weder Zeit noch Lust hat, das Treiben zu reflektieren.

Aber dazu braucht es das Feedback (um nicht zu sagen: die Korrektur) der Lehrpersonen. Vergessen wir darum dieses selbstorganisierte Lernen, wo jeder Jugendliche macht, was ihn umtreibt, und die Lehrperson weder Zeit noch Lust hat, das Treiben zu reflektieren. Weg von der Sprunghaftigkeit hin zur Vertiefung. Leistung verbindlich einfordern. Es nützt also nichts, einfach mehr zu üben; wir müssen auch den Willen, das Wissen, die Zeit und die Ressourcen für die Begleitung haben.

Und damit landen wir doch noch bei der Bildungspolitik, denn es gäbe durchaus Richtungsentscheide, die dafür sorgen könnten, dass unser Unterricht verbindlicher wird – und wirkungsvoll:

  • Frühfranzösisch und Frühenglisch entsorgen (die schwächeren Kinder sind damit überfordert, es ist eine Zeitverschwendung).
  • Das Langzeitgymnasium abschaffen und die Berufswahl stärken (auch das Gymnasium soll Resultat einer fundierten Laufbahnabklärung sein, Zwölfjährige können diesen Entscheid nicht fällen).
  • Den Lehrplan 21 kürzen (die Bereiche Deutsch, Natur-Mensch-Gesellschaft und Mathematik sind überladen. Lieber weniger Kompetenzen erwerben, dafür die wichtigen – und diese richtig).
  • Handy weg aus allen Schweizer Schulen.

Mit Parteibüchern haben diese Entscheide wenig zu tun. Aber sie brauchen Mut.

 

Andreas Aebi war Sekundarlehrer und Schulleiter in Langnau im Emmental und in Spiez. Im Sommer 2024 wurde er pensioniert. Zurzeit arbeitet er an einem Buch mit dem Arbeitstitel «Plädoyer für eine starke Volksschule». Dieser Artikel erschien zuerst in der NZZ.

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Prof. Dr. Klaus Zierer, Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg, gilt im deutschsprachigen Raum als der führende Hattie-Experte. Zudem bringt er sich regelmässig in bildungspolitische Debatten ein und gilt als einer der einflussreichsten Schulpädagogen in Deutschland. In diesem Vortrag fordert er eine bildungsphilosophischen Fundierung des Diskurses und deren Absicherung durch Ergebnisse der empirischen Bildungsforschung. Er räumt auch mit vielen Mythen in der gegenwärtigen Bildungsdebatte auf, die namentlich von PH-Kreisen munter kolportiert werden.

2 Kommentare

  1. Vielen Dank, Res Aebi, für dieses selbstbewusste Eintreten eines Praktikers für eine bessere Volksschule! Ich hoffe, dein glasklarer Beitrag wird auch von den Lehrerverbänden und einer neuen Generation von Bildungspolitikern als Impuls zum Handeln verstanden.

    Wie steht es um die Qualität der Volksschule? Trotz all der Reformen spricht nichts dafür, dass die Volksschule zu einem Höhenflug angesetzt hat. Die schwachen Deutschkenntnisse unserer Schulabgänger, dürftige Resultate beim Frühfranzösisch und durch forciertes Integrieren belastete Schulklassen müssten längst die Bildungspolitik aufgeschreckt haben. Doch die Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz EDK beschwichtigt und spielt auf Zeit. Die bei der Einführung der Reformen versprochenen umfangreichen Evaluationen sind nur zu einem Teil durchgeführt und möglichst unauffällig schubladisiert worden. So tappt man im Dunkeln über die Auswirkungen des Mehrsprachenkonzepts der Primarschule. Ans Evaluieren fragwürdiger didaktischer Konzepte wie dem selbstorganisierten Lernen wagt man sich schon gar nicht heran.

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    1. Ein wichtiger Aspekt wäre noch: Sammelfächer wieder durch strukturierte Fächer ersetzen.
      Physik, Chemio, Bio, Geo statt NMM.
      Der Lehrplan in NMM ist vermutlich nicht mal überladen, aber ein solches Sammelsurium zu unterrichten ist für eine Person schlicht Nicht Mehr Möglich. Die Wichtigkeit des Fachwissens und die Begeisterung dafür wird heute leider unterschätzt.

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