Die Reformkaskade der vergangenen Jahre hat die Volksschule verändert. Der Umbau über den Innovationsdruck war rasant; doch bedeutende Baustellen bleiben offen. Dazu zählt die Integration mit ihren Kollateralfolgen, dazu gehört die notorische Leseschwäche vieler Jugendlicher ebenso wie das Fach Frühfranzösisch mit seinen ungenügenden Wirkeffekten. In einem Interview mit der NZZ am Sonntag nimmt die Präsidentin der Eidgenössischen Erziehungsdirektorenkonferenz EDK, die Zürcher Regierungsrätin Silvia Steiner, Stellung. [1]
Ohne jeden Bezug zu den Erkenntnissen der Lern- und Leseforschung
Die Antworten der obersten Schweizer Bildungsverantwortlichen unseres Landes klingen in vielem vage, an manchen Stellen gar unpräzis. Befragt nach den ungenügenden Resultaten im Fach Frühfranzösisch beim Übertritt in die Sekundarstufe, meint sie salopp: “Die nachfolgenden Schulen klagen häufig, die Schülerinnen und Schüler könnten zu wenig. Das ist nichts Neues.” Dass viele Primarschulkinder mit dem Erlernen der Standardsprache und zwei frühen Fremdsprachen heillos überfordert sind, negiert Silvia Steiner; über die Stimmen aus der Praxis mokiert sie sich.
Dabei weisen verschiedene Studien nach, wie wenig der frühe Fremdsprachenunterricht vor allem im Fach Französisch bewirkt. Um die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Lern- und Leseforschung kümmert sich Silvia Steiner kaum. Spät Beginnende lernen unter schulischen Bedingungen schneller und besser. Das bestätigt beispielsweise die Langzeitstudie “Beyond Age Effects” der Zürcher Linguistin Simone Pfenninger. [2] Für einen gutes frühes Fremdsprachenlernen bräuchte es überdies etwa 50% Immersionsunterricht – also rund die Hälfte der Lektionen in der Zielsprache. Das ist in der Volksschule schlicht illusorisch.
Stures Vokabellernen ist längst passé
Steiners Satz zum Frühfranzösisch hat es in sich: “Es geht nicht mehr darum, stur Vokabeln zu lernen, sondern vielmehr darum, ein Gespür für die Sprache zu entwickeln oder zu beurteilen, ob etwas richtig oder falsch ist, was mir ein Computerprogramm übersetzt.” Diese Aussage ist aus zweierlei Gründen bemerkenswert: Kein vernünftiger Sprachunterricht lässt Vokabeln noch als isolierte Elemente stur büffeln. Da karikiert Steiner etwas, das in dieser Form gar nicht mehr existiert! Wirksames Vokabellernen erfolgt in einem Kontext. Und das seit Langem.
Etwas beurteilen als anspruchsvolles Lernziel
Steiners Vorstellung, dass Volksschulkinder beurteilen können, ob im Französisch “etwas richtig oder falsch ist, was mir ein Computerprogramm [KI] übersetzt”, widerspricht den Prinzipien der Lernpsychologie. So etwas geht nicht ohne Basics. Beurteilen setzt solides Grundlagenwissen voraus. Wie kann ich etwas einschätzen, wenn ich die französischen Wörter nicht kenne und damit das Übersetzte nicht verstehe? Wer nur eine minime Ahnung von der BLOOM’schen Texonomie [3] hat, kommt nie auf eine solche Aussage. Beurteilen ist in den Bildungsprozessen das höchste Ziel. Diese Fähigkeit muss systematisch und konsequent erarbeitet werden. Die BLOOM’sche Taxonomie zeigt, dass anspruchsvolle kognitive Prozesse wie Beurteilen auf Wissen und Verstehen sowie Analysieren aufbauen.
So etwas geht nicht ohne Basics. Beurteilen setzt solides Grundlagenwissen voraus. Wie kann ich etwas einschätzen, wenn ich die französischen Wörter nicht kenne und damit das Übersetzte nicht verstehe?
Wer eine solche Aussage liest, fragt sich sofort: Wäre es nicht essenziell, dass die schweizerische Bildungspolitik auf fundierten Erkenntnissen der Unterrichts- und Lernforschung basiert und sich nicht von praxisfernen Visionen tragen lässt, wie sie Silvia Steiner formuliert?
Verstehendes Lesen
Kein Wort verliert die Zürcher Bildungsdirektorin darüber, dass verstehendes Lesen ein elementares Bildungsziel ist und dass es hier nicht zum Besten steht. Viele Kinder verstehen die gelesenen Texte nicht. Ein überfrachteter Lehrplan erschwert diesen grundlegenden Bildungsauftrag. Dabei gehört die Kulturtechnik des Lesens und Verstehens zu den Kernkompetenzen eines jeden. Sie bleiben der Schlüssel für nahezu alle weiteren Lernprozesse und für die Teilhabe an der Welt – und an unserer Demokratie. Das verstehende Lesen bildet die Grundlage. Dass Silvia Steiner dies negiert, stimmt nachdenklich.
Der Leser bleibt ratlos zurück
Wer die Schweizer PISA-Resultate betrachtet, ist ernüchtert: Ein Fünftel aller Schweizer Schüler erreicht am Ende der obligatorischen Schulzeit in Mathematik und Naturwissenschaften die Minimalanforderungen nicht, beim Lesen gar ein Viertel. Eine OECD-Analyse, die sogenannte PISA-Studie für Erwachsene [4], zeigt überdies: 1,7 Millionen Schweizer können kaum lesen und rechnen. [5] Davon hören wir im Interview kein Wort. Silvia Steiner weicht diesen Fragen aus. Die Präsidentin der EDK und oberste Bildungsverantwortliche der Schweiz lässt die Leserin, den Leser ratlos zurück.
[1] René Donzé, «Es geht nicht mehr darum, Vokabeln zu lernen». Interview mit Silvia Steiner, in: NZZaS, 22.12.2024, S. 11f.; https://www.nzz.ch/schweiz/die-oberste-bildungsdirektorin-ueber-die-corona-krise-ich-habe-immer-wieder-beim-bundesrat-interveniert-ld.1863072 [abgerufen: 26.12.2024]
[2] Vgl. https://www.tagesanzeiger.ch/im-kreuzfeuer-des-sprachenstreits-617604925326 [abgerufen: 26.12.2024]
[3] Vgl. https://paeda-logics.ch/wp-content/uploads/2020/01/Taxonomiestufen_Bloom.pdf [abgerufen: 26.12.2024]
[4] Die OECD-Studie nennt sich PIAAC: Programme for the International Assessment of Adult Competencies.
[5] Vgl. Sebastian Briellmann, Der überforderte Bürger, in: NZZ, 11.12.2024, S. 8.; Heike Schmoll, Einfachste Texte werden zum Problem, in: FAZ, 11.12.2024, S. 8.