15. Januar 2025
KI in der Schule

Die Faszination der Erleichterung

Condorcet-Autorin Christine Staehelin warnt vor den teilweise erschütternden Konklusionen, welche Bildungspolitiker von sich geben, wenn sie über die Bedeutung der KI für die Schule sprechen. Und sie fragt sich, wie die sinn-, leidenschafts-, anstrengungs- und belastungsbefreite Schule wohl einst aussehen mag.

“Wir können nicht ständig nach Digitalisierung schreien […] und dann verlangen, dass die Kinder genau wissen, wie man jedes Wort richtig schreibt”, meint die Zürcher Regierungsrätin Silvia Steiner, Präsidentin der EDK, im Interview mit der NZZ [1] und führt weiter aus: “Es geht nicht mehr darum, stur Vokabeln zu lernen, sondern vielmehr darum, ein Gespür für die Sprache zu entwickeln oder zu beurteilen, ob etwas richtig oder falsch ist, was mir ein Computerprogramm übersetzt.”

Condorcet-Autorin Christine Staehelin

Rechtschreibregeln und französische Vokabeln zu kennen, bedeutet, sich etwas anzueignen und damit zu eigen zu machen. Das Aussen wird ein Teil des Innen. Nun könnte man natürlich anmerken, dass dies für den Einzelnen mehr oder weniger bedeutsam sein kann und dass die persönlichen Interessen vielleicht nicht gerade bei den französischen Vokabeln und bei der Rechtschreibung liegen mögen. Doch beide Inhalte haben unmittelbar etwas mit den anderen zu tun, nämlich mit der Möglichkeit, sich zu verständigen und sich zu verstehen. Die Rechtschreibung schafft jene Ordnung, die es uns ermöglicht, uns nicht in erster Linie mit dem Entziffern von Texten zu beschäftigen, sondern mit deren Inhalt. Und die Kenntnisse anderer Sprachen ermöglichen es uns, uns unmittelbar mit anderen zu verständigen, ohne dabei auf ein Übersetzungsprogramm angewiesen zu sein.

Das Mühselige umschiffen

Die Faszination der Erleichterung – was auch immer damit gemeint sein mag – des eigenen Lernens und Lebens, die Begeisterung für jene KI-Anwendungen, die uns vor Anstrengendem bewahren, zeigt sich auch in den Äusserungen von Léa Steinecker [2], Co-Autorin von “Alles überall auf einmal”, wenn sie erklärt, dass wir in Zukunft möglicherweise jeden Morgen als Erstes unsere Biomarker erheben können, die uns dann über unseren Gesundheitszustand informieren und uns erklären, welche Nahrungs- und Nahrungsergänzungsmittel und welche Getränke wir heute am besten zu uns nehmen sollten. Eine KI, die den Tag plant, die Agenda managt, Prioritäten setzt, Mails schreibt, unwichtige Meetings absagt und uns die Kommunikation mit unserem Haustier ermöglicht – ob wir nun hören wollen, was der Hamster zu sagen hat, oder nicht. Kurz: Die KI kümmert sich um uns, insbesondere um jene Belange unseres Lebens, die wir als mühselig erachten.

Die Rechtschreibung schafft jene Ordnung, die es uns ermöglicht, uns nicht in erster Linie mit dem Entziffern von Texten zu beschäftigen, sondern mit deren Inhalt. Und die Kenntnisse anderer Sprachen ermöglichen es uns, uns unmittelbar mit anderen zu verständigen, ohne dabei auf ein Übersetzungsprogramm angewiesen zu sein.

 

Die Äusserungen über den überflüssigen Aufwand, Vokabeln und Rechtschreibregeln zu lernen, einerseits, und die künftigen Möglichkeiten, welche die KI hat, um uns im Alltag von als mühselig empfundenen Aufgaben und Entscheidungen zu entlasten, andererseits, mögen auf den ersten Blick keinen grundlegenden Zusammenhang aufweisen. Doch was sie m.E. verbindet, ist die Tatsache, dass der Mensch offenbar nach Entlastung strebt, nach Befreiung von der Mühseligkeit des täglichen Daseins in einer Welt, die uns als zu komplex, zu anspruchsvoll und zu widersprüchlich erscheint; von der Anstrengung des Lernens und Verstehens des bis dahin Unverständlichen; von den Ansprüchen der körperlichen Existenz und den damit einhergehenden Beschwerden, um die wir uns auch noch kümmern müssen, und von der ungewollten Beanspruchung durch andere und deren Perspektiven, die unsere eigene Meinung und Auslegung womöglich nur irritieren wollen.

Die grosse Entscheidungsabnehmerin

Oder wie anders liesse sich die Euphorie erklären, welche den heutigen und zukünftigen Möglichkeiten der KI entgegengebracht wird? Welche utopischen Zustände werden denn angestrebt? Wie sollen diese aussehen, darf man da fragen. Bräuchte es folglich eine einzige Superintelligenz, die für uns alle gleichmässig berechnet, wie ein angenehmes und sinnvolles Leben für uns alle aussehen muss? Die uns alle Entscheidungen abnimmt, damit wir uns weder um uns selbst noch um die anderen noch um die Welt kümmern müssen?

Jede Utopie klammert das Widersprüchliche aus. Selbst dann, wenn wir uns nicht einmal vergegenwärtigen, welche es denn angesichts der Möglichkeiten der KI und all ihrer möglichen dystopischen Auswirkungen überhaupt sein soll. Eine Utopie gibt vor, eine ideale Welt für alle schaffen zu können, entscheidet damit aber auch, was wahr, richtig und gut für alle ist. Aber: Die Auswirkungen der Berechnungen einer Superintelligenz für ein angenehmes Leben ohne Anstrengung und Widerstände, ohne Angst und Sorge für jeden Einzelnen und für alle aufgrund ihrer Alleinherrschaft hätten möglicherweise fatale Folgen, die wir uns gar nicht vorstellen können. Denn wir zahlen dafür grundsätzlich den Preis der Freiheit und damit der Mündigkeit und der Pluralität – gemäss Hannah Arendt die Tatsache, dass wir zwar alle Menschen sind, aber kein Mensch je einem anderen gleicht –, denn alles wäre schon entschieden.

Künstliche Intelligenz als Heilmittel für den Menschen, der offenbar nach Entlastung strebt, nach Befreiung von der Mühseligkeit des täglichen Daseins in einer Welt, die uns als zu komplex, zu anspruchsvoll und zu widersprüchlich erscheint?

Sind die Ausführungen überrissen? Müssen sie ins Reich der Fantasie abgeschoben werden? Sie stellen den Versuch dar, die denkbaren Auswirkungen der durchaus wahrnehmbaren Begeisterung für die Möglichkeiten der KI zugunsten einer Entlastung der Menschheit – zumindest jenes Teils, der sie aus persönlicher Einschätzung heraus als gewinnbringend nutzen kann und möglicherweise auf Kosten aller anderen – von allem Beschwerlichen aufzuzeigen.

Die Faszination für die Abgabe der Freiheit

Es besteht eine Faszination für die freiwillige Abgabe der eigenen Entscheidung und für die unaufgeforderte Unterordnung, für die Berechenbarkeit der eigenen Bedürfnisse und jener der anderen, für die Abgabe der Freiheit und damit auch der Verantwortung an eine anorganische, selbstlernende und damit unberechenbare und möglicherweise höchst manipulative, jedenfalls der Wahrheit und dem Guten nicht zugänglichen Instanz, die tatsächlich vorhanden, aber dennoch nur schwerlich nachvollziehbar ist. Damit trauen wir letztlich Maschinen zu – entgegengesetzt zu ihren tatsächlichen Möglichkeiten – bessere Entscheidungen zu fällen, als dies uns Menschen möglich ist.

Öffentlich Gesagtes wie jenes von Silvia Steiner und Léa Steinacker impliziert auch ein Bild vom menschlichen Dasein. Und trägt damit auch die grossen Fragen mit sich nach dem Sinn des Lebens und der eigenen Existenz, nach dem Guten und dem Richtigen, nach der Wahrheit, der Freiheit und der Gerechtigkeit, nach der Gestaltung unserer geteilten Welt und insbesondere auch nach der Bedeutung der Leiblichkeit angesichts jener anorganischen Existenz der KI, welche uns gegenübergestellt, teilweise gleichgestellt und manchmal sogar als überlegen dargestellt wird.

Was sollen menschliche Wesen tun, wenn die KI als anorganische Entität ihre Tätigkeiten übernimmt? Wenn Roboter für das Arbeiten und Herstellen zuständig werden? Wenn Algorithmen entscheiden und der KI möglicherweise längerfristig gar die Möglichkeit des Denkens und des Bewusstseins zugestanden wird?

 

Es ist interessant, sich vorzustellen, dass die KI uns vom Arbeiten, Herstellen, Handeln – jenen drei von Hannah Arendt beschriebenen Grundtätigkeiten des Menschen – und vom Denken entlasten könnte, und ein Teil der Faszination für diese liegt möglicherweise genau darin. Neben der schon oben erwähnten grundsätzlichen Frage, warum diese Entlastung als erstrebenswert angesehen wird, stellt sich eine weitere: Was sollen menschliche Wesen tun, wenn die KI als anorganische Entität ihre Tätigkeiten übernimmt? Wenn Roboter für das Arbeiten und Herstellen zuständig werden? Wenn Algorithmen entscheiden und der KI möglicherweise längerfristig gar die Möglichkeit des Denkens und des Bewusstseins zugestanden wird?

Arbeiten, Herstellen, Handeln: die von der Philosophin und Schriftstellerin Hannah Arendt beschriebenen Grundtätigkeiten des Menschen – soll uns die KI davon befreien können?

Welche Bedeutung haben diese Ausführungen nun in Bezug auf die Bildung, insbesondere auf die schulische Bildung? Alle Tätigkeiten des Menschen und auch das Denken verwirklichen sich letztlich mittels seiner Leiblichkeit. Das Wissen, die Fähigkeiten, die Entscheidungen, die Empfindungen, das Glück, das Leid u.v.m. realisieren sich im konkreten Dasein des einzelnen Wesens, indem sie es durchdringen, und haben immer etwas zu tun mit seinem Bezug zur Welt und zu den anderen.

Diese Bezüge werden in einem Klassenzimmer geschaffen. Das ist m.E. auch der Sinn der Schule. Die Vermittlung von Kultur, Tradition und Wissen ist kein Abstraktum, sondern erfährt ihren Sinn dadurch, dass Lehrerinnen und Lehrer, welche diese selbst verinnerlicht haben und leidenschaftlich dafür einstehen, es als sinnvoll erachten, diese weiterzugeben. Dass dies im Kollektiv geschieht, dass hier ganz unterschiedliche junge Menschen aufeinandertreffen, die sich nicht ausgesucht haben, erfährt seinen Sinn dadurch, dass wir die Unterschiede erfahren und gleichzeitig lernen, wie wir mit dieser Unterschiedlichkeit umgehen, dass wir erkennen, was uns verbindet und was uns trennt.

Die Sinnfrage und das menschliche Gegenüber

Dieses Lernen, dieses Aneignen von Welt, dieses Herstellen von Verbindung zu anderen, kann als anstrengend, leidvoll oder beglückend erlebt werden, es steht jedenfalls immer in Verbindung zu unserer Leiblichkeit. Warum ist das wichtig? Weil kein adaptives Lernprogramm, keine automatisierte Bewertung, keine interaktiven Lernmaterialien, keine Übersetzungsprogramme, keine Lernanalyse und kein KI-generiertes Feedback die Sinnfrage in sich trägt und weil sie keine menschlichen Gegenüber ersetzen können, die ermutigen, nachfragen, Bedeutung vermitteln und Erwartungen formulieren; die davon überzeugt sind, dass es sinnvoll ist, Weltzugänge und Zugänge zu den anderen zu schaffen.

Diese Formen der Verinnerlichung sind immer mit Anstrengung verbunden, das Verstehen ist quasi die Belohnung dafür und eröffnet wiederum neue Zugänge. Darum ist es so fragwürdig, wenn im Zusammenhang mit den Möglichkeiten der KI im Allgemeinen, aber insbesondere auch im schulischen Bereich, die Entlastungsmöglichkeiten für den Menschen als erstrebenswert erachtet werden – die Befreiung von dieser Mühsal des Lernens und Verstehens, aber auch des Vermittelns und Beurteilens. Es bleibt die Frage, wie die sinn-, leidenschafts-, anstrengungs- und belastungsbefreite Schule aussehen wird, was wir damit der künftigen Generation zumuten und wie die Schule dann noch ihre Existenzberechtigung legitimiert.

 

[1] https://www.nzz.ch/schweiz/die-oberste-bildungsdirektorin-ueber-die-corona-krise-ich-habe-immer-wieder-beim-bundesrat-interveniert-ld.1863072

[2] https://www.srf.ch/play/tv/sternstunde-philosophie/video/zukunft-mit-ki—was-bleibt-vom-menschsein-uebrig?urn=urn:srf:video:f24d3435-3aba-4f80-84c1-9637f1a49926

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