Es ging schon durch die Presse, der Spiegel beschrieb das große Ereignis vor wenigen Tagen:
Drei Schulministerinnen kündigen in einem Zehn-Jahres-Plan an, dass alles besser werden soll:
— Weniger Schulabbrecher,
— weniger Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und den “Kompetenzen”, die gemessen werden,
— weniger Schulkinder, die die sog. Mindeststandards nicht erreichen,
— dafür mehr Schulkinder, die die Regel- bzw. Optimalstandards erreichen. Alles mit genauen Prozentangaben.
Da steht was von “guter und gerechter Bildung ohne Ideologie und Parteipolitik”. Und das in Zeiten, in denen man in der Kultusministerkonferenz von den A-Ländern und den B-Ländern sprach, je nachdem diese unions- oder SPD-regiert waren, sogar mit eigenen Sprechern für A und für B.
Wie sehen denn die Details aus?
Als schriftliches Dokument für diese Art von “Regierungserklärung” wird immer nur dies hier genannt, von der Wübben-Stiftung:
https://www.wuebben-stiftung-bildung.org/publikation-bessere-bildung-2035/
Sind solche unternehmensnahen Stiftungen neuerdings als Verfassungsorgane vorgesehen? Es sieht doch eher so aus, als ob diese Stiftungen (vereint im “Forum Bildung Digitalisierung”) von sich aus die Politik bedrängen würden, das zu tun, was sie wollen (mehr “Big Data”).
Weniger Schulabbrecher und mehr Kompetenzen, das können natürlich alle für richtig halten, da wird es keinen Streit geben. Frau Schopper weiß sogar, wie das gehen könnte, und formuliert auf Seite 100 ihre Idealvorstellung, die — wie könnte es anders sein — auf PISA beruht:
“Wenn wir unsere Schullandschaft am Reißbrett ganz neu entwerfen könnten, würden wir das Beste aus allen Ländern zusammenschnüren und wissenschaftsbasiert eine ideale Schullandschaft bauen. Mit einer flächendeckenden, qualitativ hochwertigen und inklusiven Ganztagsschule, orientiert an erfolgreichen Bildungssystemen wie den PISA
Spitzenreitern: mit längerem gemeinsamen Lernen im eigenen Tempo für alle Kinder, verbunden mit einer passgenauen individuellen Förderung und bester Ausstattung in modernen Lernräumen.”
Das ist ja Mode geworden und wurde sogar von Herrn Schleicher praktiziert: Man pickt sich die Rosinen aus dem PISA-Test heraus, eine Kombination von Positiva aus diversen Ländern, und dann heißt es:
“Seht her, geht doch”. Immer wieder wird — auch von Frau Schopper — Singapur genannt, aber es wird verschwiegen, dass die Kinder dort nach einem 8-stündigen Schultag nochmal einen 6-stündigen privaten Nachhilfeunterricht zu besuchen pflegen. Andererseits wird Nachhilfeunterricht in Deutschland als “Versagen des Schulsystems” gewertet und entsprechend gebrandmarkt:
Übrigens antwortete der Spiegel nicht auf meine Anfrage, ob das bedeutet, dass auch die Schulsysteme von Singapur, Südkorea und Japan versagen (die PISA-Sieger).
“Trotz der Verfügbarkeit umfangreicher Bildungsdaten im deutschen Bildungsmonitoring besteht eine signifikante Herausforderung darin, diese Daten effektiv für eine adaptive Steuerung des Schulsystems zu nutzen.”
Aber irgendetwas scheint sich hinter der ganzen Sache noch zu verbergen.
Es ist nämlich seltsamerweise so, dass die Wübben-Stiftung das alles schon vor einem Jahr (Febr. 2024) beschrieben hat, nicht mit genauen Prozentsätzen im Zehn-Jahres-Plan, aber doch im Grundsatz:
https://www.wuebben-stiftung-bildung.org/bildungsgerechtigkeit-durch-daten-2/
Das betrifft vor allem den darin enthaltenen Aufsatz von Frau Prof. Sliwka, der die “Bildungsgerechtigkeit durch Daten” propagiert.
Einige Zitate daraus:
Unter der Überschrift “VOM BILDUNGSMONITORING ZUR DATENGESTÜTZTEN STEUERUNG UND PASSGENAUEN INTERVENTION” steht:
“Trotz der Verfügbarkeit umfangreicher Bildungsdaten im deutschen Bildungsmonitoring besteht eine signifikante Herausforderung darin, diese Daten effektiv für eine adaptive Steuerung des Schulsystems zu nutzen. Die bisherige Zurückhaltung bei der strategischen Nutzung von Bildungsmonitoring-Daten in Deutschland kann auf verschiedene Faktoren zurückgeführt werden.”
Genau das, nämlich “Big Data” zur Steuerung des Schulsystems zu nutzen, wird von den drei Ministerinnen auch postuliert.
Die neue Bildungsplanwirtschaft
Gleich daneben steht:
“Ein entscheidender Aspekt dabei ist die hohe Regelmäßigkeit und Verbindlichkeit in den Arbeitsprozessen der Datennutzung. Sie manifestiert sich dadurch, dass klar definierte, messbare Ein- und Dreijahresziele auf den verschiedenen Ebenen des Schulsystems festgelegt werden. Es bedeutet auch, einmal festgelegte Ziele als konkrete verpflichtende Vorgaben zu betrachten, denn diese kurz- und mittelfristigen Ziele ermöglichen es, Fortschritte und Erfolge zu messen und adaptiv auf sich ändernde Bedingungen und Bedürfnisse zu reagieren.”
Also zunächst nur Ein- und Dreijahresziele, jetzt ist man schon bei einem Zehn-Jahres-Plan angekommen, den die drei Ministerinnen vorschlagen.
Eine Zwischenüberschrift lautet “ALBERTA/KANADA ALS FALLBEISPIEL ERFOLGREICHER DATENGESTÜTZTER SCHULSYSTEMENTWICKLUNG”, und in dem neuen Bericht zu den Absichten der drei Ministerinnen steht konsequenterweise ein Kapitel “Gemeinsame Verantwortung im Bildungswesen: der Ansatz der Provinz Alberta”.
Mit anderen Worten: Die Wübben-Stiftung hat vor einem Jahr das vorformuliert und publiziert, was die drei Ministerinnen jetzt als Absichtserklärung nennen. Der Kern ist in beiden Fällen ein Aufsatz von Prof. Sliwka, die offenbar neuerdings als schulpolitische Autorität gilt. Ihre Weisheiten zum “Deeper Learning” kann man hier bestaunen:
Zusammen mit Frau Prof. Klopsch hat sie ein Buch dazu geschrieben, und beide zeigen jetzt in einer gemeinsamen Publikation den drei Ministerinnen, wo es langgeht. Der Verlag bewirbt das Buch mit “Innovativer Unterricht für die 21st Century Skills”. Im Klartext: das große Blabla.
Phrasendrescher
Dazu ein Zitat aus der Leseprobe des Verlags:
“Im Sinne eines situierten Lernens geht es darum, neuartige Lernsettings zu schaffen, in denen die Wissensaneignung systematisch mit der Aneignung der 21st Century Skills verbunden wird. Nur eine zugleich ganzheitliche wie auch angemessen komplexe Lernumgebung bietet den Rahmen für alle Schritte der Kompetenzaneignung.”
Alles klar? Natürlich haben Minister das Recht, ihre Berater zu wählen. Aber sie sollten auf keinen Fall auf Phrasendrescher hereinfallen. Dazu braucht es vielleicht wieder andere Berater. Beide schreiben nun am Anfang des Vorschlags der drei Ministerinnen, mit welchen “Stellschrauben” das Schulsystem einer Transformation unterzogen werden soll. Die Begründung dafür ist nebulös und bemüht das Klischee der Jahrhunderte, ohne die derzeitige “Krise” auch nur zu erwähnen:
“Im Gegensatz dazu erfordert die Bildung dieses Jahrhunderts, die Menschen in ihrer Individualität sich so entwickeln zu lassen, dass sie ihr volles Potenzial entfalten.”
Was soll da nun so anders sein als vorher? Und dann heißt es: “Um Schulsysteme zu transformieren, ist es zunächst notwendig, dass sich alle Beteiligten an GEMEINSAMEN STRATEGISCHEN ZIELEN ausrichten.”
Wer aber soll diese Ziele bestimmen in einer zerstrittenen Gesellschaft, die von sehr divergierenden Interessen bestimmt wird, in der jetzt Neuwahlen immer häufiger werden? Man möchte hier den beiden Bildungswissenschaftlerinnen zurufen: “Verschonen Sie uns doch mit Postulaten für das Wolkenkuckucksheim!”
Noch ein Zitat von Seite 14:
“Das Humankapital im Schulsystem setzt sich einerseits aus formal erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten zusammen, umfasst andererseits aber auch Einstellungen und Haltungen. Um es für die Transformation eines Schulsystems zu nutzen, muss das Humankapital aller Beteiligten stets reflektiert und kontinuierlich professionalisiert werden.”
Vor meinem geistigen Auge entsteht schon ein neuer Master-Studiengang “Professionalisierung des Humankapitals”, wo es ganz wesentlich um die Festlegung von Einstellungen und Haltungen geht. Dessen Absolventen werden dann unser Schulsystem in die “richtige” Richtung transformieren, damit die unternehmensnahen Stiftungen zufrieden sind.
Die Bildungsjournalisten preisen in aller Regel das neue Konzept der drei Ministerinnen als große Chance:
https://www.jmwiarda.de/2025/01/20/neue-ambitionen-auf-dem-weg-zur-bildungsrepublik/
Man traut sich offenbar nicht mehr, die Phrasen für das Wolkenkuckucksheim auseinanderzunehmen, vermutlich weil das berufliche Nachteile bringen könnte.
Am Ende stehen ab Seite 137 die Vorschläge für die Zeit bis 2035. Die “Ziele” sind schon oft genug formuliert worden, nichts Neues.
Die “Indikatoren” betreffen nur die standardisierten Tests und die Kompetenzstufen. Die “Maßnahmen” sind:
— Qualität des Lernens durch entsprechenden Unterricht,
— Kultur der Evaluation, kohärente Datenstrategie,
— Änderung der rechtlichen Voraussetzungen,
— kooperative Schulkultur,
— Demokratiebildung.
Neu ist davon auch nichts außer den rechtlichen Voraussetzungen für “Big Data” in der “kohärenten Datenstrategie”. Genau das schildert Frau Sliwka in dem Artikel von 2024 in einer Weise, dass man Angst bekommen kann. So wie demnächst der digitale Patient als Liste von Laborwerten in einem zentralen Register stehen wird, so werden für den digitalen Schüler Listen von Kompetenzen und Defiziten geführt werden, und wer später darauf Zugriff hat, ist nicht klar. Darüber reden auch die unternehmensnahen Stiftungen niemals. Aber “Daten sind das Erdöl des 21. Jahrhunderts”, das weiß auch das IFO-Institut für Wirtschaftsforschung:
Fazit: Wir sind umgeben von Ansprüchen unternehmensnaher Stiftungen nach einer ihnen genehmen “Transformation”, von Forderungen an das Humankapital wie “Future Skills”, von “Digitalisierung”, von postulierten Kompetenzen in fünf Kompetenzstufen, von “Big Data” mit einer sich abzeichnenden Datenkrake im Schulbereich, alles geschmückt mit jeder Menge Phraseologie, aber von nur wenig kritischem Denken darüber, wie das alles zusammengehen kann. Es sei allen anempfohlen, diese Lücke zu füllen.
In diesem Sinne wünscht einen schönen Sonntag
Wolfgang Kühnel
Das Arbeiten mit quantitativen Zielsetzungen kann schnell schiefgehen. Wenn die derart Angespornten etwa beginnen, die Bilanzen zu frisieren – also etwa Standards abzusenken.
Eigentlich müssten sich alle Beteiligten – neben der Personalfrage – statt numerischer Zielvorgaben darauf konzentrieren, breitenwirksam die Basisdimensionen lernwirksamen Unterrichts zu professionalisieren (in SH geschieht dies bereits): effektive Klassenführung, hochgradige kognitive Aktivierung sowie lernförderliches Unterrichtsklima. Denn da ist vielerorts noch viel Luft nach oben.
Insbesondere sollten die Schulen sogenannt selbstgesteuerte/eigenverantwortliche Lernformen nur mit großem Bedacht einsetzen – bei Schülern, die davon wirklich profitieren.