26. September 2024
Die schulische Selektion

Schule ohne Selektion und Noten. Ist das die Lösung?

Ein Drittel der Kinder und Jugendlichen in der Schweiz stünden unter hohem Stress. So das Ergebnis einer Stress-Studie der Pro Juventute. Daran sei die Schule mit ihrem Selektions- und Notendruck wesentlich schuld. Gefordert wird daher eine Schule ohne Selektion, in welcher der Leistungsdruck insgesamt sinken soll. Dies laufe der damit angestrebten Chancengleichheit zuwider, hält Gastautor Mario Andreotti dagegen.

Geht es nach der Idee vieler Schulleiterinnen und Schulleiter, so soll erst nach dem Ende der Oberstufe, also bei den Sechzehnjährigen selektioniert werden. Dabei gehe es um Chancengleichheit: Jugendliche, die in eine tiefere Sekundarstufe eingeteilt werden, seien für den Rest des Lebens stigmatisiert. Ähnlich tönte es bekanntlich schon im Zusammenhang mit der Einführung von Förderklassen.

Ist das aber Chancengleichheit, wenn schwächere Schülerinnen und Schüler bis zum Schulabschluss in der Regelklasse bleiben, ohne dass sie mit ihren leistungsstärkeren Kolleginnen und Kollegen mithalten können? Ist es nicht gerechter, jedem die Chance zu geben, in einer Klasse mit leistungsmässig etwa Gleichstarken zu lernen und so voranzukommen? Die Selektion erfüllt, indem sie es den Lehrkräften ermöglicht, besser auf die Bedürfnisse der Schüler einzugehen, eine wichtige pädagogische Funktion, auch wenn das eine Mehrheit der Schweizer Schulleiter nicht wahrhaben will. Auf jeden Fall wird mit einer Verschiebung der Selektion, bei der dann die Diskussion einfach später geführt werden muss, unser Schulsystem nicht gerechter.

Gastautor Mario Andreotti

Keine Frage: Die Schule kann auf eine Leistungsbeurteilung, sei es mit oder ohne Noten, nicht verzichten. Entscheidet sie sich für Noten, wie das an den meisten Schulen immer noch gängige Praxis ist, so wird ihr von den Kritikern unter anderem vorgeworfen, das klassische Notensystem bilde den individuellen Lernfortschritt der Kinder nicht ab. Zudem würden Schulnoten bei Eltern und Schülern für Stress und Angst sorgen. Die vermeintliche Erlösung von Leistungsdruck und Schulängsten dürfte denn auch ein wesentlicher Grund dafür sein, dass in einigen Schulen, so etwa in den Kantonen Aargau, Bern und Luzern, die Noten auf der Primar- und Oberstufe abgeschafft wurden und dass weitere Kantone diesem Trend folgen wollen.

Auf jeden Fall wird mit einer Verschiebung der Selektion, bei der dann die Diskussion einfach später geführt werden muss, unser Schulsystem nicht gerechter.

 

Dabei übersieht man gerne, dass Noten bei den Schülern häufig eine motivierende Wirkung, im Sinne eines “Weiter so!”, entfalten. Nun sollen sie durch irgendwelche “Lernentwicklungsgespräche” ersetzt werden, die alles andere als echte Alternativen darstellen, denn entweder handelt es sich um geschönte Verbalgutachten oder sie sind in pauschalen Standardsätzen gehalten, mit denen Schüler und Eltern wenig anzufangen wissen. Dazu kommt, dass Leistungsbeurteilungen mit Worten die Psyche der Kinder oftmals mehr verletzen, als es Noten je tun könnten.

Lernen erfordert Kontrolle

Eines ist sicher: Die Schule kann kein Ort ohne klare Leistungsbilanzen, keine Wohlfühloase sein, sonst befände sie sich in einem Elfenbeinturm – und das inmitten einer Leistungsgesellschaft. Schule heisst Lernen. Das erfordert Lernkontrollen und macht in der Tat manchmal keinen Spass. Insofern ist die von Reformpädagogen immer wieder erhobene Forderung, wir müssten von einer Schule wegkommen, die selektioniere, indem sie Prüfungsnoten setze, kritisch zu hinterfragen. Leistungen wollen nun einmal beurteilt werden, bewertet sein. Das ist auf allen Gebieten so.

Mit einer zeitgeistigen Kuschelpädagogik, der eine Schule ohne Selektion und Noten vorschwebt, ist niemandem gedient.

 

Ein Blick in den Sport würde genügen, um zu sehen, dass beispielsweise in einem Ski-Abfahrtsrennen Zehntels-Sekunden darüber entscheiden, ob jemand als Sieger aus dem Rennen geht oder nicht. Warum soll es ausgerechnet in der Bildung, die unsere Gesellschaft als ihren wichtigsten Rohstoff preist, anders sein? Soll die Schule ihre Schüler auf ein erfolgreiches Leben in unserer Gesellschaft vorbereiten – und genau das verlangen ja Wirtschaft und Politik -, dann kommt sie am erzieherischen Grundsatz, dass zum Fördern immer auch das Fordern gehört, nicht vorbei. Mit einer zeitgeistigen Kuschelpädagogik, der eine Schule ohne Selektion und Noten vorschwebt, ist niemandem gedient.

 

Prof. Dr. Mario Andreotti ist Dozent für Neuere deutsche Literatur, Germanist, Historiker und Buchautor (“Die Struktur der modernen Literatur” und “Eine Kultur schafft sich ab”). Er ist zudem ein profunder Kenner der schweizerischen Bildungslandschaft.

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