21. Dezember 2024
Die Geschichte einer Landschule

«Ein Meister der Gesamtschule!»

Condorcet-Autor Georg Geiger erhielt ein Gästebuch mit Holzeinfassung. Als er dessen Inhalt las, verschlug es ihm den Atem. Nun teilt er die Botschaft dieses Werks mit unseren Leserinnen und Lesern und zeigt, wie der Dorfschullehrer Hans Schaffner in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg Anwil zum pädagogischen Wallfahrtsort der Schulreform machte.

Eines Nachmittags drückte mir der Lehrerkollege Martin Schaffner in der FOS Mittelschule in Muttenz ein Gästebuch mit Holzeinfassung in die Hand…

Eines Nachmittags drückte mir der Lehrerkollege Martin Schaffner in der FOS Mittelschule in Muttenz ein Gästebuch mit Holzeinfassung in die Hand, das das Evangelische Oberseminar Zürich seinem Grossvater Hans Schaffner nach einem Besuch in der Gesamtschule von Anwil (‘Ammel’) Mitte Dezember 1943 widmete und in dem dieser über die Jahrzehnte viele interessante Rückmeldungen sammelte, die noch heute von bemerkenswerter Aktualität sind.

“Es ist kaum zu glauben, dass der rüstige Hans Schaffner, Schulmeister in Anwil, mit dem heutigen Tag in sein achtes Lebensjahrzehnt hinübersteigt. Notabene, ‘Schulmeister’ ist in diesem Fall im ursprünglichen Sinn und wörtlich zu nehmen, war er doch während 44 Jahren Lehrer in Anwil, und als solcher ein Meister der Gesamtschule, wie sie selten so umfassend zu finden sind. Sozusagen in allen Fächern erreichte er Spitzenleistungen und führte seinen Unterricht von der ersten bis zur achten Klasse so zielbewusst und fortschrittlich, dass nicht nur die Baselbieter Lehrerschaft nach Anwil pilgerte, sondern auch aufstrebende Pädagogen von weitherum; denn Hans Schaffner gehörte zu den Pionieren der Schulreform, die sich bemühten, die alte Lernschule zu einer kindertümlichen und fundierten Lebensschule umzugestalten.» Mit diesen Worten wurde in der Zeitung Hans Schaffner zu seinem 70.Geburtstag gratuliert.

Georg Geiger, pens. Gymnasiallehrer, Basel-Stadt.: Das Schulhaus als der zentrale Ort von Bildung und Kultur

Und es pilgerten Pädagoginnen und Pädagogen aus der ganzen Schweiz, ja sogar aus Bayern und Dänemark in dieses Oberbaselbieter Bauerndorf, um Schaffner beim Unterrichten von 50 bis 60 Kindern über die Schulter blicken zu können. Am 15./16.Dezember 1943 unternahm das Evangelische Oberseminar Zürich eine Reise nach Anwil und dokumentierte die gemachten Erfahrungen in einem 13-seitigen Rückblick ausführlich.

Werner Meyer schildert in der Einleitung die zentrale Bedeutung des Schulhauses für das ganze Bauerndorf: «Die Kinder erfahren in diesem einen Hause, in diesem einen Zimmer, gleich wie ihre Väter und Mütter, ihre Bildung von Herz und Geist. Männer und Frauen kommen hier zusammen, um mit dem Schulmeister Lieder zu singen, frohe und ernste, als Spiegel des Jahres. An einem andern Abend freuen sich die Frauen, wieder in den altbekannten Schulbänken zu sitzen, diesmal aber, um Gotthelfs Erzählungen anzuhören. Zudem werden im Schulhaus auch noch Theaterstücke einstudiert. Kurz, das Schulhaus in seiner ganzen Bedeutung scheint im innern Leben dieser Leute eine ausserordentliche Rolle zu spielen.» Und das Schulhaus als der zentrale Ort von Bildung und Kultur ist auch ganz mit dem äusseren Leben des Bauerndorfes verwoben: «So, wie das Schulhaus mitten in der bäuerlichen Geschäftigkeit drin steht, oben, unten und über der Strasse umgeben ist von Miststöcken, um die die Schüler ihre Pausenspiele treiben, so steht in meinen Augen der Lehrer und die Bildung, die er vermittelt, ebenso in harmonischer Beziehung zur Art und zum Leben dieser Leute.» In dieser überschaubaren Welt gelingt es der Schule noch einigermassen, für den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sorgen. Und es wird einem wieder mal bewusst, mit welchen gigantischen Herausforderungen wie Globalisierung, Digitalisierung, Klimawandel und vernachlässigter Einwanderungsgesellschaft heutige Pädagog:innen konfrontiert sind und wie schwer es heute ist, die Schule als kulturelle Klammer am Leben zu erhalten.

Für die Lehrerkollegen aus der Stadt Zürich bietet sich die Gesamtschule von Anwil als willkommene Projektionsfläche eigener Sehnsüchte an. So etwa bei Erwin Pachlatko, der den Besuch folgendermassen bilanziert: «Am meisten Eindruck haben mir die einfachen gesunden Bauernkinder gemacht. Bei ihnen erhält sich noch eine Welt, die bei uns in der Stadt längt ins Wanken geraten ist. Ich meine die Natürlichkeit.»  Nicht vergessen: wir schreiben das Jahr 1943, rund herum tobt ein Weltkrieg, alles ist aus den Fugen geraten. Da versteht man schon das Bedürfnis nach einer natürlichen, gott -gegebenen Ordnung. Bei Georg Sourlier dringt die Verklärung noch stärker durch: «Da ist noch etwas von alter Bodenständigkeit; da ist noch Vorkriegsqualität, gesundes Holz, tragfeste Eichenbalken.» Auch die Lehrerfamilie Schaffner wird zum wehmütigen Idyll einer brüchig gewordenen patriarchalen Ordnung : «»Die Familie des Anwiler Lehrers ist die verkleinerte Projektion seiner Schule. (…) Da haben wir beieinander, was ich unter einer Familie verstehe. Die Frau backt das Brot, bedient in leutseliger Weise die Gäste, erzieht die Kinder und steht ihrem Manne tatkräftig zur Seite. Der Mann geht zur Jagd, schiesst wilde Bestien, lehrt mit männlicher Besonnenheit die neue Generation.»

Nun, die Zeiten der verherrlichten «grossen, in sich gerundeter Mannesarbeit» sind definitiv vorbei und helfen uns heute nicht mehr viel. Umso erstaunlicher ist es aber, welche konkreten Einzelbeobachtungen von den Teilnehmern des Zürcher Oberseminars formuliert werden, die einem auch noch 80 Jahre später aktuell erscheinen: Thedy Wieser findet «nichts Auffälliges an seinen Worten» und er entdeckt «keine besonderen methodischen Kniffe». Dagegen «Freude und ständiger Einsatz», «das Beisammensein von Freude und harter Arbeit». Die menschliche Wärme beeindruckt Erwin Pachlatko: «Mir fiel auf, mit welcher Selbstverständlichkeit diese Bauernkinder in das Schulzimmer traten. Ich hatte das Gefühl, dass sich die Kinder in diesem Zimmer wie zu Hause fühlten.» Samuel Schmid erwartete originelle Stundenanfänge, wie sie in Stadtschulen gang und gäbe waren, aber bei Schaffner erlebte er die Kraft des schnörkellosen Unterrichtens: «Die Lektion war einfach und klar und wurde durch das warme Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler zu einem schönen Erlebnis gestaltet.» Rudolf Stückelberger fasst seine Eindrücke folgendermassen zusammen: «Da haben wir’s, was Herr Schaffner so geschätzt macht: einerseits zielbewusstes, sinnvolles, unablässiges Arbeiten und andrerseits persönliche Unauffälligkeit und Bescheidenheit», kombiniert mit dem Prinzip der «unerbittlichen Wiederholungen». Hattie lässt grüssen: Die entscheidende Grösse für das Lernen ist der einzelne Lehrer/die einzelne Lehrerin und deren Beziehung zum Kind. Und im Mittelpunkt steht das verbindende Dritte, das fachliche Interesse an der Welt. Auch der Kompetenzbegriff gehört schon zum pädagogischen Selbstverständnis, wenn Georg Sourlier meint: «Er gibt ihnen nicht Wissen, er lehrt sie Können und Verstehen, er lehrt sie leben.»

Hans Schaffner ist ein innovativer Lehrer, der sich als «Lehrerphotograph» mit moderner Technologie auseinandersetzt, der im Singunterricht mit grossem Erfolg die Methode der Solmisation einsetzt, wo für jede Tonsilbe ein bestimmtes Handzeichen und eine bestimmte Körperposition existiert, und der aus seiner Schulstube ein «Studierzimmer» macht, um die Kinder am Wissensschatz teilhaben zu lassen, was Hans Bodmer sehr beeindruckt: «Staunend steht man vor diesem geistigen Kapital eines Dorfschulmeisters und frägt sich nun, wie sich ein Mensch in diesem Berg von Büchern noch zurechtfinden kann. Doch auch dafür ist gesorgt. Auf dem kleinen Tischchen in der vorderen rechten Ecke steht eine Kartothek, in der alle Fäden der verschiedenen Wissensgebiete zusammenlaufen.» Und so hinterlässt der Dorfschullehrer Hans Schaffner einen bleibenden Eindruck bei seinen Zürcher Kollegen. W. Rist bringt es folgendermassen auf den Punkt: «In Anwil habe ich erfahren, was die gute Schule ausmacht: Es scheint mir dies des Lehrers lückenloses Durchdringen des Stoffes, gepaart mit einem gesunden Menschenverstand, zu sein.» Oder mit den Worten von Hans J. Rinderknecht: «Wir sind erschüttert ob der demütigen Verborgenheit, in der all das getan worden ist.»

 

So verborgen, dass der Dorfschullehrer 39 Jahre lang wegen der Knausrigkeit der Gemeinde das Schulzimmer auf eigene Kosten heizt und sich bei seinem 25-jährigen Schuljubiläum eine Feier verbittet, weil er für jede Reparatur oder Neuanschaffung als Bittsteller antreten musste. Geholfen hat ihm dabei sicher, dass er um seinen exzellenten Ruf im pädagogischen Berufsfeld wusste, wie er in einem Brief an den Gemeinderat klarstellte: «Ich bin in der glücklichen Lage zu wissen, dass prominente Leute meine Arbeit würdigen und schätzen.»

Hans Joggi Frey ist Löffler von Beruf und unterrichtet in seiner Wohnstube. ‘Weilen der Schullohn nicht sufficiert, sich und die Seinen  damit ausszubringen’, arbeitet er oft in den Stunden, da die Schule sollte gehalten werden, auf seinem Handwerk.

Der pensionierte Hans Schaffner hat 1967 eine «Heimatkunde von Anwil» verfasst. Darin findet sich auch ein Kapitel «Von der Schule und ihren Schulmeistern», das sich als interessante Sozialgeschichte der Schulmeisterei liest. Der erste Satz lautet: «Eine Schule gibt es in Anwil seit 1633.» Ueber einen der ersten dokumentierten Lehrer berichtet Pfarrer Stöcklin 1694: «Hans Joggi Frey ist Löffler von Beruf und unterrichtet in seiner Wohnstube. ‘Weilen der Schullohn nicht sufficiert, sich und die Seinen  damit ausszubringen’, arbeitet er oft in den Stunden, da die Schule sollte gehalten werden, auf seinem Handwerk. Schule wird nur im Winter, höchstens von Martini (11.Nov.) bis Fastnacht, gehalten.»

115 Jahre lang, von 1711 bis 1826, wirkten in Anwil Bauern als Schulmeister, während in den meisten Dörfern arme Posamenter, Taglöhner und ausgediente Soldaten Schule hielten.» Ab 1738 unterrichtete mit Jakob Schaffner der Stammvater der grossen Anwiler Schulmeister-Sippe, zu der auch Hans Schaffner gehörte. «Als Johannes Jakob 1803 gestorben war, bewarben sich um die Stelle sein 26-jähriger Sohn Johannes, von Beruf Bauer, ein 31jähriger Kessler und ein 37jähriger Tauner (Tagelöhner). Johannes erhielt mit der Empfehlung des Pfarrers die Stelle, obwohl er «weder schön noch richtig schreiben konnte und vom Rechnen so viel wie nichts verstand.»

Die Schule begann dazumal um 8 Uhr, aber es dauerte jeweils bis 9 Uhr, «biss alle beysammen sind». Pro Tag wurden etwa 6 Stunden unterrichtet.

Bei den meisten Lehrern ist im 18.Jahrhundert «die armuth fast (sehr!) gross». Da im Sommer jeweils nur 4 bis 5 Kinder erschienen, «könne man den Schulmeistern nicht zumuten, dass sie ihre eigenen Geschäft versaumen.» Die Schule begann dazumal um 8 Uhr, aber es dauerte jeweils bis 9 Uhr, «biss alle beysammen sind». Pro Tag wurden etwa 6 Stunden unterrichtet. Es wurde vor allem buchstabiert und gelesen, viel aus dem Katechismus und der Bibel auswendig gelernt, manchmal wurde auch geschrieben. Rechnen wurde nicht unterrichtet, Singen auch nicht, und sobald die Kinder notdürftig schreiben konnten, begehrten die Eltern, dass die Kinder aus der Schule entlassen wurden.

Noch im Jahre 1808 ist überliefert, dass die Mädchen nicht schreiben lernen durften, “weil die Eltern behaupteten, sie würden es dann nur zu Liebesbriefen anwenden;”

Noch im Jahre 1808 ist überliefert, dass die Mädchen nicht schreiben lernen durften, «weil die Eltern behaupteten, sie würden es dann nur zu Liebesbriefen anwenden;» Vom Herbst 1917 bis März 1918 war Hans Schaffner als Anwiler Bürger als Vikar eingesetzt und er blieb als Gesamtschullehrer von April 1918 bis zu seiner Pensionierung am 30.September 1966 während 44 Jahren seiner Heimatgemeinde treu und erhob Anwil «zum pädagogischen  Mekka» in der Schweiz der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts.

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