21. Dezember 2024
Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach im Interview

“Schule ohne Noten ist wie Kapitalismus ohne Geld – das funktioniert nicht”

Der Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach von der Uni Zürich erklärt in einem Gespräch mit Nadja Pastega von der Sonntagszeitung, warum man die Hausaufgaben nicht streichen soll und die Abschaffung von Noten keine gute Idee ist. Und welchen Sinn das Auswendiglernen hat. Dem streitbaren Pädagogen eilt der Ruf voraus, er polarisiere gern. Roland Reichenbach gehört zu den ausgewiesenen und klugen Experten, wenn es um Schulen und Bildung geht. Er hat alle Stationen durchlaufen: Lehrerseminar im Kanton Bern, dann Studium der Psychologie, Pädagogik und Ethik. Forschungsaufenthalte in Stanford, USA, und Montreal, später Professor für allgemein Erziehungswissenschaften im deutschen Münster und Basel. Heute lehrt der 61-Jährige an der Universität Zürich.

Herr Reichenbach, derzeit wird vielerorts die Abschaffung der Prüfungsnoten gefordert. Was halten Sie davon?

Schule ohne Noten ist wie Kapitalismus ohne Geld. Das funktioniert nicht. Über die Währung kann man streiten, aber es braucht eine Währung. Natürlich sind die Noten problematisch, sie sind insgesamt weder objektiv noch gerecht. Doch zu behaupten, dass die Leistung nicht sinken würde, wenn man auf Noten verzichtet, ist fromm. Diese extrinsischen Motivatoren haben auch dann eine Wirkung, wenn man sie ablehnt.

Gastautorin Nadja Pastega, Journalistin der Sonntagszeitung

Zweites Beispiel: Hausaufgaben streichen – eine gute Idee?

Keine gute Idee. Die Hausaufgaben aus Gründen der Bildungsgerechtigkeit abzuschaffen, ist sogar eine schlechte Idee. Hausaufgaben geben die Möglichkeit, Gelerntes zu konsolidieren und Lerninhalte besser zu verstehen. Natürlich ist aber die Hausaufgabenhilfe für manche Kinder ein wichtiges Thema.

Heute wird an den Schulen viel experimentiert. Die Losung, die landauf, landab durch die Klassenzimmer hallt, lautet: Man muss den Unterricht individualisieren.

Da denkt man: Stimmt, es sind doch nicht alle gleich leistungsfähig, da muss man die Kinder unterschiedlich behandeln. Und dann nicken alle, das ist eine Art pädagogischer Gottesdienst. Wie wenn der Pfarrer sagt: Sind wir nicht alle schuldig? Wenn alle mit nicken, stimmt in der Regel etwas nicht.

Man kann doch nichts dagegen haben, dass auf die Bedürfnisse der einzelnen Kinder eingegangen wird.

Niemand ist gegen Individualisierung oder Selbstbestimmung. Aber dass man die eigenen Lernprozesse selbstbestimmt und irgendwie individuell beziehungsweise selbst organisieren würde oder auch könnte, beschreibt schulisches Lernen nicht im Geringsten. Individualisierung heisst praktisch nicht sehr viel mehr als Variation von Zeit und Stoffmenge.

Roland Reichenbach: “Wenn alle mit nicken, stimmt in der Regel etwas nicht.”

Das heisst: Leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler bekommen mehr Zeit, wenn sie etwas erledigen sollen, oder weniger Aufgaben, die sie lösen müssen. Nochmals: Was soll daran schlecht sein?

Die klasseninterne Differenzierung eröffnet paradoxerweise auch Möglichkeiten der Stigmatisierung von scheinbar klar definierten Leistungsgruppen. Es geht darum, unbeabsichtigte und wenig diskutierte Wirkungen kritisch ins Auge zu fassen. Hilft es Leistungsschwächeren tatsächlich, wenn man ihnen weniger Lernstoff zumutet, da man von ihnen weniger erwartet, vor allem nicht erwartet, dass sie sich mehr anstrengen könnten?

Dass man weniger privilegierte Kinder mehr fördern muss, ist längst bekannt.

Ja, doch mehr fördern heisst manchmal auch: mehr fordern. Diese Schülerinnen und Schüler brauchen nicht mehr Eigenverantwortung oder Selbstorganisation, sondern grössere Aufmerksamkeit. Ihnen muss gezeigt werden, dass man von ihnen mehr verlangt, als was sie zu leisten bereit sind. Das ist eine Möglichkeit, manchen der weniger privilegierten Kinder und Jugendlichen zu helfen.

“Selbst organisiertes Lernen ist entweder eine Chimäre oder eine Banalität.”

 

Sie haben in einer Studie einige Zürcher Schulen näher angeschaut und festgestellt, dass die Schülerinnen und Schüler in unterschiedlichen Stadtteilen auch unterschiedlich behandelt werden.

In dem Projekt mit drei Gruppen von Forscherinnen und Forschern wurden je vier Schulen in Berlin, Wien und Zürich näher betrachtet. Hintergrundthema war die politische Bildung in der Migrationsgesellschaft. In den drei Städten zeigte sich, dass die Jugendlichen in weniger privilegierten Quartieren von den Lehrpersonen anders angesprochen werden, man von ihnen anderes und vor allem weniger erwartet als von Jugendlichen in privilegierten Stadtteilen und den entsprechenden Schulen.

Konkret?

In der privilegierten Situation spricht man vor allem über Bildung, in der weniger privilegierten ist Erziehung das Thema. Daher geht es im ersten Fall vor allem um das Individuum und seine Zukunft, im zweiten Fall vor allem um die Gruppe und die Gegenwart. Das heisst: Unter anderem auch um Gemeinschaft und Fragen des Anstands und des Zusammenlebens. In modernen Migrationsgesellschaften werden die Worte subtil gewählt. Wenn es um die Zusammensetzung der Schülerinnen und Schüler geht, so wird in den privilegierten Schulen das Wort “international” benutzt, während die anderen Schulen nicht international, sondern “multikulturell” geprägt sind. “International” lässt eine Vielfalt von Möglichkeiten erahnen, “multikulturell” eine Vielfalt von Problemen.

An den Schulen wird viel experimentiert, die Unterrichtsform hat sich zum Teil stark verändert. Weit oben auf der Agenda vieler Schulen steht das selbst organisierte Lernen in sogenannten Lernlandschaften.

Das Lernen kann sich nicht selbst organisieren. Nur die lernende Person. Das ist ein Bildungsziel, kein Merkmal des Lernprozesses selbst. Nicht nur Kinder, auch viele Jugendliche und selbst Erwachsene können Mühe haben, sich selber zu organisieren. Die Selbsttätigkeit ist bedeutsam, sie kann Lernen unterstützen, das ist eh klar. Selbst organisiertes Lernen ist keine neue Form des Lernens. Selbst organisiertes Lernen ist entweder eine Chimäre oder eine Banalität. Sie können wählen!

“‘International’ lässt eine Vielfalt von Möglichkeiten erahnen, ‘multikulturell’ eine Vielfalt von Problemen.”

 

Angesagt ist heute auch, dass man dem Kind auf Augenhöhe begegnen muss. Bloss nicht bevormunden. Wie finden Sie das?

Natürlich ist dem Kind mit Respekt und Fürsorge zu begegnen. Wenn gleiche Augenhöhe aber gemeinsames Entscheiden bedeuten soll, dann geht es häufig um eine weitere Unaufrichtigkeit, jene der Pseudopartizipation.

Zum Beispiel?

Es ist schon spät, das Kind sollte ins Bett, will aber nicht. Die Mutter sagt: “Du solltest jetzt schlafen gehen, sonst bist du morgen im Kindergarten müde und grantig.” Das Kind meint: “Du hast recht Mama, wenn ich mir das vorstelle, gehe ich lieber gleich ins Bett.” Beispiel zwei: Ein anderes Kind quengelt, dass es noch ein Eis essen will. Der Vater sagt: “So viel Eis ist nicht gut für deine Zähne.” Das Kind meint: “Das hättest du mir schon eher sagen können, dann hätte ich schon auf das erste Eis verzichtet.” Was haben diese beiden Situationen gemeinsam?

Hilft es Leistungsschwächeren tatsächlich, wenn man ihnen weniger Lernstoff zumutet, da man von ihnen weniger erwartet, vor allem nicht erwartet, dass sie sich mehr anstrengen könnten?

Sie werden im Leben so nie stattfinden.

Genau. Solche Kinder gibt es nicht. Darum ist diese Rede von der gleichen Augenhöhe scheinheilig. Der Vater sagt zur Tochter: “Wir müssen etwas miteinander diskutieren.” Die Tochter weiss mit der Zeit, dass es immer, wenn er “miteinander diskutieren” sagt, darum geht, ihr Vorschriften zu machen. Wenn die Tochter hingegen auf ihrem Wunsch beharrt, nämlich erst um Mitternacht und nicht schon um 21 Uhr zu Hause zu sein, dann beendet der Vater diese Diskussion mit “gleicher Augenhöhe” mit Sätzen wie: “Solange du noch als meine Tochter hier unter meinem Dach wohnst …” Es beginnt also diskursiv, doch schnell bricht die Argumentationsintegrität des Vaters zusammen und das noch knapp bestehende Machtverhältnis tritt voll zutage. Das ist gewissermassen normal. Und die jüngere Generation lernt, dass die Welt der Erwachsenen offenbar von Scheindiskursen geprägt ist.

“Wir konservieren das Wissen und das Gelernte beim Auswendiglernen, wir machen es haltbar, für uns und andere verfügbar, unser Leben wird reicher, und möglicherweise schieben wir die Altersdemenz ein gutes Stück nach hinten. Daran merkt man, dass konservativ ziemlich progressiv sein kann.”

 

Sie sind ein Verfechter des Auswendiglernens – trotz Google und Digitalisierung. Wie oft hat man Sie schon als konservativ bezeichnet?

Auswendiglernen und Digitalisierung stehen ja nicht in einem logischen Gegensatz. Aber wohl in einem faktischen. Es gibt auch viele Möglichkeiten, ausserhalb der digitalen Welt nichts aus sich zu machen und zu versimpeln, das ist klar. Diese Zusammenhänge sind ja nicht zwingend. Ja, manchmal sagt man mir, überrascht und vorwurfsvoll, ich sei konservativ. Das kommt mir eigenartig vor. Warum soll Auswendiglernen konservativ sein? Politisch ist das sowieso Quatsch! Pädagogisch stimmt es aber: Wir konservieren das Wissen und das Gelernte beim Auswendiglernen, wir machen es haltbar, für uns und andere verfügbar, unser Leben wird reicher, und möglicherweise schieben wir die Altersdemenz ein gutes Stück nach hinten. Daran merkt man, dass konservativ ziemlich progressiv sein kann.

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