16. September 2024
Berufsbildung in der Schweiz

Förderung der Berufsbildung in Europa mit dem Schweizer-Berufsbildungssystem

In 10 Ländern der Europäischen Union ist jede/r vierte bis fünfte Jugendliche im Alter zwischen 16 und 24 Jahren arbeitslos. Im EU-Durchschnitt der 27 Länder sind es knapp 15% oder jede/r siebte. Hält diese Situation mehrere Jahre an, kann aus der Problematik sozialer Sprengstoff erwachsen. In einigen dieser Länder spricht man von der Sorge um eine “verlorene Generation”, welche ohne Perspektiven heranwächst.

Die Bildungssysteme in Europa liegen ausschliesslich in der Verantwortung der einzelnen Länder. Dementsprechend unterschiedlich ist ihr Aufbau. Angeblich durchlaufen 50% der Europäerinnen und Europäer zwischen 15 und 19 Jahren eine berufliche Erstausbildung auf Sekundarstufe II [1]. Hinter diesem EU-Durchschnitt – die Schweiz wird nicht mitgezählt – verbergen sich erhebliche, geografische Unterschiede [2]. Die Streubreite korrespondiert mit der Jugendarbeitslosigkeit in den betroffenen Ländern.

Condorcet-Autor Niklaus Gerber

Obwohl die EU im Jahr 2002 den so genannten Kopenhagen-Prozess [3] im Bereich der beruflichen Aus- und Weiterbildung in Gang gesetzt hat, sind bisher keine namhaften Wirkungen erkennbar. In den entsprechenden Gremien wird viel diskutiert und wenig Konkretes umgesetzt.

Jugendliche brauchen – wie alle Menschen – Hoffnung und Zuversicht für das eigene Leben. In den stärksten von der Jugendarbeitslosigkeit betroffenen Ländern [4] Spanien, Portugal, Italien, Griechenland und Schweden (Stand 2023) bleibt den Jungen und angehenden Generationen vieles verwehrt. Und diese Staaten liegen vor der Haustüre der Schweiz.

  • In Spanien besteht seit 2002 eine enge Berufsbildungszusammenarbeit innerhalb der EU. Duale Ausbildungsgänge sind möglich, doch die Resonanz der Unternehmen fällt mager aus. Weniger als 5% der spanischen Auszubildenden lernen neben der Schule in einem Betrieb. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt 28.6%.
  • Das Berufsbildungssystem in Portugal ist stark verschult. So genannte Ausbildungsberufe werden an den Schulen vermittelt. Lediglich am Ende eines Schuljahres werden zwei- bis dreimonatige Berufspraktika in Betrieben absolviert. Es besteht kein direktes Ausbildungsverhältnis zwischen Unternehmen und Auszubildenden. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt 23.1%.
  • Italiens Berufsausbildung ist in erster Linie schulisch. Mit 14 Jahren wird eine regionale Berufsschule für eine zwei- oder dreijährige Ausbildung oder ein fachtechnisches Institut bis zum Abitur mit Berufsabschluss gewählt. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt 20.1%.
  • In Griechenland ist die Berufsbildung auf Sekundarstufe II ebenso schulisch geprägt. Abschlussqualifikationen sind eher von der Ausbildungsdauer als von den vermittelten Kompetenzen abhängig. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt 22.3%.
  • In Schweden existieren berufsbildende Programme, die alle dreijährig angelegt sind. Die berufsbildenden Kurse finden in der Regel zu 85% in der Schule statt und umfassen mindestens 15 Wochen an einem ausserschulischen Arbeitsplatz. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt 22.7% [5].

Stark verschult und lediglich partiell arbeitsmarkttauglich

Die Bilanz nach über zwei Dekaden seit dem Kopenhagen-Prozess ist nicht erfreulich; dies trotz seitheriger Empfehlungen des EU-Rates zur Berufsbildung 2020 und für den Zeitraum 2021-2030. Die Berufsbildungssysteme in diesen fünf ausgewählten EU-Ländern sind nach wie vor stark verschult und lediglich partiell arbeitsmarkttauglich. Nachhaltige Auswirkungen auf die länderbezogene Wirtschaft sind keine bis wenige zu erkennen.

Die Jugendarbeitslosigkeit in der Schweiz liegt – und dies als langjährig niedrige und international vergleichbare Quote [6] – bei 8.1 Prozent. Ausländische Delegationen, die sich für das hiesige Bildungssystem interessieren, fragen nach den Gründen. Die verkürzte Antwort dazu lautet: Weil die Schweiz ein sehr gut funktionierendes duales Berufsbildungssystem [7] hat. Weltweit betrachtet, stellt es ein Erfolgsmodell dar, das sich in den vergangenen Jahren zu einem Exportprodukt entwickelt hat. Die parallele Ausbildung in Betrieb und Berufsschule resp. die Verzahnung von Praxis und Theorie gehören zu den Stärken.

Gegen aussen hin und als Land, bei dem die Hälfte der Exporte in die EU geht, ist in Bezug auf die EU-weite Förderung der Berufsbildung nichts erkennbar.

 

Länder wie Indien, Südkorea, Südafrika, die USA etc. interessieren sich proaktiv dafür. Innerhalb Europas ist die Nachfrage jedoch erstaunlicherweise gering. Und dies trotz der teilweise hohen Jugendarbeitslosigkeit. Im “Leitbild Berufsbildung 2030″stehen Reformprojekte, die primär einem Blick nach innen gleichen. Inhaltlich hat es Vorhaben, welche die schweizerische Berufsbildung stärken sollen. Das ist grundsätzlich wichtig und richtig. Gegen aussen hin und als Land, bei dem die Hälfte der Exporte in die EU geht, ist in Bezug auf die EU-weite Förderung der Berufsbildung nichts erkennbar.

Über den schweizerischen Tellerrand hinausblicken

Die Schweiz kennt die Erfolgsfaktoren einer funktionierenden Berufsbildung. Es wäre deshalb sinnvoll, wenn das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) und die Eidgenössische Hochschule für Berufsbildung (EHB) über den schweizerischen Tellerrand hinausblicken würden. Die Entwicklungszusammenarbeit im Bereich der Berufsbildung müsste mit den europäischen Ländern in Form konkreter Abkommen und Roadmaps vorangetrieben werden. Die Zukunft gehört der Jugend und den heranwachsenden Generationen.

 

[1] https://education.ec.europa.eu/education-levels/vocational-education-and-training/about-vocational-education-and-training (Abruf 14.12.2023)

[2] Über den Rat der EU haben die Mitgliedstaaten das Ziel festgelegt, dass bis 2025 mindestens 60% dieser jungen Menschen, während ihrer
Berufsausbildung in den Genuss praxisbezogener Lernerfahrungen kommen sollen. Die Streubreite dieser Unterschiede liegt zwischen 15% und
mehr als 70%.

[3] Die europäische Zusammenarbeit im Bereich der Berufsbildung geht auf das Jahr 2002 und den Kopenhagen-Prozess zurück. Es wurde im Laufe
der Jahre weiter ausgebaut, beispielsweise durch das Brügge-Kommuniqué und die Riga-Schlussfolgerungen. Die berufliche Aus- und
Weiterbildung wurde als Schwerpunktbereich der Zusammenarbeit im Rahmen der Initiative „Europäischer Bildungsraum“ für den Zeitraum 2021–
2030 identifiziert.

[4] Die Aussagen zu den fünf Ländern wurden im Dezember 2023 den jeweiligen Botschaften zur Stellungnahme resp. Verifikation unterbreitet. Mit
Ausnahme der schwedischen Botschaft gab es keine Rückmeldungen. Der Beitrag wurde im Januar 2024 ebenfalls dem Staatssekretariat für
Bildung, Forschung und Innovation SBFI, Abteilung Internationale Beziehungen, zugeschickt. Auf eine Stellungnahme wurde verzichtet.

[5] https://www.scb.se/hitta-statistik/sverige-i-siffror/samhallets-ekonomi/ungdomsarbetsloshet-i-sverige/ (Abruf 22.12.2023)

[6] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/445872/umfrage/jugendarbeitslosenquote-in-der-schweiz/ (Abruf 28.07.2024)

[7] https://www.srf.ch/news/schweiz/warum-hierzulande-so-wenig-jugendliche-arbeitslos-sind

 

Niklaus Gerber, war bis zu seiner Pensionierung im August 2021 Abteilungsleiter und Mitglied der gibb-Schulleitung in Bern und hat sich mit NORDWÄRTS – Kompass für kompetente Führung selbständig gemacht.

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