19. März 2024

P R O & K O N T R A: Kompetenzorientierung auch am Gymnasium?

Yasemin Dinekli legt in ihrem Beitrag dar, weshalb die Gymnasien auf die Kompetenzorientierung als zentrale Bildungsleitidee verzichten sollten. Schade, dass der Klett-Verlag es seinen Leserinnen und Lesern nicht zumuten wollte, die Argumente in beiden Diskursbeiträgen zu prüfen und sich selbst eine Meinung zu bilden.

Contra: Fachwissen wird abgewertet und nimmt nur noch eine exemplarische Rolle ein.

Yasemin Dinekli, Mittelschullehrerin, Präsidentin des Trägervereins des Condorcet-Blogs

Ein Seitenblick auf Deutschlands Gymnasien, die nach einem Beschluss der Kultusministerkonferenz 2004 ihre Curricula auf das neuartige Kompetenzmodell ausgerichtet haben, dürfte weiterhelfen bei der Entscheidung, ob sich auch die gymnasialen Lehrpläne der Schweiz an Kompetenzen orientieren sollen. Die Erfahrungen sind ernüchternd. Welche Auswirkungen die Umstellung auf Kompetenzen in Ausrichtung auf Bildungsstandards mit sich bringt, stellte Hans Peter Klein, Professor für Biologiedidaktik, 2016 in seinem Buch «Vom Streifenhörnchen zum Nadelstreifen» dar. Die Streifenhörnchen waren Thema einer Biologieaufgabe aus dem Zentralabitur Nordrhein-Westfalens, das die Prüfungsaufgaben gemäss den Lehrplänen folgerichtig an Kompetenzen orientierte. Massive Zweifel von Gymnasiallehrpersonen, ob mit den Aufgaben gymnasiales Niveau erreicht worden sei, führten zum Experiment, die gleichen Aufgaben einer 9. Klasse vorzulegen – und zwar ohne vorbereitenden Biologieunterricht. Man staunte nicht schlecht, als von 27 Prüflingen nur vier eine ungenügende Note erreichten, der Rest schaffte eine genügende bis sehr gute Leistung. Den 14-Jährigen ist also ganz ohne Fachwissen «in einem kreativen Akt» gelungen, ihre «Ressourcen» zu mobilisieren und zu kombinieren. Das wundert nicht: Die Informationen waren schliesslich den beiliegenden Texten und Grafiken zu entnehmen, was lediglich Lesekompetenz erforderte. Dieses Beispiel und etliche weitere, die bereits 2017 an

Prof. Hans-Peter Klein: Kompetenzorientierte Abituraufgaben können von 14-Jährigen ohne Vorbildung gelöst werden.

der «1. (In-)Kompetenzkonferenz» in Frankfurt am Main von namhaften Hochschullehrenden verschiedener Fakultäten einer kritischen Analyse unterzogen wurden (Zusammenfassung nachzulesen im GH 5/17, S. 29 f.), zeigen, dass die Kompetenzorientierung, anders als behauptet, eben doch eine massive Veränderung darstellt: Fachwissen wird abgewertet und nimmt nur noch eine exemplarische Rolle ein, indem es den Kompetenzen unterzuordnen ist. Im Lehrplan 21 werden Inhalte daher, wenn überhaupt, nur als Möglichkeiten genannt.

Bislang werden in den gymnasialen Rahmenlehrplänen Grundkompetenzen – ganz im Sinne Klafkis – von den Stofflehrplänen getrennt aufgeführt. Die Lehrpersonen haben bis heute kraft ihrer fachlichen Ausbildung die Freiheit zu entscheiden, welche Grundkompetenzen anhand welcher Inhalte aufgebaut werden. Und das sollte bitte auch so bleiben, denn die Entscheidung darüber resultiert aus der Eigenart und Wesenhaftigkeit des jeweiligen Sachgebiets.

Es bestünde also gar kein Handlungsbedarf, wenn nicht seit PISA (2000) mit der Kompetenzorientierung und Standardisierung gleichzeitig der Anspruch einer steuer- und messbaren Output-Orientierung verbunden wäre (vgl. die ausführliche Analyse von Walter Herzog: Bildungsstandards, 2013).

Persönlichkeitsbildende Fähigkeiten zu fördern, die es für die Studierfähigkeit, für das Mittun in einer Gemeinschaft, in einem demokratischen Staatswesen und als Weltbürgerin oder Weltbürger braucht, das gehört ja zum Kerngeschäft jedes und jeder pädagogisch Tätigen. Es bestünde also gar kein Handlungsbedarf, wenn nicht seit PISA (2000) mit der Kompetenzorientierung und Standardisierung gleichzeitig der Anspruch einer steuer- und messbaren Output-Orientierung verbunden wäre (vgl. die ausführliche Analyse von Walter Herzog: Bildungsstandards, 2013).

Die teuren, an schwammigen Kompetenzen orientierten Französischlehrwerke verlieren sich in einer Modularisierung des Stoffes, vermitteln Grammatik in einer atomisierten Form, verzichten auf eine Systematik vom Einfachen zum Schwierigen sowie auf Festigung.

Dass wir in der Schweiz von den deutschen Zuständen der Entleerung der Bildungsinhalte nicht weit entfernt sind, offenbart das «Passepartout»-Debakel. Die teuren, an schwammigen Kompetenzen orientierten Französischlehrwerke verlieren sich in einer Modularisierung des Stoffes, vermitteln Grammatik in einer atomisierten Form, verzichten auf eine Systematik vom Einfachen zum Schwierigen sowie auf Festigung.

Die Baselbieter Englisch- und Französischlehrkräfte haben nun im Nachgang sogar erwirkt, dass dem kompetenzorientierten wieder ein inhaltlicher Lehrplan zur Seite gestellt wird: der Status quo im Gymnasium! Wieso nun sollte gerade das Gymnasium auf den entgleisten Zug aufspringen?

Erfolgsrezepte für einen guten Spracherwerb wurden den Kompetenzen geopfert. Trotz mehrerer Evaluationen, welche die fehlende Effizienz des Lehrwerks nachgewiesen haben, konnte der obligatorische Einsatz im Kanton Basel-Landschaft erst durch eine Volksinitiative aufgehoben werden. Man mag erahnen, wie viel Zeit, Nerven und Geld der gesamte Vorgang gekostet hat. Die Baselbieter Englisch- und Französischlehrkräfte haben nun im Nachgang sogar erwirkt, dass dem kompetenzorientierten wieder ein inhaltlicher Lehrplan zur Seite gestellt wird: der Status quo im Gymnasium! Wieso nun sollte gerade das Gymnasium auf den entgleisten Zug aufspringen?

Yasemin Dinekli, Kantonsschullehrerin

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