17. September 2024
Digitalisierung

Der drohende Sieg der virtuellen Welt

In “Generation Angst” zeigt Jonathan Haidt die Gefahren des Smartphones für kindliche Seelen auf. Ein Buchtipp von Alexander Grau, der im Cicero erschienen ist.

Der 9. Januar 2007 veränderte die Welt für immer. An diesem Tag stellte Apples CEO Steve Jobs ein internetfähiges Mobiltelefon vor – das iPhone. In wenigen Jahren sollte dieses Gerät das Denken und Fühlen, das Arbeiten und die Politik mehr verändern als jede andere Apparatur der jüngeren Geschichte.

Das lag auch daran, dass dank seiner eingebauten Kamera das iPhone Digitalfotografie unmittelbar mit dem Internet verkoppelte. Erst das iPhone hat Instagram, Tiktok und Co. möglich gemacht. Hinzu kam der explodierende Markt kostenfreier, aber werbebasierter Apps.

Gastautor Alexander Grau ist Deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Buchautor

Am anfälligsten für die neuen sozialen Medien, die verlockenden Apps und die Einflüsterungen der Werbeindustrie waren – wenig überraschend – Kinder und Jugendliche. Zwar übte zuvor schon das Fernsehen einen nachhaltigen Reiz auf diese Altersgruppe aus, doch der Fernseher war immobil, was die Bildschirmzeiten automatisch begrenzte.

Anders das Smartphone, das Heranwachsende überall begleitet. Es verändert das Heranwachsen in einer Weise wie selbst die Industrialisierung nicht. Es begann die Epoche der smartphone­basierten Kindheit.

Erstmals in der Evolution werden Jugendliche nicht in einer realen Umwelt groß, in der sie rennen, klettern und ihren Lebensraum erkunden, in der sie sich physisch verabreden, auf Plätzen herumlungern und erste schüchterne sexuelle Erfahrungen mit realen Partnern machen.

 

An diesem Punkt setzt der amerikanische Psychologe Jonathan Haidt mit seinem neuen Buch „Generation Angst“ an. Denn der Beginn der smartphone­basierten Kindheit markiert nicht nur ein Datum in der Technikgeschichte, sondern auch einen tiefen anthropologischen Einschnitt. Erstmals in der Evolution werden Jugendliche nicht in einer realen Umwelt groß, in der sie rennen, klettern und ihren Lebensraum erkunden, in der sie sich physisch verabreden, auf Plätzen herumlungern und erste schüchterne sexuelle Erfahrungen mit realen Partnern machen, sondern vor Touchscreens, die sie mit Spielen, sozialen Medien, einer Flut von Bildern, Videoclips und Pornografie versorgen.

In der realen Welt über-, in der virtuellen Welt unterbehütet

In der Verbindung mit anderen gesellschaftlichen Trends kam es zu einer gefährlichen Entwicklung: Kinder werden in der realen Welt überbehütet, in der virtuellen Welt aber unterbehütet. Die Folgen, so der Psychologe, seien verheerend.

Seit 2010, also seit der Massenverbreitung des Smartphones und der Einführung von Instagram, steigt die Zahl schwerer Depressionen bei Teenagern signifikant. Gleiches gilt für schwere Angststörungen und Selbstverletzungen, insbesondere bei Mädchen.

Haidt analysiert diese Entwicklung in seinem Buch mit großer Akribie.

Anhand von Statistiken verdeutlicht er, wie sich die psychische Gesundheit von Teenagern Anfang des 21. Jahrhunderts verschlechtert hat, bettet diese Zahlen ein in die technische und gesellschaftliche Entwicklung seit den 1990er Jahren und stellt diesen die neuropsychologische Entwicklung von Kindern und deren körperliche und geistige Bedürfnisse gegenüber.

Die Debatte ist überfällig

Fazit: Wir haben eine technische und soziale Umwelt geschaffen, die auf die Entwicklung von Kindern schwerste pathologische Auswirkungen hat. Die Forderungen des Psychologen sind radikal: keine Smartphones an unter 14-Jährige, keine sozialen Medien an unter 16-Jährige, keine Smartphones an Schulen. Jonathan Haidt hat ein wichtiges Buch für eine überfällige Debatte geschrieben.

 

Jonathan Haidt: Generation Angst. Rowohlt, Hamburg 2024. 448 Seiten, 26 Euro

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Ein Kommentar

  1. Haidt ist nicht der Erste, der auf die schädlichen Wirkungen der digitalen Medien auf Jugendliche hinweist. Wie wurde Manfred Spitzer mit seinen wissenschaftlich untermauerten Warnungen in “Digitale Demenz” und “Cyberkrank” angegriffen und als Untergangsprophet verunglimpft. Oder Gerald Lembke und Ingo Leipner, die sich mit dem Buch “Die Lüge der digitalen Bildung” 2015 gefallen lassen mussten, als “vakuumversiegelte Hohlbirnen” bezeichnet zu werden. Erst der Unesco-Bericht “Technology in Education” von 2023 brachte einen Umschwung der Betrachtungsweise, indem er die öffentliche Aufmerksamkeit auf die psychisch schwerwiegenden Folgen lenkte, die digitale Medien im Jugendalter mit sich bringen: Zunehmende Depressionen, Selbstverletzungen, Vereinsamung, Suizide. Damit ist nicht mehr zu spassen, viele beginnen sich ernsthaft Fragen zu stellen.. Dennoch ignorieren viele Bildungsfachleute die negativen Befunde weiterhin und lassen sich vor den Karren der IT-Milliardenunternehmen spannen.

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