8. September 2024
Eine faktenbasierte Polemik zum Reformprojekt «Allgemeinbildung 2030»

Zu dritt im Lotterbett

Nach dem versuchten und keineswegs gelungenen Umbauversuch der Volksschule sind nun das Gymnasium und die Berufsbildung ins Fadenkreuz der “Schulreformer” geraten. Condorcet-Autor und Berufsschullehrer Konrad Kuoni analysiert die Verfilzung der Akteure und die unheilige Allianz zwischen Politik und Privatwirtschaft.

Jedem Tierchen sein Pläsierchen! Staat und Privatwirtschaft – es braucht beide. Sie sollen sich weder feindlich gegenüberstehen noch händchenhaltend zusammen marschieren. Letzteres ist aber immer öfter der Fall, gerade auch in der Bildung, wo eine schädliche Verfilzung zu beobachten ist.

Je mehr auf den Kopf gestellt wird, je höher ist die Rendite.

Konrad Kuoni: Historiker, Berufsschullehrer und Präsident des Zürcher Verbandes der Lehrkräfte in der Berufsbildung (ZLB)

Die staatliche Bildungsbürokratie hat die Tendenz, sich beständig ausdehnen zu wollen, vergibt aber gleichzeitig im Zusammenhang mit anstehenden Reformen immer mehr Aufträge an private Bildungsfirmen. Man will lieber das eigene Gärtchen hegen als anstrengende Grundlagenarbeit leisten. Je radikaler die streng profitorientierten Bildungsinstitutionen die Reformen ausgestalten, je mehr lässt sich verdienen, da ja bekanntlich Zeit Geld ist. So dreht man nicht etwa vorsichtig an einigen Stellschrauben, sondern zerschlägt mit dem Vorschlaghammer funktionierende Strukturen – erst das rentiert richtig. Weil die Pädagogischen Hochschulen seit dem im Jahr 1999 gestarteten Bologna-Prozess drittmittelabhängig sind, sind auch sie Profiteure, dürfen sie doch die Reformen an den Schulen implementieren. Auch hier gilt: Je mehr auf den Kopf gestellt wird, je höher ist die Rendite. So gehen die staatliche Bildungsbürokratie, die privaten Bildungsinstitute und die Pädagogischen Hochschulen den Weg einträchtig zu dritt und landen schliesslich gemeinsam im Lotterbett. Wer Fragen stellt oder gar Kritik anbringt, wird als ewiggestrig gebrandmarkt.

Auf die Spitze getrieben wurde dies im Rahmen der KV-Reform 2022, mit welcher die private Bildungsfirma Ectaveo beauftragt wurde, im Übrigen ohne Ausschreibung, wofür allein der Bund CHF 1.2 Millionen hinblätterte.

Das Resultat ist der vollständige Verlust aller Schulfächer, verbunden mit einem unsäglichen Chaos, das die Lehrerinnen und Lehrer irgendwie auszubaden versuchen. Wer früher z.B. Wirtschaft unterrichtete, versucht heute etwa im Handlungskompetenzbereich «Handeln in agilen Arbeits- und Organisationsformen» Reste seines einstmaligen Faches künstlich am Leben zu erhalten, oft vergeblich.

Die Bildung kostet immer mehr Steuergeld, aber dieses landet nicht in der Schulstube.

Das Fazit dieser Entwicklung ist schnell gezogen: Die Bildung kostet immer mehr Steuergeld, aber dieses landet nicht in der Schulstube, die nach und nach verarmt, auch inhaltlich, sondern versandet in der staatlichen Bildungsbürokratie und den Pädagogischen Hochschulen oder gelangt in die Taschen der privaten Akteure. Kein Wunder, bezeichnet sich die aktuelle Unternehmensleiterin von Ectaveo auf der Homepage als «Porscheliebhaberin».

Leuten, die entweder nicht fähig oder nicht willens sind, sich in amtlichen Dokumenten einer wenigstens ansatzweise korrekten Sprache zu bedienen, sollte man niemals trauen, wenn sie Bildungsreformen anstossen.

Insofern ist die Reform «Allgemeinbildung 2030», um die es im Folgenden geht, nicht isoliert zu betrachten, sondern als pars pro toto. Die Vernehmlassung dazu endete am 1. Juli 2024.

«Allgemeinbildung 2030», 2018 gestartet, ist Teil von «Berufsbildung 2030», einem Projekt, das die Berufsbildung, «fit für die Zukunft» (offenbar ist man dies momentan nicht) machen und den Stellenwert der Allgemeinbildung stärken soll. Die Co-Projektleitung liegt beim SBFI (Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation) und der SBBK (Schweizerische Berufsbildungsämter-Konferenz), namentlich bei Monika Zaugg-Jsler und Odile Fahmy vom SBFI und Daniel Preckel, einem aus dem deutschen Münster stammenden Psychologen mit einem Doktorat in Psychologie. Seine Sporen verdiente er ausgerechnet bei Ectaveo ab, wo er von 2006 bis 2011, zuletzt als «Geschäftsleiter und Partner», tätig war. Nun ist er «Leiter Dienststelle Berufs- und Weiterbildung des Kantons Luzern». Darauf, dass die offiziellen, mit dem Signet der Schweizerischen

Daniel Preckel, ein Tausendsassa, der seine Sporen bei Ectaveo abverdiente.

Eidgenossenschaft versehenen Dokumente von SBFI und SBBK voller peinlicher orthografischer und grammatikalischer Fehler sind, habe ich an anderer Stelle schon hingewiesen. Leuten, die entweder nicht fähig oder nicht willens sind, sich in amtlichen Dokumenten einer wenigstens ansatzweise korrekten Sprache zu bedienen, sollte man niemals trauen, wenn sie Bildungsreformen anstossen.

Bei Interface arbeiten gemäss Homepage 51 Personen mit Hochschulabschlüssen, etwa in Soziologie, Bildungs- und Erziehungswissenschaften, Politologie und Ökonomie, 17 davon mit Doktortiteln. Interface durfte zunächst zuhanden des SBFI ein 129 Seiten dickes Review erstellen, das von Dezember 2019 bis März 2021 entstand und als Grundlage für weiterführende Arbeiten dient.

Die TBBK (Tripartite Berufsbildungskonferenz) begleitet das Projekt, die Eidgenössische Hochschule für Berufsbildung, die Pädagogischen Hochschulen Luzern, St. Gallen und Zürich sowie eine verbundpartnerschaftlich zusammengesetzte Begleitgruppe wurden einbezogen. So liest man es in den Dokumenten des SBFI. Was man dort erst nach langem Suchen entdeckt: Faktisch wurde das ganze Projekt an die private Firma Interface ausgelagert.

Bei Interface arbeiten gemäss Homepage 51 Personen mit Hochschulabschlüssen, etwa in Soziologie, Bildungs- und Erziehungswissenschaften, Politologie und Ökonomie, 17 davon mit Doktortiteln. Interface durfte zunächst zuhanden des SBFI ein 129 Seiten dickes Review erstellen, das von Dezember 2019 bis März 2021 entstand und als Grundlage für weiterführende Arbeiten dient.
Die TBBK wiederum ist nicht nur Begleiterin des Projekts, sondern muss offenbar selbst begleitet werden. Für deren «externe Projekt- und Prozessbegleitung» zuständig ist econcept. In dieser Firma arbeiten gemäss Homepage 20 Personen mit einem Studienabschluss an einer Universität oder der ETH.

Am 21. März 2024 erschien zuhanden des SBFI ein neuer, 61 Seiten langer Interface-Bericht mit dem Titel «Evaluation der Gremienstruktur der Berufsbildung: Teilprojekt 1 Befragung und Handlungsempfehlungen». Fünf Personen, darunter Ruth Feller, oberste Interface-Chefin, arbeiteten daran.

Seither ist vieles geschehen, so kam 2022 ChatGPT auf, was die Bewertung von Schlussarbeiten ungemein erschwert. Dennoch halten die Verantwortlichen im SBFI, in der SBBK und der TBBK unbeirrt an der Abschaffung der Schlussprüfung und der Aufwertung der Schlussarbeit fest.

Anlässlich einer Sitzung vom 1. Juli 2021, an welcher es um die Anforderungen an den Rahmenlehrplan Allgemeinbildung ging, wurde es konkret. Manfred Pfiffner, Professor an der Pädagogischen Hochschule Zürich, vehementer Verfechter der KV-Reform, der Kritikern nahegelegt hatte, den Beruf zu wechseln, regte an, die Schlussprüfung abzuschaffen und stattdessen die Schlussarbeit in Richtung einer Diplomarbeit aufzuwerten, als ob nach dem Erhalt des Eidgenössischen Fähigkeitszeugnisses direkt ein Universitätsstudium folgen würde. Ruth Feller nahm die Idee auf und transportierte sie weiter, alles nachzulesen im Protokoll, verfertigt von Interface auf Interface-Papier. Ob auch Ruth Feller gerne Porsche fährt, entzieht sich meiner Kenntnis.

Seither ist vieles geschehen, so kam 2022 ChatGPT auf, was die Bewertung von Schlussarbeiten ungemein erschwert. Dennoch halten die Verantwortlichen im SBFI, in der SBBK und der TBBK unbeirrt an der Abschaffung der Schlussprüfung und der Aufwertung der Schlussarbeit fest. Ein Unternehmen, das sich in keiner Weise auf derart radikal veränderte Rahmenbedingungen einliesse, ginge in kürzester Zeit pleite!

Preckel weiss es: Sich für eine Schlussprüfung vorzubereiten, das sei Bulimie-Lernen.

Viele andere Gründe neben ChatGPT sprechen gegen die Abschaffung der Schlussprüfung. Aktuell besteht ein zielgerichteter Aufbau. Alle Semesterzeugnisse zählen für die Endnote, im zweitletzten Semester schreibt man die Schlussarbeit, und am Ende der Lehrzeit kommt als letzter Höhepunkt die Schlussprüfung, für die noch einmal Kräfte freigesetzt und gebündelt werden sollen. Mit deren Wegfall fiele ein strukturgebender Pfeiler weg. Das Fach Allgemeinbildung, ohnehin eher stiefmütterlich behandelt, verlöre an Gewicht, zumal ja in den berufskundlichen Fächern weiterhin Schlussprüfungen zu absolvieren sind. Zudem gibt es für diejenigen, die sich weiterbilden (was ja sehr erwünscht ist!), später auch Schlussprüfungen, so für die eidgenössischen Abschlüsse «Berufsprüfung BP» und «höhere Fachprüfung HFP».

Warum sollen nicht auch in der Allgemeinbildung Teile des behandelten Stoffes am Ende noch einmal repetiert und gefestigt werden? Daniel Preckel weiss es: Sich für eine Schlussprüfung vorzubereiten, das sei Bulimie-Lernen, meint er, ein abgegriffenes und hässliches Bild benutzend. Wer anderer Meinung ist, wird wie der Schreibende kurzerhand vor versammeltem Plenum als «old fashioned» abgekanzelt. Evidenzbasiert ist diese Argumentation nicht; überhaupt fällt auf, dass keinerlei empirische Grundlagen bestehen, die zeigen würden, dass die Schlussprüfung ihren Zweck nicht erfüllt.

Aber an Daniel Preckel führt kaum ein Weg vorbei. Er ist nicht nur Co-Projektleiter, sondern auch im Vorstand der SBBK. Als Leiter des Teilprojekts 4 soll er künftig die Reform durchsetzen. Er hat diese also zunächst mitausgeheckt, nun verteidigt er sie, und schliesslich darf er sie implementieren. Praktisch, wenn alles aus einer Hand geht.

Auf Befindlichkeiten von Seiten der Lehrerinnen und Lehrer wird keine Rücksicht genommen. Anlässlich der Sitzung der TBBK vom 13. Dezember 2022 tönte es noch so: «Derzeit sind Diskussionen mit der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung EHB und den Pädagogischen Hochschulen im Gange, um (…) Konzepte zu entwickeln, die von allen getragen werden.» Das gilt nicht mehr.
Im Kanton Zürich ist es so, dass sowohl die öffentlich-rechtliche Lehrpersonenkonferenz der Berufsfachschulen LKB als auch der privatrechtliche Zürcher Verband der Lehrkräfte in der Berufsbildung ZLB sehr dezidiert die Beibehaltung der Abschlussprüfung fordern. Zudem sprachen sich von 19 eingereichten Stellungnahmen von Allgemeinbildungsfachschaften 14 klar gegen die Abschaffung aus, 3 hatten keine einheitliche Meinung, lediglich 2 begrüssten das Vorhaben. Der Regierungsrat des Kantons Zürich gibt in seinem Beschluss vom 12. Juni 2024 zwar zu, dass die Mehrheit die Schlussprüfung beibehalten will, aber das hindert ihn nicht daran, eine gegenteilige Position zu vertreten. Auf die Tatsache, dass zum Zeitpunkt, als die Abschaffung postuliert wurde, ChatGPT noch nicht existierte, geht der Regierungsrat nicht ein, ganz nach dem Motto: Wenn ein Problem nicht benannt wird, existiert es nicht. Vogel Strauss halt.

Ohnehin scheint schon alles beschlossen, Vernehmlassung hin oder her, schreibt doch die SBBK am 13. Mai 2024: «Per 1. August 2026 werden die Berufsfachschulen die revidierte Verordnung und den revidierten Schullehrplan für den Allgemeinbildenden Unterricht (ABU) umsetzen.»

Bemerkenswert ist die Rolle des SVABU (Schweizerischer Verband für allgemeinbildenden Unterricht. Die Präsidentin behauptet, ursprünglich habe es Pläne gegeben, das Fach Allgemeinbildung abzuschaffen, insofern sei das Resultat nun positiv. Belege dafür kann sie nicht nennen. Zudem schreibt sie, der SVABU vertrete in dieser Angelegenheit keine bestimmte Position, in der Vernehmlassungsantwort vom 17. Juni 2024 wird aber der Wegfall der Schlussprüfung begrüsst, obschon die meisten Stellungnahmen von Allgemeinbildungsfachschaften aus den Kantonen eine ganz andere Position vertreten.

Abschaffung der ABU-Abschlussprüfungen löst Kopfschütteln aus.

Immerhin ist nun die Politik im Spiel: Es gibt eine Anfrage an den Bundesrat von Nationalrätin Nina Fehr Düsel (SVP) und eine Interpellation von Nationalrätin Regina Durrer (Mitte), die sich beide für die Beibehaltung der Schlussprüfung einsetzen. Auch die SPS und die FdP plädieren in ihren Vernehmlassungsantworten vom 28. Juni resp. 1. Juli 2024 dafür.

Inwiefern denn nun das Fach Allgemeinbildung durch die geplante Reform gestärkt werden sollte, bleibt schleierhaft. Besser, als an ihr krampfhaft festzuhalten, wäre, man nähme sich eines Brecht-Zitats an: «Wer a sagt, der muss nicht b sagen. Er kann auch erkennen, dass a falsch war.»
Wie auch immer die Sache ausgehen mag: Die Illusion, dass es bei Bildungsprojekten um Bildung geht, habe ich zumindest vorläufig verloren.

 

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2 Kommentare

  1. Woher hat der Autor die Information, dass von 19 Antworten, 14 die Schlussprüfung beibehalten wollen? Auf der SBFI Website findet sich nichts. Ich selbst hatte zur KV-, zur ABU- und BM-Reform Antworten verfasst und diversen Verbänden und Parteien als Vorlage zur Verfügung gestellt.
    Dass das SBFI die Lehrpersonen jeweils, wenn überhaupt, zuletzt miteinbezieht, ist tatsächlich ein Problem. Ich werde dazu mal was schreiben .
    P.S. Gruss an Thomas Pfann.

    1. Lieber Herr Gräub
      Ich habe die Zahlen vom LKB.
      Beste Grüsse, diejenigen an Thomas Pfann richte ich gerne aus.
      Konrad Kuoni

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