Deutschlands Pisa-Debakel

“Je mehr Diversität in Schulklassen, desto nötiger ist eiserne Unterrichtsdisziplin”

Dass 15-jährige Schüler in Deutschland mit Ausnahme der Gymnasiasten so schlechte Pisa-Leistungen wie nie erbringen, liegt maßgeblich auch an einem Fakt: Kein anderes Land hat einen solchen Zuwachs an Kindern mit Migrationshintergrund erlebt. Welche Wege aus der Misere sehen Bildungsexperten? Wir bringen einen Beitrag von Alan Posener, der zuerst in der WELT erschienen ist.

Zuerst die gute Nachricht: In Deutschland gehören 31 Prozent der 15-Jährigen, die 2022 am Pisa-Test teilnahmen, zur Gruppe der weltweit privilegiertesten Schüler. “Ihre durchschnittliche Punktzahl in Mathematik betrug 534 Punkte”, heißt es in den “Country Notes” der Prüfer: “Dies ist einer der höchsten Werte für Schüler*innen mit ähnlichem sozioökonomischem Hintergrund.”

Gastautor Alan Posener, freier Autor

Bei allem Wehklagen über das neue “Pisa-Desaster” heißt das: Wenn Ihr Kind ein deutsches Gymnasium besucht, bekommt es wahrscheinlich einen guten Mathematikunterricht. Aber Raphaela Porsch, Professorin für Erziehungswissenschaft an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, stellt fest: “An nicht gymnasialen Schularten liegt der Anteil derjenigen, die nicht das Mindestniveau erreichen, bei 35 Prozent.” An den Gymnasien sind es tatsächlich nur 3,8 Prozent.

Diesem Befund entspricht, dass Deutschland nach wie vor Spitzenkräfte in Mathematik, Ingenieurwissenschaften, Naturwissenschaften und Technik – den Mint-Fächern – hervorbringt. Unter den 2000 weltbesten Mathematikern kommen 1137 aus den USA, es folgen Großbritannien mit 184 und Deutschland mit 163 vor China mit 136. Und in der EU sind bei Abschlüssen in Mint-Fächern Deutschlands Studierende Spitzenreiter: 35 Prozent aller Master- und vergleichbaren Abschlüsse entfallen auf ein Mint-Fach, im EU-Schnitt sind es nur 25 Prozent.

Allerdings hat ein Land, das sich laut Pisa aufspaltet in ein Drittel mit guten bis exzellenten und zwei Dritteln mit mittelmäßigen bis schlechten mathematischen, naturwissenschaftlichen und sprachlichen Fähigkeiten, ein Problem.

Aber was genau lernen wir aus der Untersuchung?

“Pisa ist in allen Ländern sinnvoll, in denen die Schulpolitik in einer Hand liegt”, gibt der Bildungsforscher Rainer Dollase zu bedenken: “Man erfährt alle paar Jahre, wie die zwischenzeitlichen Maßnahmen gewirkt haben.” Das gelte in Deutschland aber nicht – wegen der Bildungshoheit der Länder.

Würden die Bundesländer einzeln an Pisa teilnehmen, wie es etwa die chinesischen Provinzen Hongkong und Macao tun, wären Sachsen und Bayern nicht nur “in Deutschland führend”, sondern “weltweit in der Spitzengruppe”, vermutet Dollase. So aber würden “die luschigen Länder wie Bremen, Hamburg, Berlin, Nordrhein-Westfalen und noch ein paar andere ihr Versagen in der allgemeinen Klage über schlechte deutsche Schüler verstecken”.

So antwortet NRW-Bildungsministerin Dorothee Feller (CDU) auf die Frage, was aus der Studie folgt: “Die Pisa-Ergebnisse sind enttäuschend und dürfen uns niemals zufriedenstellen. Einen Leistungsabfall hat es zwar in den meisten Ländern gegeben, aber in Deutschland war er besonders groß.” Ihr Bundesland sei schon auf dem richtigen Weg: “Wir gehen weiter voran, und im Lichte von Pisa werden wir weitere Schritte prüfen und umsetzen entlang der Bildungskette.”

Fellers Parteikollegin Karin Prien, Bildungsministerin von Schleswig-Holstein seit 2017, meint: “Die Ergebnisse müssen für alle Verantwortlichen für Schule, Kita und Hochschulen und die Familien ein dringlicher Weckruf sein, die in ihrem Verantwortungsbereich begonnenen Anstrengungen und Reformen konsequent und nachhaltig fortzusetzen.” – Weiter voran, nachhaltig fortsetzen…?

Sämtliche Fortschritte zunichtegemacht

Schauen wir auf die Ergebnisse: Weltweit nahmen an Pisa 2022, organisiert von der OECD, eines Clubs wohlhabender Industrieländer, 690’000 Schüler im Alter von 15 Jahren aus 81 Ländern teil – stellvertretend für 29 Millionen gleichaltrige Mitschüler. In Deutschland waren es 6116 Schüler, stellvertretend für etwa 681’400, nicht ganz ein Prozent des Jahrgangs. Geprüft wurden Fähigkeiten in Lesen, Naturwissenschaften und Mathematik. Der Schwerpunkt lag auf der Mathematik.

Erschrocken stellte das Pisa-Team weltweit “einen beispiellosen Rückgang des Leistungsdurchschnitts” seit 2018 fest: “Der Leistungsrückgang in Mathematik ist dreimal so hoch wie jede vorherige Veränderung von einer Pisa-Erhebung zur nächsten.” Eine naheliegende Erklärung lassen die Experten nicht gelten: “Auf die Corona-Pandemie kann der Leistungsrückgang nur teilweise zurückgeführt werden.” Die Leistungen in Lesekompetenz und Naturwissenschaften haben demnach bereits vorher zu sinken begonnen, und auch bei den Mathematikleistungen waren teilweise schon vor 2018 negative Trends zu beobachten.

Quelle: Infografik Welt

 

Allerdings ist der Absturz Deutschlands besonders ausgeprägt. Die Werte von 2022 sind, so Francesco Avvisati, Pisa-Projektleiter für Deutschland, “die niedrigsten, die je in Deutschland gemessen wurden”. Schlechter als vor dem “Pisa-Schock” des Jahres 2000. Alle seitdem gemachten Fortschritte sind also zunichtegemacht worden.

Ein Drittel der Schüler erreicht nicht einmal das Mindestniveau, sechs von zehn sind es unter denen mit Migrationshintergrund. Und Avvisatis Kollegin Doris Lewalter ergänzte: Die Gruppe der leistungsstarken Schüler sei zurückgegangen, die der schwachen Schüler gewachsen. Im internationalen Vergleich ist Deutschland nur noch Mittelmaß.

Quelle: Infografik Welt

 

Im Länderreport ist zu lesen, dass der Rückgang der Leistung in allen drei Bereichen – Lesen, Naturwissenschaften und Mathematik – zwischen 2018 und 2022 in Deutschland etwa dem Lernfortschritt entspricht, den Schüler sonst in einem Jahr machen. Anders ausgedrückt: 2022 befanden sich die Schüler der 9. Klasse im Schnitt auf dem Niveau von Achtklässlern des Jahres 2018. In den Kompetenzbereichen Mathematik und Naturwissenschaften wurde Deutschland von den Spitzenreitern Singapur, Japan, Südkorea und Estland abgehängt, im Lesen zum Beispiel auch noch von Irland und Polen.

2022 befanden sich die Schüler der 9. Klasse im Schnitt auf dem Niveau von Achtklässlern des Jahres 2018.

 

Nun haben die meisten dieser Länder eine recht homogene Bevölkerung, sie erleben kaum Zuwanderung. Und es liegt nahe, in den Zuwanderungswellen der letzten Jahre die Hauptgründe für den Absturz zu sehen, neben Corona, das in Deutschland ein für den digitalen Fernunterricht völlig unvorbereitetes Schulsystem lahmlegte. Zwar schneiden auch typische Zuwanderungsländer mit heterogenen Bevölkerungen wie Kanada, die Schweiz und selbst die traditionell bei Pisa schwachen USA besser ab.

Aber keines dieser Länder hat einen solchen Zuwachs wie die Bundesrepublik an Kindern mit Migrationshintergrund erlebt. Deren Anteil an der Gesamtschülerzahl betrug hier 13 Prozent im Jahr 2012, heute beträgt er 26, in Berlin und ähnlichen Städten 40 Prozent.

“Rund ein Viertel Bildungsverlierer”

Angesichts solcher Zahlen meint der Schweizer Didaktiker Philippe Wampfler: “Aus meiner Sicht ist das Abschneiden nicht sonderlich schlecht. Die Ergebnisse haben damit zu tun, dass rund ein Viertel der Jugendlichen Bildungsverlierer sind. Sie haben schlechte Startchancen, können zu Hause nicht lernen und erhalten im System schlechtere Chancen.”

Michael Felten, “jahrzehntelang gerne Lehrer, heute freier Schulentwicklungsberater”, ergänzt: “Der Pisa-Absturz begann ja schon 2012, und natürlich spielen Ressourcenmängel, Pandemie-Folgen sowie breite Sprachdefizite eine Rolle.” Es deute sich aber auch eine Krise im Umgang mit der Jugend an: “Das Mantra ‘Selbstgesteuertes Lernen’ sowie die Reduzierung der Lehrerrolle auf ‘Lernbegleitung’ erweisen sich gerade für schwächere Schüler als Riesenproblem; überbehütende Eltern mit ihrer Ermäßigungspädagogik lassen zu wenig Anstrengungsbereitschaft bei Kindern entstehen.”

Lassen wir die “überbehütenden Eltern” beiseite, die wohl eher ein Problem in Gymnasien sind, und schauen wir uns die Problemzonen an, wo die Eltern eher abwesend sind: “Die schulische Realität in Brennpunkten, deren Pisa-Werte also weit unter dem deutschen Durchschnitt liegen, verlangt sofortiges Eingreifen”, meint Dollase. Und er hält für “vorrangig nötig”: “Ein hartes Sofortbekenntnis zu Disziplin und Motivation. Je mehr Diversität in Schulklassen, desto nötiger ist eiserne Unterrichtsdisziplin – Inklusion und Integration gelingen nur mit mehr Disziplin.”

Disziplin und Motivation allein nützen wenig, wenn die Lehrkraft weder auf die Anforderungen des Unterrichtens in einer Klasse mit 40 Prozent Migrantenanteil vorbereitet noch fachdidaktisch kompetent ist.

 

Erziehungswissenschaftlerin Porsch gibt zu bedenken: Die nicht gymnasialen Schulformen, oft in Wohngebieten mit schlechter Sozialstruktur, “sind auch jene, an denen deutlich häufiger als an Gymnasien Lehrkräfte fehlen”. Stunden fallen aus, fachfremde Lehrkräfte und Seiteneinsteiger unterrichten. “In NRW wurden im Schuljahr 2022/2023 40 Prozent des Mathematikunterrichts an Hauptschulen von Lehrkräften ohne eine Lehrbefähigung für das Fach erteilt, an Gymnasien waren es nur 4,9 Prozent”, rechnet Porsch vor. Mit anderen Worten: Disziplin und Motivation allein nützen wenig, wenn die Lehrkraft weder auf die Anforderungen des Unterrichtens in einer Klasse mit 40 Prozent Migrantenanteil vorbereitet noch fachdidaktisch kompetent ist.

Klar ist auch: Um zu verhindern, dass 15-Jährige an Deutsch und Mathematik scheitern, muss viel früher in der Bildungskette eingegriffen werden. Wie es die Kieler Ministerin Prien formuliert: “Es wird nur in Kooperation aller Verantwortlichen und mit kohärenten Strategien funktionieren.” Ihre Wunschliste ist lang, von Sprachförderung in der Kita bis zur Reform der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften.

Dollase hat noch einen charmanten Vorschlag: “Wer was ändern will, muss gezwungen werden, es vorzumachen. Alle – von den Ministerialbeamten bis zu den Hochschulen und den Referendarausbildern müssen vormachen können, wie es besser geht.” Dazu müssten sie einmal jährlich mehrere Wochen in einer Brennpunktschule unterrichten: “Unterrichtsverbesserung verlangt kompetentes Vormachen – auch unter erschwerten Bedingungen.”

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Prof. Dr. Klaus Zierer, Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg, gilt im deutschsprachigen Raum als der führende Hattie-Experte. Zudem bringt er sich regelmässig in bildungspolitische Debatten ein und gilt als einer der einflussreichsten Schulpädagogen in Deutschland. In diesem Vortrag fordert er eine bildungsphilosophischen Fundierung des Diskurses und deren Absicherung durch Ergebnisse der empirischen Bildungsforschung. Er räumt auch mit vielen Mythen in der gegenwärtigen Bildungsdebatte auf, die namentlich von PH-Kreisen munter kolportiert werden.

Ein Kommentar

  1. Ich kann gar nicht sagen, wie mich dieses milliardenteure Kaffeesatzlesen von Ergebnissen bescheuerter multiple-choice-Tests ankotzt. Oder wie mir diese ganzen “Bildungsforscher” auf den Sack gehen. PISA ist seit mehr als 20 Jahren ein ganz großer Teil des Problems und nicht der Lösung – schade, dass das noch nicht überall angekommen ist.

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