Notendebatte

Schulnoten ade – oder: Welchen Mehrwert hat ein anderes Beurteilungssystem?

Ein weiteres Mal soll die Schule reformiert werden. “Bildungsrevolution” heisst das Schlagwort. Statt sich auf die Schwachstellen zu konzentrieren, werden Nebenschauplätze bearbeitet, die keinen Mehrwert generieren.

Als es bei unserem Sohn um den möglichen Übertritt von der Volksschule in das Gymnasium ging, legte sein Klassenlehrer Prädikate vor, mit denen er uns Eltern belegen wollte, dass es für den Weg zur Matura keinesfalls reichen würde. Das Nachfragen, ob er die Leistungsbeschreibungen in der üblichen Notensystematik ausdrücken könnte, nannte er nach längerem Zögern die Note 4,92. Für den Übertritt an die Mittelschule brauche es mindestens eine 5.0; und überdies seien die Persönlichkeitsmerkmale nicht relevant. – Unser Sohn absolvierte die Maturität, studierte und schloss an der Pädagogischen Hochschule mit dem Master ab. Heute ist er Oberstufenlehrer an einer Volksschule.

Gastautor Niklaus Gerber

Solche Geschichten gehören längst der Vergangenheit an. An einer guten Schule sind die Lehrpersonen in der Lage, die Noten als Abbild einer transparenten und nachvollziehbaren Gesamtleistung der Schülerin oder des Schülers zu setzen. Dazu gehören periodische Beurteilungsgespräche, die den Leistungsstand, das Lern-, Arbeits- und Sozialverhalten bilanzieren. Das Ergebnis resp. die verschiedenen Reifegrade[1] können durchaus mit einer Note ausgedrückt werden. Dass – um die Präsidentin des LCH[2] zu zitieren – die Notenvergabe durch die Pädagoginnen und Pädagogen nach dem Prinzip “Handgelenk mal Pi” erfolge, gleicht einer Beleidigung.

Die erneute Diskussion um die Abschaffung der Noten findet auf einem Nebenschauplatz der Schule statt. Wenn es nämlich einer Schule oder einer einzelnen Lehrperson dienlich erscheint, Lerntagebücher, Lernkompasse, Portfolios, Kompetenzraster etc. einzusetzen, dann soll dies möglich sein. Dafür ist kein Paradigmenwechsel erforderlich, der zu keinem Mehrwert führt.

Ausbildungsbetriebe wollen sich selbst ein Bild machen

Kommt dazu, dass die Volksschulleistungen in der Lernenden-Selektion eine untergeordnete Rolle spielen. Die Ausbildungsbetriebe wollen sich selbst ein Bild – Stichworte sind Schnupperlehren, firmeneigene Tests, Interviews, usw. – machen.

Lehrpersonen dürfen nicht ständig mit neuen und pädagogisch fragwürdigen Ideen konfrontiert werden. Sie erbringen heute bereits eine grosse Leistung. Viel wichtiger wären Lösungsansätze, welche beispielsweise der denkwürdigen Aussage[3] entgegenwirken würden: “Bei Beendigung der Volksschule kann ein Viertel der jungen Menschen nicht genügend gut lesen, um einfache Texte zu verstehen. Auch beim Lösen einfacher Mathematikaufgaben bekunden viele Mühe.”

 

[1] Beispiel: Die Ausprägungen können in Reifegraden ausgedrückt werden. Diese abgestuften Grade ergeben eine Note.

[2] Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz

[3] “An den Schulen rumpelt es, wie noch nie.”, Tagesgespräch SRF vom 20.3.24 SRF mit Katharina Maag Merki,
https://www.srf.ch/news/schweiz/volksschule-im-fokus-bildungsforscherin-wir-haben-ein-riesiges-problem (Abruf 26.03.2024)

 

Niklaus Gerber, war bis zu seiner Pensionierung im August 2021 Abteilungsleiter und Mitglied der gibb-Schulleitung und hat sich mit NORDWÄRTS – Kompass für kompetente Führung selbständig gemacht.

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