Die LCH-Präsidentin Dagmar Rösler hatte in der Vergangenheit einige kecke bildungspolitische Forderungen in der Öffentlichkeit von sich gegeben. So bezeichnete sie die Noten als nicht mehr zeitgemäss, setzte sich für die Integrationspolitik in den Schulen ein, warnte vor der Abschaffung des Frühfranzösisch und befand auch die heute praktizierte Gliederung an der Volksschule als problematisch. Man weiss nicht genau, was sich hinter den Kulissen des Dachverbands der schweizerischen Lehrkräfte abgespielt hatte, aber zu Beginn der Diskussion stellte Rösler sofort fest: «Ich vertrete hier nicht einen Verband, sondern meine eigene Meinung!»
Damit war natürlich das Gespräch vorgespurt. Wenn man nicht die Präsidentin des Dachverbands als Kontrahentin vor sich hatte, sondern eine Primarlehrerin der 3. Klasse, die ihre persönliche Meinung vertrat, musste man sich nicht wundern, dass dieses Duell ziemlich einseitig verlief. Denn Dagmar Rösler verfügt ausser ihrem Amt kaum über eine profunde Kenntnis der Materie. Es war für die gut aufgelegte Nationalrätin der GLP und Anwältin ein leichtes, Frau Rösler in Widersprüche zu verwickeln. « Dagmar Rösler: «Noten, wird es noch lange geben!» Katja Christ: «Wozu denn keine Noten, wenn am Schluss doch Noten stehen müssen?»
Man konnte die Argumentationslinie von Dagmar Rösler nicht verstehen und fragte sich ständig, wo denn das eigentliche Problem sei. Ihr Argument, dass es aufgrund der Individualisierung gar keine Referenz mehr für die Beurteilung gibt, weil alle an ihren individuellen Aufträgen arbeiten ist zwar nachvollziehbar, behandelt aber ein ganz anderes Problem. Im gleichen Atemzug forderte die Präsidentin des LCH auch, dass Anstrengung bewertet werden soll. Aber wie? Im Prinzip war die Diskussion ein Musterbeispiel dafür, wie heute die Diskussion über den penetrant geforderten Umbau der Schule geführt wird: Man kann die Argumente nicht nachvollziehen, weil sie diffus und wenig belastbar sind. Katja Christ bemühte sich um eine Versachlichung, stellte Fragen (Was sind denn die Alternativen?) und betonte immer wieder, dass die Noten ja durchaus ihre Mängel haben, aber bisher die einfachste, ökonomischste und effizienteste Rückmeldung darstellen. Und selbstverständlich müssen Noten begründet, transparent und nachvollziehbar sein. So what?, könnte man nach der Sendung sagen. Immerhin zeigt es sich, wie wichtig kontradiktorische Diskussionen sind. Bisher konnten Rösler, Minder, Berger, Müller und Co. in den Medien immer ohne nervende Zwischenfragen und Gegenargumente ihre schwurbligen Thesen verbeiten. Nach so einer Sendung kann man feststellen: “Die Kaiserin ist nackt!”
Die Diskussion auf dem Sender TeleZüri brachte in der (zu) kurzen Zeit erstaunlich viele aufschlussreiche Aussagen der beiden Kontrahentinnen. Katja Christ deckte in der Notendiskussion überzeugend auf, welche krassen Widersprüche bei diesem Thema vorhanden sind. Vermisst habe ich einzig die Frage, wie im Rahmen des bestehenden Systems Prüfungen so fair gestaltet werden können, dass schlechte Noten vermieden und gleichzeitig gute Schüler eine starke Motivation erfahren. Doch dafür fehlte die Zeit.
Bei der Integration merkte man Dagmar Rösler an, dass sie die Hilferufe von unzähligen Klassenlehrkräften nicht mehr überhören kann und offensichtlich auch nicht mehr überhören wollte. Die Botschaft, dass die Totalintegration gescheitert ist, wollte sie aber nicht gelten lassen. Sie versuchte sich mit der politisch nicht mehrheitsfähigen Forderung nach mehr Ressourcen zu retten. Dieser Ausweg führt in eine Sackgasse und wird nichts zu einer Überwindung der Integrationskrise beitragen.
Dennoch habe ich die grosse Hoffnung, dass dank der beiden Förderklassen-Initiativen (BS und ZH) definitiv Bewegung in die festgefahrene Situation gekommen ist. Katja Christ hat signalisiert, dass man für flexible Lösungen mit einem Nebeneinander verschiedener Integrationsmassnahmen bereit sei. Jetzt liegt es an den Lehrerverbänden und der Bildungspolitik, sture Dogmen wie die radikale Ablehnung von Förderklassen über Bord zu werfen und neue Wege zu beschreiten. Geschieht dies nicht, wird man sich aufgrund der fehlenden Ressourcen wohl ein weiteres Jahrzehnt im Kreis drehen. Doch dieses Szenario kann sich unsere Volksschule nicht länger leisten.