24. April 2024

Von diffusen Ängsten und mutiger Klarheit

Dem Gegner diffuse Ängste vorzuwerfen, ist ein altes Muster der Diskursstrategie, wenn die eigenen Argumente nicht überzeugen. In den Auseinandersetzungen um den Lehrplan 21 ist dieser rhetorische Zweihänder oft angewendet worden. Ein Blick zurück und der Vergleich mit der heutigen Situation ist reizvoll. Condorcet-Autor Alain Pichard erinnert sich und dreht den Spiess um!

Hans Hess, Präsident von Swissmem

Hans Hess, Präsident von Swissmem (Verband für KMU und Grossfirmen der schweizerischen Maschinen-, Elektro- und Metall-Industrie) zog im Vorfeld der Lehrplan-Abstimmungen über die Lehrplangegner her: «Insgesamt ist die am Lehrplan 21 geäusserte Kritik schwer fassbar, wenig fundiert und ergibt in der Sache keinen roten Faden.» (18.5.2014) Und René Will, Ressortleiter Bildung von Swissmem, doppelte am 30.11.2016 nach: «Hier werden unbegründete und diffuse Ängste geschürt.»

Assistiert wurden diese Aussagen u. a. von linker Gewerkschaftsseite. Im Magazin VPOD-Bildungspolitik schrieb Thomas Ragni, VPOD- und Denknetz-Mitglied sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter im SECO (Staatssekretariat für Wirtschaft): «Pichard /Kissling drücken an diversen Stellen ihr diffuses Unbehagen aus» und einige Zeilen weiter psychiatrisierte er die Gegner: «Entscheidend ist, dass die Angst selber real ist und sich ein Objekt Freudscher Rationalisierung suchen muss». (VPOD-Bildungspolitik, April 2015, S. 22).

Gestandene Wirtschaftsleute und Altmarxisten vereint

Es ist eine Konstellation, an die man sich mittlerweile gewöhnt hat. Gestandene Wirtschaftsleute und Altmarxisten im bildungsfernen Beamtenstatus loben die Kompetenzorientierung und diffamieren ihre Gegnerschaft mit den Worten: «Diffuse Angst»!

Wer hat hier eigentlich Angst?

Es ist im Vergleich durchaus interessant, die real existierenden Bedingungen der Leute zu beleuchten, welche zur Zielscheibe dieser bewährten Allianz geworden sind und von den eingangs erwähnten Herren mit dem Etikett «diffus» und «ängstlich» belegt werden. Hier ein paar Müsterchen aus den letzten Monaten:

Poster im Lehrerzimmer des OSZ-Orpund
Bild: api

Lehrer P. hängte im Lehrerzimmer seiner Schule in einer bernischen Gemeinde einen Artikel von mir am Wandbrett auf. Meine Kolumne wurde von seinem Schulleiter umgehend entfernt, P. wurde ins Büro zitiert. Es folgte ein dreistündiges Mitarbeitergespräch mit der freundlichen Empfehlung, dass man – wenn man mit dem Gang der Dinge nicht mehr einverstanden sei – ja auch einen anderen Arbeitsort suchen dürfe. Wie entscheidet sich ein 57-jähriger Familienvater, der in der Nachbargemeinde beheimatet ist und dort auch ein Haus erworben hat? In diesem Fall meldete er sich bei mir und drohte seinem Vorgesetzten, den Druckversuch an die Öffentlichkeit zu bringen. Bestraft wurde er mit einer unattraktiven Lektionenzuteilung und einem miserablen Stundenplan. Er unterrichtet heute noch an der Schule, achtet aber darauf, sich professionell nichts zu Schulden kommen zu lassen. Wer hat hier Angst? Lehrer P., der die Entwicklung mit der Kompetenzorientierung mit Sorge betrachtet, oder der Schulleiter, der eine schulinterne Diskussion mit dem Mittel der Repression unterbinden wollte?

Den Lehrkräften der Gemeinde Wigoltingen, die das Projekt «Lernlandschaften» nicht mittragen wollten, wurde unter Androhung personalrechtlicher Konsequenzen untersagt, mit dem Disput an die Öffentlichkeit zu gehen. Trotzdem entschieden sie sich zu einem offenen Brief und brachten den Konflikt an die Öffentlichkeit. Wer hat hier Angst? Die Lehrkräfte, die dem behördlichen Druck standhielten, oder die Schulpflege, die den öffentlichen Diskurs mit einem Redeverbot unterdrücken möchte?

In der Gemeinde Buttikon kündigten 15 Lehrkräfte, weil sie die von oben verordnete Vision 2025 (die ebenfalls Lernlandschaften vorsieht) nicht mittragen wollen. Auch hier ging ein rüder Rechtsstreit mit Redeverbot voraus. Wer hat in diesem Fall Angst? Die Lehrkräfte, welche sich eine andere Stelle suchen, – und dies im völligen Bewusstsein, fortan den Nimbus des «Neinsagers» im Portefeuille zu wissen – oder die Schulleitung, welche auch hier jeglichen Dialog ablehnte und auf ihre Steuerungskompetenz verwies?

Beurteilungsbogen der Kindergärten in St. Gallen, Seite 9 von insgesamt 12 Seiten

Die 12 Lehrerinnen, die sich in der Stadt Basel gegen die Vermessungsorgie ausgesprochen hatten und dies in einem öffentlichen Schreiben (BAZ) kundtaten, wurden vom Erziehungsdepartement ebenfalls zitiert. Es wurde ihnen klar gemacht, dass sie mit personalrechtlichen Konsequenzen zu rechnen hätten, sollte sich dergleichen wiederholen. Wer hat hier Angst? Die Primarlehrerinnen, welche sich weigern wollten, diese fragwürdigen Kompetenzbögen auszufüllen, oder die Behörde, welche von ihren Untergebenen bedingungslose Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber einfordert!

Auffallend ist die völlige Absenz der Personalverbände

Auffällig bei diesen Mosaikteilchen des gegenwärtigen bildungspolitischen Sittenbildes ist die völlige Absenz der jeweiligen Gewerkschaften, deren Aufgabe es ja eigentlich wäre, ihre Mitglieder zu verteidigen. Aber auch aus den Personalverbänden hört man immer mehr den Tenor:  Angestellte einer Bildungsinstitution hätten gegenüber dem Arbeitgeber eine Loyalitätspflicht.

Die famose Vorladung des Erziehungsdirektors

Zum ersten Mal vernahm ich solche Voten im Jahr 2003. Ich war damals neben Res Aebi, dem Langnauer Sekundarlehrer, einer der bekanntesten Lehrkräfte, welche die neue Beurteilung (SCHÜBE) im Kanton Bern bekämpften. Ich tat dies auch in der Öffentlichkeit, was mir eine Vorladung des damaligen Erziehungsdirektors Annoni nach Bern einbrachte.

Die Veröffentlichung dieser Karikatur des Autors brachte das Fass zum Überlaufen

Mein Schulkommissionspräsident, so hörte ich später, hätte mich am liebsten entlassen. Meine damalige Schulleitung befürwortete zwar die neue Beurteilung, wandte sich aber entschieden gegen eine Entlassung. Der Kommissionspräsident war aber an jener Sitzung ebenfalls anwesend. Und so sass ich einer breiten Allianz von Politik, Wissenschaft und Bildungsverwaltung gegenüber (insgesamt 8 Personen). Damals war ich noch VPOD-Mitglied, und so sicherte ich mir die Begleitung von Nico Lutz, der an meiner Seite sass, und mich verteidigen sollte.

Nico Lutz, heute Gewerkschaftssekretär der Unia Bild Unia

Er hatte eine delikate Situation zu lösen, denn der Vorstand der VPOD-Lehrergruppe unterstützte die behördliche Vermessungsorgie ohne vorherige Absprache mit der Basis. Der heutige UNIA-Sekretär löste seine Aufgabe mit Bravour. Ich ging erhobenen Hauptes aus der Auseinandersetzung hervor, zumal eine von Res Aebi organisierte Unterschriftensammlung ein vernichtendes Urteil zeitigte und die ganze Sache noch einmal überarbeitet werden musste. Doch muss ich zugeben, dass ich vor dieser Verhandlung eine schlaflose Nacht hatte. Als Organisator eines Lehrerstreiks und aktiver Gewerkschafter im linken VPOD wäre eine Anstellung in einer anderen Gemeinde kein leichtes Unterfangen gewesen. Für einen dreifachen Familienvater keine einfache Situation.

Staatsschule versus öffentlich-rechtliche Anstellung

15 Jahre nach dieser Auseinandersetzung scheint sich der Loyalitätszwang und damit die Staatsschule durchgesetzt zu haben. Das Anstellungsverhältnis an einer Staatsschule (wie auch an einer Privatschule) verlangt eine Loyalitätspflicht gegenüber dem Arbeitgeber. Doch die öffentlich-rechtliche Anstellung verpflichtet Lehrerinnen und Lehrer gleichzeitig zu einer Loyalität gegenüber ihren Schülerinnen und Schülern und deren Eltern. Daraus entstehen Dilemmata, früher wie heute. Diesen Grauzonen pädagogischen Wirkens möchte die Allianz von Politik, Verwaltung und Wissenschaft mit der Implementierung neuer Führungsstrukturen entgegenwirken. Ziele sind mehr Steuerung, mehr Kontrolle und eine leichtere Vollzugsgewalt.

Rinks und lechts – was soll’s?

Dass die Wirtschaftsleute Hess und Will eine solche Hierarchisierung begrüssen, ja diese sogar propagieren, ist nicht weiter erstaunlich, entspricht sie doch dem Selbstverständnis des Unternehmers. Nicht ganz überraschend findet man aber auch Sympathien für solche Zentralkomitee-artige Verfügungsgewalt und Zentralismusbestrebungen bei den Linken.

Und damit wären wir wieder bei unserem eingangs erwähnten rhetorischen Kampfbegriff. Genau die Implementierung dieser Führungsstrukturen war eine jener «diffusen Ängste», welche mich und meine MitstreiterInnen damals umtrieb. Womit wir beim zweiten «Totschlagargument» der Lehrplanbefürworter angelangt wären.

Wer ist hier eigentlich «diffus»?

Dass die Herren Hess und Will unsere Kritik am Lehrplan 21 als konfus empfanden, kann man durchaus nachvollziehen. Ihr Bildungsideal orientiert sich an der Berufsbildung. Klar formulierte Kompetenzen, auf Anwendbarkeit ausgerichtete Bildung, effizient geplant, möglichst standardisiert, outputorientiert, Bildung nach dem Prinzip der Produktion von Kühlschränken in einer modernen Produktionsstätte. Diesen Leuten das Humboldt’sche Bildungsideal entgegenzuhalten, ist natürlich vermessen.

Ob allerdings die im Lehrplan enthaltenen Kompetenzziele immer den Wunsch nach Verständlichkeit und Klarheit erfüllen, darf bezweifelt werden. So hat auch das Kompetenzziel im Fach Musik: «… kann seinen Körper sensomotorisch wahrnehmen und musikbezogen reagieren …»  durchaus ein gewisses «Diffusitätspotential».

Beat Kissling und die Autoren in der lehrplankritischen Broschüre «Einspruch» können natürlich nicht für alle Lehrplangegner die Hand ins Feuer legen. Aber ihre Kritik an der Vermessung, am Ansinnen, mit den überfachlichen Kompetenzen Gesinnung zu erzeugen, ihre  Befürchtung, dass die Idee des selbstgesteuerten Lernens grossflächig in die Schulen unseres Landes implementiert werden soll (notabene mit fatalen Konsequenzen für die Kinder der unterprivilegierten Schichten), die Warnungen vor der neuen Top-down-Steuerungsphilosophie, vor dem Abzweigen beträchtlicher Summen im Bildungsbereich für den Überbau, vor der Einschränkung der Methoden- und Lehrfreiheit und die Behauptung, dass Bildung zu Ausbildung werden soll, sind eigentlich klar formuliert. Man muss sie nicht teilen, aber unverständlich oder diffus waren und sind diese Befürchtungen nicht.

Interessant war vielmehr, dass die Lehrplangegner, allen voran der Pädagogikprofessor Roland Reichenbach, immer wieder eine Prüfung für all die Behauptungen unserer Reformeiferer anmahnten. Das ist das Gegenteil von diffus, es ist nachvollziehbar.

Diffus sind hingegen viele der ausgeklügelten Kompetenzraster, diffus ist die neue Mehrsprachendidaktik, diffus die Begründung für das Frühfranzösisch, diffus sind die vielen personalen Kompetenzen im Kindergarten.

Diffus ist das bildungspolitische Standing der Linken

Richtig diffus wird es allerdings, wenn wir die linken intellektuellen Purzelbäume und Verrenkungen der vergangenen Jahre betrachten. Schrieb die SP in ihrer Bildungsoffensive 2007 noch: «Die SP-Schweiz fordert schweizweit verbindlich definierte Bildungsstandards. Mittels standardisierter Tests sollen transparente und messbare Leistungsziele und darauf aufbauend Zertifikate vergeben werden»! Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Die SP forderte damals nichts weniger als standardisierte Tests, welche sogar über Zugänge zu Bildungswegen entscheiden können (oder was um Gottes Willen bedeuten Zertifikate denn sonst?).

Heute, elf Jahre später, fordert der VPOD in seinem Bildungsmagazin (Nr. 207, Juli 2018, S. 29): «An der Schule wollen wir keine Leistungschecks.» (Beatrice Messerli, Grossrätin Basta).

Unsere Warnung vor einer Ökonomisierung der Schule bezeichnete eingangs zitierter Thomas Ragni noch als «Phantomschmerz der Linken» (VPOD-Bildungspolitik, 196, 2016, S. 20-22).

Zwei Jahre später schreibt Genosse Ragni: «Der selektive Erfolg des Mainstreams der Bildungsökonomik erklärt sich aus den strukturellen Investitions- und Finanzierungszwängen im Bildungsbereich, denen kapitalistische Gesellschaften unterworfen sind. Ihre Basisannahmen reflektieren entsprechend die Erfolgsbedingungen der Kreislauf- und Akkumulationsprozesse im Kapitalismus. Ausgangspunkt muss auf Investitionsseite die Mainstream-Theorie des ‹Humankapitals› sein, die Wissen und Können als ein in den Individuen verkörpertes Asset behandelt.» (VPOD-Bildungspolitik Nr. 207. 2018 S.20)

Abgesehen von diesem reichlich abgehobenen neumarxistischen Slang, den junge Lehrkräfte heute kaum noch verstehen, ist schwer nachzuvollziehen, weshalb führende Mitglieder des VPOD sich heute so leichtfertig ins Boot der Wirtschaft setzen, wenn es um die aktuellen Schulreformen geht. Wenn diffus heisst: unklar, konturlos, verschwommen (Duden), dann kann man den Begriff heute durchaus als Beschreibung linker Bildungspositionen anwenden.

Die Wirklichkeit ist viel profaner

Wahrscheinlich ist die Wirklichkeit viel profaner. Es sind damals wie heute zwei Welten, die da aufeinanderprallen. Hier eine bildungsbürokratische Wunschprosafabrik, die von Potentialen und Chancen spricht, die unbegrenzte Möglichkeiten sieht, welche ohne Belastungsfolgen thematisiert werden. Dort die Praktiker, welche gelernt haben, Rhetorik und Praxis zu unterscheiden. Und in der Tat sind auch Ängste im Spiel. Hüben wie drüben. Sorge um die Entwicklung der Schule und auch Angst vor der Veränderung auf der einen, Angst vor dem Gesichts- und Auftragsverlust auf der anderen Seite. Mut kann man nur haben, wenn man die Angst überwindet. Das zeigen uns die Lehrkräfte in Basel, Wigoltingen oder Buttikon. Das zeigt uns auch Diane Ravitsch mit Ihrem Buch «Reign of Error» mit der eindrücklichen Selbstkritik «Ich bekenne, ich habe mich geirrt»!

Wir haben eigentlich keine Wahl. Wir haben Angst und müssen mutig sein (Hans Dieter Hüsch). Die Schule hat Kämpfer nötig heute mehr denn je. Es ist wichtig, all diese Reformruinen, die uns eine ausser Rand und Band geratene Bildungsbürokratie in die Gegend stellt, gar nicht erst entstehen zu lassen, statt hinterher über sie zu weinen. Es braucht mehr Leute vom Format eines Herrn P. oder der Wigoltinger Lehrkräfte, denn Mut ist in dieser Anpassungsgesellschaft eine Tugend von grosser Sprengkraft geworden.

 

 

 

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