Die FDP bezieht Stellung zur Volksschule

Keineswegs polemisch

Das Bildungspapier, das die FDP vor einer Woche an ihrer Delegiertenversammlung verabschiedet hatte, schlug in der Schweiz wie eine Bombe ein. Die Reaktionen – vor allem aus dem Bildungsestablishment – fielen ungnädig bis empört aus. Condorcet-Autor Felix Schmutz hat das Papier gelesen. Erkennt viele gute Ansätze, benennt aber auch seine Schwächen.

Am 22. Juni stellte die FDP ihr Positionspapier zur Rettung der Volksschule vor, die sie durch Fehlentwicklungen gefährdet sieht. Das Papier nennt 17 «Handlungsfelder», die verändert werden müssen, um die Wirksamkeit der Schweizer Volksschule zu verbessern. Die FDP will damit eine breite Bildungsdebatte anstossen. (1)

Felix Schmutz, Baselland: Die empörten Reaktionen werden dem Papier nicht gerecht.

Die Kritik am Vorstoss der FDP liess nicht lange auf sich warten. Schon ein Tag nach der Ankündigung zitiert die Basler Zeitung SP-Nationalrat Islam Alijaj mit dem Aufschrei: «Rote Linie überschritten». Mitte-Nationalrätin Marie-France Roth Pasquier, der Direktor des Zentrums für Heil- und Sonderpädagogik Romain Lanners und die Präsidentin des LCH, Dagmar Rösler, schliessen sich der empörten Reaktion Alijajs an. Die genannten Fachleute schäumen vor Wut. Der ideologische Kampf ist eröffnet. (2)

Hauptsächlich entzündet sich der Widerstand am zweiten Handlungsfeld des Positionspapiers, der integrativen Schule. Die FDP schreibt dazu Folgendes:

Die integrative Schule erreicht die Ziele nicht

 In der Praxis hat sich die integrative Schule zu wenig bewährt. Sie benachteiligt unter den gegebenen Voraussetzungen die lernschwachen Kinder und hindert den Regelunterricht. Integration ist erstrebenswert, aber Inklusion um jeden Preis ist nicht zielführend. Vorhandene Schwächen bei Schülerinnen und Schülern müssen künftig wieder vermehrt gezielt und individuell angegangen werden können. Ebenso soll die Volksschule Kinder mit besonderen Begabungen entsprechend fördern. Die künstliche und sehr teure Gleichmacherei in Form einer ausnahmslosen Integration nützt niemandem und untergräbt die Chancengerechtigkeit.

 Liest man diesen Text unvoreingenommen, stellt man fest, dass er – mit Ausnahme des Vorwurfes der «Gleichmacherei» – keineswegs polemisch oder populistisch formuliert ist, sondern nüchtern feststellt, was in zahlreichen Schulstuben der Schweiz Realität ist: Kinder, die ausrasten und andere am Lernen hindern; Kinder, die in Nebenräume oder im Gang etwas vor sich hin werkeln; Lehrpersonen am Rande des Nervenzusammenbruchs; die mangelnde Zahl von betreuenden Heilpädagoginnen; Senioren als Assistenzen; Kinder mit Kopfhörern wegen des Lärms, etc.

Reflexartig werden ideologisch-gefärbte Kategorien beschworen, die jedoch eine völlige Überinterpretation des FDP-Textes darstellen.

Der Text fordert nicht die Separierung der Kinder, wie die Kritiker unterstellen, sondern Massnahmen, die sicherstellen, dass alle Kinder, sowohl die lernschwachen, die normal begabten als auch die besonders begabten, ihren Voraussetzungen gemäss gefördert werden können, damit für alle Chancengerechtigkeit besteht.

Die Kritiker argumentieren mit «Aussortieren der Schwachen», mit der Inklusion als «Menschenrecht», mit einem angeblichen «Widerspruch zu wissenschaftlichen Erkenntnissen», mit «rückständiger» Lösung. Reflexartig werden ideologisch-gefärbte Kategorien beschworen, die jedoch eine völlige Überinterpretation des FDP-Textes darstellen:

«Schwächen gezielt» angehen bedeutet nicht «aussortieren», sondern zu besseren Chancen verhelfen. Die Integrierer wollen dasselbe, indem sie Betreuungspersonal in die Klassen schicken, was jedoch angesichts des Fachkräftemangels nur punktuell stattfindet und Unruhe ins Unterrichtsgeschehen bringt. Die Schwachen erhalten im Übrigen keine besseren Chancen, wenn im Klassenzimmer Chaos herrscht, abgesehen davon, dass auch die normal Beschulbaren nicht optimal gefördert werden.

Ein Widerspruch zur Forschung besteht nicht, denn eine breite Metastudie der Universität Kopenhagen hat festgestellt, dass weder punkto Leistung noch punkto Diskriminierung ein Nachteil bei der separativen Beschulung von Kindern mit besonderem Bildungsbedarf besteht.

Ein Widerspruch zur Forschung besteht nicht, denn eine breite Metastudie der Universität Kopenhagen hat festgestellt, dass weder punkto Leistung noch punkto Diskriminierung ein Nachteil bei der separativen Beschulung von Kindern mit besonderem Bildungsbedarf besteht. Dass die immer wieder erwähnten Studien (21’000 an der Zahl) schwere Mängel aufweisen, ist eine weitere Erkenntnis dieser aufwendigen und sorgfältigen Überblicksstudie. (3)

Die Menschenrechtskonvention (MRK) kann wörtlich oder sinngemäss ausgelegt werden. Sinngemäss sollen alle Menschen, auch die Benachteiligten, die Bildung erfahren, die ihnen die bestmögliche Partizipation am gesellschaftlichen Leben ermöglicht. Förderklassen «sortieren nicht aus», sondern sollen die geeigneten Ressourcen schaffen, damit genau diese Chancengerechtigkeit auch für Schwächere hergestellt werden kann.

Hermann Giesecke wies 2015 auf die Umdeutung des Bildungsartikels der MRK im Deutschen hin. Integration (Einbeziehung) wurde zur Inklusion (Einschliessung) mit dem Unterschied, dass nicht Partizipation das Ziel war, sondern die Anpassung der Gesellschaft an die Behinderten und Benachteiligten. Deshalb sind die disruptiven Folgen der schulischen Integration eigentlich gewollt. Alle Kinder sollen mit den Störungen und Schwächen der Benachteiligten ständig konfrontiert sein und sich darauf einstellen müssen. (4)

Im Gegenteil, und das ist gerade die Schwäche des Positionspapiers: Es benennt Handlungsfelder mit dringendem Besserungsbedarf, bringt aber keine ganz konkreten Ideen zur Umsetzung.

«Rückständig» ist ein beliebtes Totschlagargument, mit dem jede Diskussion in nuce verhindert werden kann. Jede Tätigkeit, die frühere Generationen ausgeübt haben, kann man als rückständig verunglimpfen. Das ist jedoch noch kein negatives Qualitätsmerkmal. In diesen Tagen wird gerne an Immanuel Kant (1724-1804) erinnert, dessen Gedanken noch heute als wegweisend und nicht als «rückständig» gelten. Mit «rückständig» wird «schlecht», da überholt, insinuiert. Der FDP-Text verlangt jedoch mit keinem Wort eine Rückkehr zu einem schlechten Zustand.

Hermann Giesecke, 9. August 1932 in Duisburg; † 4. September 2021, deutscher Erziehungswissenschaftler: Es fand eine Umdeutung statt.

Im Gegenteil, und das ist gerade die Schwäche des Positionspapiers: Es benennt Handlungsfelder mit dringendem Besserungsbedarf, bringt aber keine ganz konkreten Ideen zur Umsetzung. Die Umsetzung bleibt bei sehr allgemeinen Forderungen stehen, die dann beliebig interpretiert werden können:

Was soll konkret an die Stelle der gescheiterten integrativen Schule treten? Wie sollen lernschwache Kinder «gezielt» gefördert werden? Wer gilt als lernschwach? etc. Da stellen sich viele Fragen zur detaillierten Umsetzung. Wer soll im Übrigen die angestrebte verbesserte Volksschule planen? Soll wiederum, wie beim Lehrplan 21, ein abgehobenes Team ohne jeden Wirklichkeitsbezug den Auftrag erhalten und ein Alibi-Kopfnickergremium aus Lehrpersonen die Vorschläge absegnen?

Die Form der Debatte ist mit den heftigen Reaktionen bereits vorgezeichnet: Es wird zu einem erbitterten Parteienhickhack zwischen Links und Bürgerlich/Rechts kommen, anstatt dass zunächst einmal eine ehrliche Analyse des Zustandes der Volksschule vorgenommen wird und Verbesserungen schrittweise, wo empfehlenswert, vorgenommen werden, und zwar ohne ideologische Scheuklappen. Der dringende Handlungsbedarf besteht.

(1) https://www.fdp.ch/fileadmin/documents/fdp.ch/pdf/DE/Positionen/Bildung_Forschung_Innovation/Positionspapiere/20240622_PP_Bildung_d.pdf

(2) «Rote Linie überschritten» – FDP-Präsident löst Kritik aus, in Basler Zeitung vom 21.06.2024, S.2.

(3) Nina T. Dalgaard | Anja Bondebjerg | Bjørn C. A. Viinholt | Trine Filges:

The effects of inclusion on academic achievement, socioemotional development and wellbeing of children with special educational needs, VIVE—The Danish Centre

for Social Science Research, Copenhagen, Denmark. Campbell Systematic Reviews. 2022.)

(4) Hermann Giesecke, Inklusion, 2

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