20. Dezember 2024
Wolfgang Kühnels Sonntagseinspruch

Tue Gutes, rede laut darüber und profitiere davon

In seinem traditionellen Sonntagseinspruch – wie immer hintersinnig und garstig – setzt sich Mathematikprofessor Wolfgang Kühnel aus Stuttgart mit den Versprechungen der Digitalisierungsprotagonisten auseinander und erkennt – was für eine Überraschung sehr viele Eigeninteressen und wenig Konkretes.

Überall wird heute die Digitalisierung von allem und jedem gepriesen, auch im Bildungsbereich. Alle sollen daran glauben, dass das ein großer Fortschritt ist und dass allein die “Digitalität” uns im 21. Jahrhundert ankommen lässt, es ist vollmundig von “digitaler Transformation” die Rede usw. Wohlgemerkt, nicht im Hinblick auf industrielle Herstellungsverfahren oder die Raumfahrt, sondern in Bezug auf Kinder schon im Kindergarten,  in der Grundschule und später erst recht. Angeblich ist das die neue pädagogische Wunderwaffe und fördert spürbar die Chancengerechtigkeit und die optimale Schulentwicklung. Einerseits sollen die Kinder selbst mit digitalen Geräten hantieren, andererseits sollen mehr Daten digital verwaltet und ggfs. von den Schulen direkt an die höhere Schulverwaltung weitergeleitet werden. Die beurteilt damit dann die Qualität der Arbeit an dieser Schule.

Prof. Wolfgang Kühnel, Stuttgart: Leere  Versprechungen

Wenn man allerdings wissen möchte, was nachweislich über den Nutzen der Digitalisierung in der Bildung bekannt ist, dann findet man kaum etwas. Unabhängige wissenschaftliche Studien, die die ganze Euphorie rechtfertigen, scheint es nicht zu geben. Mancher spricht schon von einem “digitalen Rausch”. Vor 5 Jahren bereits zitierte die Süddeutsche Zeitung

https://www.sueddeutsche.de/bildung/digitalisierung-schule-table-1.4275720

den Augsburger Pädagogik-Professor Klaus Zierer mit den Worten:

“Den Glauben, die digitale Technik werde das Lernen revolutionieren, müssen wir zurückweisen.”

Auch die Thesen von Hattie vermögen das nicht zu entkräften. Auch sonst entsteht nicht der Eindruck, diese Art von Digitalisierung sei ein Anliegen der Pädagogen, der Didaktiker oder anderer Wissenschaftler, die mit dem schulischen Lernen zu tun haben.

Gelegentlich wird auch von Schulpädagogen behauptet, mit mehr Digitalisierung (auch der Schulverwaltung) könne man mehr Chancengerechtigkeit und Bildungsgerechtigkeit herstellen, wer kann da widersprechen? Aber nachgewiesen ist das nicht.

Um so energischer aber ertönt der Ruf nach mehr Digitalisierung von denjenigen, die finanziell davon profitieren, der IT-Industrie, der Bildungsindustrie, der Medienindustrie und einer neu entstandenen EdTech-Industrie und auch jener Professoren, die sich hauptamtlich mit dieser Digitalisierung beschäftigen. Diese treten nun nicht etwa durch Presseerklärungen vom Typ “eine profitable IT-Industrie ist im Interesse des ganzen Volkes” hervor, sondern sie verstecken sich hinter angeblich “gemeinnützigen” Vereinen mit klangvollen Namen wie “Bündnis für Bildung”, “Forum Bildung Digitalisierung”, “Didacta Verband” und ähnlichem. Halbwegs ehrlich scheint nur noch die Bezeichnung “Daniel Jung Media GmbH” zu sein, die sich der neue Star der mathematischen Kurz-Videos (und Studien-Abbrecher) zugelegt hat.

Bertelmann-Stiftung Standort Berlin: Digitalisierung absolut alternativlos

Hier wollen wir mal etwas genauer verfolgen, mit welchen Methoden die Leute mit den wirtschaftlichen Interessen so vorgehen. Zum einen gibt es seit längerem angeblich wissenschaftliche Studien im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung, die die Versorgung von Kitas und Schulen mit mehr digitalen Geräten als absolut alternativlos nachweisen. Sogar die wissenschaftliche Beratungskommission SWK der Deutschen Kultusministerkonferenz hat das vollkommen distanzlos in ihre Empfehlungen vom 19.9.2022 übernommen. Da wird gleich noch gefordert, das Kita-Personal müsse künftig mehr mit Elementarinformatik und den digitalen Geräten vertraut gemacht werden. Vielleicht bekommen wir noch den Kita-Bachelor mit 60 Leistungspunkten aus diesem Computer-nahen Bereich. Zum anderen fördern die Stiftungen, die den IT-Unternehmen nahestehen, die Weiterbildung der Lehrer genau in diesem Punkt. Bei der Bertelsmann-Stiftung sieht das dann so aus:

https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/in-vielfalt-besser-lernen/projektnachrichten/fortbildungen-fuer-lehrpersonen-wirksam-gestalten

Die digitale Transformation wird in einem Atemzug mit der Inklusion sowie den Ganztagsschulen genannt. Die Weiterbildung hat natürlich nur das Ziel, “positive Wirkungen auf unterrichtsbezogene Kompetenzen der Lehrkräfte und den Unterricht” zu erzielen. Die Unternehmen präsentieren sich dabei fast so wie eine Art von “Mutter Teresa mit anderen Mitteln”, nur auf das Wohl von Schule und Bildung ausgerichtet.

Die Telekom Stiftung, die Bertelsmann Stiftung, die Dieter Schwarz Stiftung, die Dieter von Holtzbrinck Stiftung, die Heraeus-Stiftung, die Joachim Herz Stiftung, die Robert Bosch Stiftung, die Siemens Stiftung, die Vodafone Stiftung und die Wübben Stiftung. Alles Stiftungen von Grossunternehmen, die direkt vom Verkauf digitaler Geräte oder dazu passender Software profitieren. Man kann ohne Übertreibung sagen: das Ziel dieser Tagung ist die Ankurbelung des Geschäfts.

Und dann gibt es noch Tagungen im großen Stil mit prominenten Gästen. Das “Forum Bildung Digitalisierung” veranstaltet jährlich solche, die nächste ist in der kommenden Woche. Nach außen möchte man ganz harmlos wirken als karitativer Verein der Zivilgesellschaft, der sich um die Chancengerechtigkeit in der Schule sorgt:

https://www.forumbd.de/blog/konferenz-bildung-digitalisierung-2024-setzt-impulse-zur-sicherstellung-von-chancengerechtigkeit/

Es geht um “IMPULSE zur SICHERSTELLUNG von CHANCENGERECHTIGKEIT”, so der

Titel.

Weiter unten auf dieser Seite steht dann, wer sich hinter dem Forum

verbirgt:

Die Telekom Stiftung, die Bertelsmann Stiftung, die Dieter Schwarz Stiftung, die Dieter von Holtzbrinck Stiftung, die Heraeus-Stiftung, die Joachim Herz Stiftung, die Robert Bosch Stiftung, die Siemens Stiftung, die Vodafone Stiftung und die Wübben Stiftung.

Alles Stiftungen bekannter Großunternehmen, großenteils von jener Industrie, die direkt vom Verkauf digitaler Geräte oder dazu passender Software profitiert. Man kann ohne Übertreibung sagen: das Ziel dieser Tagung ist die Ankurbelung des Geschäfts für die genannten Unternehmen.

Hier

https://www.forumbd.de/verein/

wird dann klar gesagt, dass der ganze Verein nur aus diesen Stiftungen besteht. Und es wird klar gesagt, was der Zweck ist, nämlich nicht Chancengerechtigkeit, sondern nur noch digitaler Wandel:

“Das Forum Bildung Digitalisierung setzt sich für systemische Veränderungen  und eine nachhaltige digitale Transformation im Bildungsbereich ein. Im Zentrum unserer Arbeit stehen die Potenziale digitaler Medien für die Schul- und Unterrichtsentwicklung. In Projekten, Publikationen und  Veranstaltungen identifizieren wir Gelingensbedingungen für den digitalen  Wandel an Schulen und navigieren durch die notwendigen Veränderungsprozesse.”

Und weiter unten:

“Der digitale Kulturwandel erfordert von allen Beteiligten im System Offenheit und ein anderes Mindset.”

So wird heute Lobbyistenarbeit formuliert, dieses “Forum” schreibt allen das richtige “Mindset” vor, das “Change Management” gegen Leute mit dem falschen “Mindset” ist gewiss auch nicht weit.

Andreas Schleicher, OECD, immer dabei

Speziell bei dieser Tagung schmückt man sich mit prominenten Rednern, die mehrheitlich von digitaler Bildung im einzelnen wohl kaum etwas wissen, aber ganz gewiss die Sache unterstützen, allein schon dadurch, dass sie mitmachen. Da finden sich dann prominente Politikerinnen (je eine von CDU, SPD, FDP), ein österreichischer Minister, die Soziologin Frau Allmendinger (Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung; sie diskutiert zum Auftakt mit Frau Esken über “Chancengerechtigkeit im Zeichen des Digital Divide”), Herr Maaz (Direktor des DIPF) und natürlich Herr Schleicher, der offenbar jedes Jahr dabei ist. Er betätigt sich mittlerweile als Top-Lobbyist für die Interessen der Digitalisierungs-Industrie und diskutiert kurz vor Schluss der Veranstaltung mit anderen über die “Vision eines zeitgemäßen Bildung”.

Was sagte doch Helmut Schmidt über Leute, die Visionen haben? Alle prominenten Redner bekommen bestimmt fürstliche Honorare, an Geld mangelt es in der Branche ja nicht.

Da kultiviert man also den alten Traum von der Nivellierung aller Ungleichheiten, aber das soll selbstverständlich gleichzeitig Gewinne in die Kassen der genannten Unternehmen spülen. Motto: “Tue Gutes, rede laut darüber und profitiere davon”.

Auch Herr Pant (Abteilungsleiter am IPN in Kiel) hält übrigens einen Vortrag mit “Bildungsgerechtigkeit” im Titel. Direkt nach dem Auftakt gibt es gleich zwei Veranstaltungen mit “Chancengerechtigkeit” im Titel und eine zu “KI in der Schule: Vom  Verstärker sozialer Ungleichheit zum Nivellierer”. Für die letztere sind gleich sechs Redner aufgeboten, darunter ein Professor Thomas Süße von der FH Bielefeld, Standort Gütersloh:

Studie der Vodafone Stiftung: Prof. Dr. Thomas Süße im Interview zur Integration von KI ins Bildungssystem und Lehrerkompetenzen

Er versteht was von KI-Systemen in Unternehmen, insbesondere Mensch-KI-Kollaboration, seine Expertise für schulische Fragen dürfte wohl eher gering sein. Aber das ist ja auch zweitrangig. Neckischerweise wird in diesem Interview auch die Frage nach der Vermeidung von Technostress (!!) gestellt und beantwortet. Dieses Wort sollte man sich vielleicht merken. Lehrer haben leicht den Technostress, wenn das digitale Whiteboard einfach nicht funktionieren will. Auf etlichen Tagungen habe ich schon Technostress für Vortragende und Verzögerungen erlebt, nur weil der Beamer nicht so wollte wie er sollte.

Da kultiviert man also den alten Traum von der Nivellierung aller Ungleichheiten, aber das soll selbstverständlich gleichzeitig Gewinne in die Kassen der genannten Unternehmen spülen. Motto: “Tue Gutes, rede laut darüber und profitiere davon”. Bei Wikipedia steht, dass der

Bertelsmann-Konzern während des 2. Weltkriegs erheblich davon profitierte, dass er im Auftrag der Regierung ein bestimmtes Buch herstellte, das allen deutschen Soldaten mitgegeben wurde.

Übrigens hatte man schon vor fast 20 Jahren angefangen, eine digitale Schulevaluation einzuführen. Im Land NRW war damals ein System “SEIS” zumindest ernsthaft im Gespräch, und das stammt von Bertelsmann:

https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/GP_SEIS_macht_Schule.pdf

https://www.bildung.koeln.de/imperia/md/content/selbst_schule/seis/seis_info_workshop_12052006.pdf

Das gleich am Anfang des zweiten Links postulierte “gemeinsame Qualitätsverständnis” wird in dem ersten Link unter der Überschrift “Qualitätszyklus” so beschrieben:

“Grundlage für den Qualitätsentwicklungsprozess einer Schule ist ein gemeinsames Verständnis aller Beteiligten von guter Schule. Sechs zentrale Qualitätsbereiche, die ihnen zugeordneten Kriterien und ein vereinbarter Fragenkatalog sind das Ergebnis eines internationalen und nationalen Konsensbildungsprozesses. Mit diesen wichtigsten Bereichen schulischer Qualität lässt sich das Bild einer Schule darstellen, das ihrer Vielfalt und Komplexität gerecht wird.”

Da haben wir doch gleich den Haken bei der Sache:

Natürlich gibt es kein “gemeinsames Verständnis”, was “gute Schule” sein soll. Genau darin liegt ja das Hauptproblem. Der eine sieht das so, der andere anders, auch Lehrerverbände und Elternverbände diskutieren das kontrovers, politische Parteien auch. Man denke nur an den Streit über das G8- oder G9-Gymnasium mit ihren jeweiligen Vor- und Nachteilen oder die Diskussion um die Leistungsorientierung bzw. deren allmähliche Abschaffung. Die einzige Möglichkeit wäre dann, dass Parteipolitiker gemeinsam mit Bertelsmann auch noch die Richtlinien vorgeben, was gute Schule sein soll, und das über die Schulleitungen durchsetzen. Der “internationale Konsensbildungsprozess” kann sich eigentlich nur auf die OECD beziehen, etwa den OECD Lernkompass 2030. Ein internationaler Konsens soll damit herbeigeredet werden.

Schulleiter Rudolph empfängt die Schülerinnen: An dieser Schule herrschen klare Regeln.

Ganz ähnliche Evaluationsverfahren sind jedenfalls in Berlin im Gebrauch, das führte zu dem Skandal um den Schulleiter Michael Rudolph, dessen Schule (eine im “Brennpunkt”) gute Leistungen zeigte, aber ohne die “richtige” Ideologie bei den Methoden. Vermutlich hätte da auch Bertelsmann abgewinkt, so wie der Herr Rudolph das machte, war das nicht der richtige digital gesteuerte “Qualitätsentwicklungsprozess”.

Mit dem Stichwort “Schulportrait” kann man übrigens Inspektionsberichte für jede Berliner Schule auf deren Homepage einsehen, das ist durchaus interessant. Bei einer Ganztagsschule (Heinrich-Böll-Schule) stand in einem Bericht z.B., dass viele Schüler den Ganztag nicht mögen und sich deshalb lieber absetzen. Und man erhebt unzählige Daten in farbigen Tabellen, deren Nutzen alles andere als klar ist. Eine Pflichtübung.

Da steht dann z.B.:

“Das Qualitätsprofil beinhaltet verpflichtende Qualitätsmerkmale (blau hinterlegt) und Wahlmodule. Hinter diesem Qualitätsprofil verbergen sich ca. 200 Indikatoren.” Diese “Datensammelwut” wird zu einer Wissenschaft, an der FU Berlin gibt es schon eine Professur für Schulevaluation. Wer sich das antun möchte, kann der eingangs genannten Tagung am 24.4.

und 25.4.2024 elektronisch folgen (mit “Live-Chat”), jedenfalls auf der sog. “Hauptbühne”, wo auch Herr Schleicher auftreten wird.

Dass all die Qualitätsentwicklungsprozesse bislang noch nicht zu einer Verbesserung schulischer Leistungen geführt haben (weder nach dem Kriterium der standardisierten Tests noch nach dem der “kleinen Empirie” der glaubwürdigen Berichte zuverlässiger Leute), bleibt ein unauflösbarer Widerspruch. Kulturpessimisten sehen uns schon auf einem Weg immer tiefer hinein in die Sackgasse. Die Optimisten müssten uns einen Ausweg aufzeigen. aber ob es den noch gibt?

In diesem Sinne wünscht einen schönen Sonntag

Wolfgang Kühnel

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