Am 28. November 2021 wurde die Initiative «Für eine starke Pflege (Pflegeinitiative)» von Volk und Ständen mit einem Ja-Anteil von 61% angenommen. Artikel 117b Bundesverfassung verlangt, dass Bund und Kantone die Pflege als wichtigen Bestandteil der Gesundheitsversorgung anerkennen und fördern. Der Zugang zu einer Pflege von hoher Qualität soll für alle Menschen garantiert sein.
Heute nach 3 Jahren herrscht bezüglich der Wirkung dieses politischen Begehrens eine Katerstimmung. Diese Initiative habe nichts gebracht, eine Prognose, die viele Fachleute der Initiative vorausgesagt hatten. Aber wer konnte schon gegen eine qualitativ gesicherte Alterspflege für alle sein?
Ähnlich verhielt es sich mit dem Klimagesetz. Die Eidgenössische Abstimmung über die Totalrevision des CO2-Gesetzes wurde am 13. Juni 2021 mit einer Mehrheit von 51,59 % abgelehnt. Deshalb versuchte man es mit einem Klimagesetz, dessen konkrete und spürbare Umsetzungen aber noch bevorstehen und ebenfalls vor dem Souverän bestehen müssen.
Nun lancierten der bernische Lehrerinnen- und Lehrerverein (Bildung Bern) und der aargauische Lehrerinnen- und Lehrerverein je eine kantonale Volksinitiative, welche die Sicherung der Bildungsqualität in die Verfassung schreiben will.
Das Muster dabei ist immer dasselbe. Man versucht, einen Missstand – zu wenig Pflegende, zu wenig Lehrkräfte, zu viel CO2 – zu bekämpfen und formuliert daraufhin griffige Forderungen. Die Krux: Auch bei konkreten Gesetzesvorlagen und Budgetforderungen gibt es Debatten, werden Kosten-Nutzen-Analysen erstellt, können sich Geister scheiden. Und wenn dann diese konkreten Massnahmen von der Wirklichkeit umzingelt werden, einen Realitätscheck oder gar ein Referendum durchlaufen müssen und schliesslich an der Urne scheitern, flüchtet man in Wunschprosa und formuliert ein hehres Ziel für die Verfassung.
Die Präsidentin des aargauische Lehrer- und Lehrerinnenverbands, Kathrin Scholl, verweist darauf, dass bis 2031 47’000 neue Lehrpersonen benötigt, derzeit aber nur 34’000 ausgebildet würden. Auf die Frage, was da eine Initiative nützen soll, meinte sie: «Wir wollen Druck auf die Politik ausüben!»
Das Beispiel des Kantons Basel-Stadt, wo die Ausgaben pro Schüler mit jährlich 25’000 Fr. ausgewiesen werden, also 10’000 Fr. über den bernischen liegen, lässt vermuten, dass in der Forderung des “Immer mehr” vielleicht nicht der Weisheit letzter Schluss liegt.
Immerhin wird der Grüne Grossrat und Lehrer Manuel C. Widmer – ein vehementer Unterstützer der Initiative – konkreter: In einem Beitrag auf LinkedIn formuliert er den ganzen Katalog der Begehrlichkeiten der Personalverbände, ohne Priorisierung und Reflexion:
- Gute Infrastruktur inklusive Mittel für Digitalisierung
- Teamteaching im Zyklus 1 und bei schwierigen Klassenzusammensetzungen
- Stärkung des Frühbereichs und der Kindertagesstätten
- Niederschwellige Angebote von Fachstellen für Kinder und Jugendliche
- Zeitliche Ausstattung der Klassenlehrpersonen aller Stufen
- Unterstützung bei der Zusammenarbeit von Eltern
- Aufstockung der Pensen von Schulleitungen für ihre mit hoher Verantwortung verbundenen Führungsaufgaben
- konkurrenzfähige Löhne
- Schlanke, effiziente Abläufe in der Administration
- Kantonale Unterstützung der Gemeinden für Schulsekretariate
- Verpflichtung zur Ausbildung für Lehrpersonen ohne Lehrdiplom
- Unterstützung für qualifizierte Quereinststeiger:innen
- Eine der Qualität der Bildung direkt dienendes Weiterbildungsangebot
- Vorausschauende Partizipative Planung von geeigneten Schulgebäuden
Abgesehen davon, dass dieser grandiose Wunschzettel die im Kanton Bern vorhandene Schuldenbremse pulverisieren würde, müssen sich die Lautsprecher dieser Forderungen auch die Frage der Wirksamkeit stellen. Das Beispiel des Kantons Basel-Stadt, wo die Ausgaben pro Schüler mit jährlich 25’000 Fr. ausgewiesen werden, also 10’000 Fr. über den bernischen liegen, lässt vermuten, dass in der Forderung des “Immer mehr” vielleicht nicht der Weisheit letzter Schluss liegt.
Der Verdacht liegt nahe, dass die Verbände den Druck, der auf ihnen selbst lastet, abmildern wollen. Regierungsnah und politisch weitgehend impotent, will man eine gewisse Mitverantwortung für das gegenwärtige Malaise nicht wahrhaben. Denn der Lehrkräftemangel hat auch mit den Reformen der letzten Jahre zu tun: «Teamteaching, kleinere Schulklassen, Lektionenausweitung durch Lehrplan 21, Frühfranzösisch, Frühenglisch, Kompetenzorientierung, Digitalisierung, Bewertung der überfachlichen Kompetenzen, Kreuzchenorgie in Zeugnissen, die Pflicht, über jedes Elterngespräch ein Protokoll zu führen, unausgegorene Inklusionsprojekte, Sitzungsmarathons, Weiterbildungsdokumentationen, die ständige Bevormundung seitens der Behörden, die den freien Gestaltungsraum einengen, Konzeptionitis auf allen Stufen… usw. All diese Massnahmen haben unsere Gewerkschaftskollegen in den Berufsorganisationen teilweise frenetisch unterstützt.
Mehr Geld? In kaum einem Bereich unseres Staatshaushalts stiegen die Ausgaben wie in der Bildung. Erfolg: Sagenhafte 25% der Schülerinnen und Schüler können nach neun Schuljahren keinen einfachen Text entschlüsseln. Mehr Lehrkräfte? Bitte sehr, wer will das nicht? Aber wo sollen die herkommen? Frau Scholl meint: «Unsere Mitglieder haben in unseren Umfragen mehrfach gesagt, dass endlich etwas passieren muss.» Ja bitte sehr, aber was? Und da wären wir wieder bei der Pflegeinitiative oder dem Klimagesetz. Mit solchen Volksbegehren rennt man mit martialisch-nebulösen Rammböcken offene Türen ein. Ein Mitglied der kantonalen Bildungskommission in Bern meinte ironisch: «Wann kommt die Verfassungsinitiative, welche ausgewogene Niederschläge fordert? Genannt will er natürlich nicht werden, denn wer kann schon gegen eine gesicherte Bildungsqualität sein?