Alain Pichard, werden Sie eigentlich immer noch in vielen E-Mails beschimpft?
Es hat nachgelassen, vor allem seit ich für die GLP in Bern im Kantonsrat sitze. Als Politiker hat man offenbar eine gewisse Aura. (lacht)
Ich frage, weil Sie seit Jahrzehnten kritisiert werden, da Sie sich lautstark gegen das Frühfranzösisch einsetzen.
Ja, das war auch lange Zeit so. Aber jetzt sind den Gegnern auch die Argumente ausgegangen. Weil wissenschaftlich erwiesen ist, zum Beispiel vom Institut für Mehrsprachigkeit in Freiburg: Die Schüler können nicht besser Französisch. Sie können es nicht einmal gleich gut – sondern schlechter. Noch schlimmer: Das Französisch hat sich noch mehr zum Hass-Fach – hinter der Mathematik – entwickelt.
Sie haben nun mit vielen Kollegen ein «Weissbuch Frühfranzösisch» geschrieben – und rechnen gnadenlos ab. Was ist denn da schiefgelaufen? Dass Kinder in jungen Jahren besser Sprachen lernen, war lange Zeit die Mehrheitsmeinung. Von dem sollten sie doch profitieren…
Es gibt keine einzige Studie, die das beweist. Man sieht es ja: Die Resultate sind miserabel, vor allem wenn man die Investitionen berücksichtigt. Unser eigentliches Problem sind zurzeit die Leistungen im Deutsch. Rund 20 Prozent der Schüler können nach neun Schuljahren kaum lesen und schreiben, wie die diversen Tests gezeigt haben. Das ist unglaublich.
2005, bereits vor der Einführung in der Schweiz, ist man in Deutschland zu folgendem Schluss gekommen: Frühenglisch ist ein «Murks», ein «Blödsinn». Warum hat man in der Schweiz nicht darauf Rücksicht genommen?
Weil man eben an den «Je-früher-desto-besser-Blödsinn» geglaubt hat. Man blendete alles aus, was dagegen sprach. Nie mehr darf eine solche Reform und dazu noch ohne gründliche Testphase flächendeckend einer ganzen Generation von Schülerinnen und Schülern und ihren Lehrkräften aufgezwungen werden. Das gilt auch für das Lehrmittel mit einer völlig neuen Sprachdidaktik und Methodik. Das zweite Desaster.
Aber genau das ist passiert…
Ja. Einmal durchgeboxt, hat eine unheilige und praxisferne Allianz von Verwaltung, Politik und Wissenschaft dann wenig überraschend einen Flop nach dem anderen kreiert.
Welche?
Die Methode des sogenannten Sprachbads zum Beispiel. Man dachte, man könne den Kindern damit ohne Lernen das Französisch «einfliessen lassen». Notabene mit drei Lektionen pro Woche. Ein Mumpitz.
«Die damals verantwortlichen Regierungsräte wie der Basler Christoph Eymann oder der Berner Bernhard Pulver schweigen. »
Auch die neuen Lehrmittel waren katastrophal. Dass «Mille feuilles» ein Debakel ist, hat sich nach einer Dekade nun aber durchgesetzt…
Ja, die Ironie der Geschichte: Nun macht man das vorher hochgelobte «Mille feuilles» für das Debakel verantwortlich. Es wurde soeben umgearbeitet und klammheimlich in ein konventionelles Lehrmittel verwandelt. Fehler gibt niemand zu. Die damals verantwortlichen Regierungsräte wie der Basler Christoph Eymann oder der Berner Bernhard Pulver schweigen.
Was hat das den Steuerzahler gekostet?
Schon allein die sechs Kantone, die das sogenannte «Passepartout»-System eingeführt haben, haben 100 Millionen Franken ausgegeben.
Die Ironie der Geschichte: Nun macht man das vorher hochgelobte «Mille feuilles» für das Debakel verantwortlich. Es wurde soeben umgearbeitet und klammheimlich in ein konventionelles Lehrmittel verwandelt.
Ihr Weissbuch ist eine schonungslose Zusammenfassung der Vergangenheit. Was wäre nun zu tun?
Viel zu lange wurden Energie, Prestige und Geld in dieses Projekt investiert. Einfach wieder zurückzukehren, wird kaum möglich sein. Trotzdem mahne ich an, eine Rückverschiebung zumindest zu prüfen. Und die Prioritäten neu zu setzen. Zuerst sorgfältig Deutsch lernen! Mit der ersten Fremdsprache frühestens im vierten, mit der zweiten frühestens im fünften Jahr anfangen. Es ist nicht wichtig, wann die Schüler mit der Fremdsprache beginnen, wichtig ist, wie gut sie sie am Schluss können. Und man sollte sich den eigentlichen Harmonisierungsgedanken wieder in Erinnerung rufen. Die heutige Lösung – Westschweiz: Frühfranzösisch; Ostschweiz: Frühenglisch – ist ja ein Seldwyla-Scherz. Mit der Streichung von Frühfranzösisch – mindestens in der dritten Klasse – könnten zeitliche und finanzielle Ressourcen freigemacht werden, die uns in Zeiten des Lehrermangels etwas Luft verschaffen – und uns Zeit geben, die Prioritäten neu zu setzen. Es ist besser, etwas gar nicht zu unterrichten, als es schlecht oder ineffizient zu tun. Gerade bei ohnehin schon überfrachteten Stundenplänen.
Alain Pichard, der «bekannteste Lehrer der Schweiz» («SonntagsZeitung»), wirkt seit über 44 Jahren in den Klassenzimmern dieses Landes. Der in Basel aufgewachsene Pädagoge ist einer der schärfsten Kritiker des Lehrplans 21. Er gründete den Bildungspolitik-Blog «Condorcet», dessen Leiter er ist. Mit seinen Kollegen – darunter viele bekannte regionale Gesichter: Roland Stark, Philipp Loretz, Felix Schmutz, Alina Isler – hat er nun ein «Weissbuch Frühfranzösisch – Analyse eines monumentalen Irrtums» herausgegeben. In verschiedenen Kantonen wie Basel-Stadt, Baselland und Bern sind Vorstösse hängig, die eine Veränderung beim Frühfranzösisch anstreben – wie von den Autoren gefordert. Pichard (68), eigentlich längst pensioniert, unterrichtet als Stellvertreter an einer Brennpunktschule in Biel. Immer noch schafft er es einfach nicht, seine Rente zu geniessen, wie er selber zugibt. (sb)