Condorcet:
Wenn man die Bildungsberichterstattung in der Schweiz liest, haben Sie schon fast ein Alleinstellungsmerkmal. Sie hinterfragen und sind stets kritisch. Könnte das damit zu tun haben, dass Sie als Vater oder selbst als Schüler eigene Erfahrungen aufarbeiten mussten?
Daniel Wahl
Ich hatte eine unauffällige Schulkarriere, die im damals dörflichen Therwil begann, wo ich die Primarschule besuchte. Durch einen Umzug hatte ich auf der Sekundarstufe 1 im Nachbardorf Oberwil gewisse Anbindungsschwierigkeiten, aber sicher kein Trauma (lacht). Prägender waren da meine Erfahrungen als Vater von vier Kindern.
Ganz frech gefragt: Wie waren Sie als Schüler?
Nach der Primarschule war ich war kein besonders guter Schüler mehr. Die Beziehungen zu den Lehrern habe ich als distanziert erlebt. Vieles funktionierte bei mir über die Beziehung. Eine Ausnahme darin war der Mathematiklehrer, auf der Sekstufe 1, auf dessen Citroën Deux chevaux ein Kleber «Atomkraft, nein danke» prangte.
Ganz stereotyp damals…
Genau, der hatte eine tolle Beziehung zu den Schülern und fiel mir durch seine Menschlichkeit auf.
Mit Ihrer Kritik an der gegenwärtigen Bildungspolitik liegen Sie sehr oft auf der Linie des Condorcet-Blogs. Könnten Sie mir zwei, drei Hauptfehlentwicklungen des derzeitigen Bildungsgeschehens nennen?
Beginnen wir mal mit den Lernlandschaften und dem Werkstattunterricht, die ja der Individualisierung dienen sollten…
Und die Eigenaktivität der Schüler fördern wollten…
Diese Lernformen haben amerikanische Grossraumbüros zum Vorbild und die Schulstube zur anonymisierten Bürolandschaft umfunktioniert. Sie entwickelten sich zu einer «Papierliwirtschaft», waren in Wirklichkeit Frontalunterricht vom Feinsten und erzeugten eine unheilvolle Distanz zur Lehrkraft. Dann halte ich die Umsetzung der integrativen Schule für einen der schwerwiegendsten Eingriffe in unser Schulsystem. Sie hat zu viel Unruhe, zu viele Akteure ins Schulzimmer gebracht, erfordert zu viele Absprachen, sprich Bürokratisierung. Sie ist zu kompliziert. Und schliesslich finde ich, dass mit der Einführung des kompetenzorientierten Unterrichts das Fundament des Bildungsbürgertums erodiert. Die auf allen Ebenen kompetenten Schüler wissen nicht mehr, was sie wissen sollten.
Von welchem Fundament sprechen Sie da? Und wer soll denn definieren, was sie wissen sollen?
Grundsätzlich wird der Bildungskanon durch das Leben und die Erwartung an eine selbstbestimmte, mündige Existenz definiert. Ich denke natürlich auch, dass sich der Bildungskanon im Laufe der Zeit verändert.
Können Sie das etwas konkreter ausdrücken?
Ohne Basiswissen geht es nicht. Dazu ein Beispiel. Die Bundestagsabgeordnete Emilia Fester blamierte sich in der Öffentlichkeit, weil sie das Gründungsdatum der Bundesrepublik Deutschland nicht nennen konnte und ebenso wenig wusste sie, dass Bismarck der erste Reichskanzler war. Ich bin überzeugt, dass die Schule ihr die Kompetenz vermittelt hat, solche Informationen zu erarbeiten. Aber ihr Wissen war im richtigen Moment nicht abrufbar. Und schlimmer noch: Sie verspürte gar keine Notwendigkeit dazu, das Wissen je abrufen und sich einprägen zu müssen. Ohne feste Bezüge kann aber keine Entwicklung entstehen, es bleibt alles bruchstückhaft. Die Formel «These – Antithese – Synthese», die in der Aufklärung ihre grosse Blüte erfuhr, lässt sich nicht ohne Wissen anwenden. Die immer schriller und polemisch werdenden Debatten in den Medien sind Ausdruck dass wir die Formel gar nicht mehr anwenden.
Noch einmal: Wer definiert, was die Schüler wissen sollen?
Er wird vom jeweiligen kulturellen Raum auf Basis seiner Werte von seinen Kindern eingefordert. Es ist eine kulturelle Vereinbarung, die sich «buttom up» definieren sollte. Auch dazu ein Beispiel: Was ist uns die Rechtschreibung wert, warum sollten wir sie einfordern? Wer einen Liebesbrief ohne profunde Kenntnisse der Rechtschreibung verfassen will, hat ein soziales Problem. Der oder die Empfängerin denkt beim Lesen: Er oder sie gibt sich keine Mühe und nimmt sich keine Zeit für mich. Sollten wir also die Rechtschreibung nun aus Bequemlichkeit preisgeben und heute der KI überlassen?
Aber Schreiben ist eine Kompetenz…
Gewiss doch …. und immer an konkrete Formen gebunden, welche die Literatur hervor- und zur Blüte gebracht hat. Leider hängt die heutige Generation zunehmend auf Whatsapp-Niveau.
Was ist da falsch?
Die heutige Jugend schreibt viel, kommuniziert viel, kritisierte eine Germanistin von der Universität Basel meine skeptische Einstellung gegenüber den heutigen Deutschunterricht. Aber mal ehrlich: Die Kommunikation in den Sozialen Medien, die von Hieroglyphen dominiert wird, ist getrieben, ohne Reflexionsfähigkeit. Man bleibt den formalen Plattitüden verhaftet und ist nicht selbstbestimmt.
Wie informieren Sie sich über die Bildungsthemen?
Ich habe mittlerweile ein festes Netzwerk von Lehrkräften, Unternehmern, Lehrlingsausbildnern. Dazu kommen meine Erfahrungen als Vater und dann ist ja da noch die immer grösser werdende Bildungsliteratur. Und, das darf man nicht vergessen, jedes Interview, das man führt, jede Recherche führt zu Exzellenz, also zu vermehrtem Wissen.
Und wie vermeiden Sie Einseitigkeit?
Ich habe mir die Neugier bewahrt und nehme für mich in Anspruch, ehrlich zu fragen, um hinhören zu können. Vorgefertigte Meinungen sind nicht mein Ding.
Sie treffen in Ihrer täglichen Arbeit viele Menschen aus dem Bildungsbereich. Wer ist Ihnen da besonders aufgefallen?
Da fällt mir die Bildungsforscherin Margit Stamm ein. Sie ist erfrischend immun gegen ideologische Behauptungen und hat einen pragmatischen Zugang zu ihren Untersuchungsfeldern. Das führt hin und wieder zu überraschenden Thesen, wie zum Beispiel ihre Ergebnisse über den phänomenalen Bildungswert der Secondos. Auch das Gespräch mit dem emeritierten Bildungsforscher Juergen Oelkers über den Reformwahn im Bildungswesen blieb mir nachhaltig in Erinnerung.
Es kommen Master- und Bachelorarbeiten auf den Markt in nie gekanntem Ausmass, die uns kein bisschen weiterbringen.
Eines der Narrative der derzeitigen Bildungspolitik ist die Gleichung «mehr Geld = bessere Leistungen». Sie haben letzthin im Nebelspalter den Bericht des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) an der Universität Luzern vorgestellt, der dieses Narrativ in Frage stellt. Haben Sie das Gefühl, dass im Bildungsbereich Geld auch verschwendet wird?
Ich sehe derzeit vor allem im universitären Bereich, der ja unglaubliche Summen verschlingt, eine problematische Mengenausweitung. Besonders im Bereich Geisteswissenschaften. Es kommen Master- und Bachelorarbeiten auf den Markt in nie gekanntem Ausmass, die uns kein bisschen weiterbringen.
Wir haben da als Gegenstück die Fachhochschulen…
Um ihre Hörsäle und Klassenzimmer füllen zu können, müssen sie Studenten im Ausland rekrutieren. In Shanghai und so weiter. Und sie drängen leider auch immer mehr in die universitären Gebiete vor und treiben parallel zu den Universitäten die Grundlagenforschung voran, statt bei den angewandten Wissenschaften zu bleiben.
Die Bildungsverwaltungen bedienen heute zu stark die Bildungsbürokratie.
Die Player in der Bildungspolitik finden sich derzeit in den Bildungszentralen unseres Landes. Leute, die den Herausforderungen des Unterrichts fernbleiben. Wo sollte die Bildungspolitik nach Ihrer Meinung ansetzen?
Eine grosse Frage. Die Bildungsverwaltungen bedienen heute zu stark die Bildungsbürokratie. Mit der Möglichkeit, alles messbar zu machen und zu dokumentieren, will man heute angeblich die Bildungsqualität steigern. Aber da sind praxisferne Leute in den Schaltzentralen grosser Bildungstanker mit dem Unvermögen, auf Fehl- und Kollisionskurse zu reagieren. Die Einführung von Frühfranzösisch mit ihren Lehrmitteln «Mille feuilles» und «Clin d’oeil» ist ein solches Beispiel. Bis das korrigiert ist, vergeht eine Generation.
Welche Rolle spielen dabei die Lehrerverbände?
Sie sind den Bildungsverwaltungen zu nah und hörig. Sie orientieren sich nach «oben»; seltsam, dass sie kaum auf ihre Basis hören.
Aber die LCH-Präsidentin Dagmar Rösler gibt ja selber noch Schule!
Während in zahlreichen Kantonen Eltern und Lehrer die integrative Schule in Frage stellen, entsprechen Röslers Stellungnahmen genau den Vorstellungen der Bildungsbürokratie. Vielleicht ist eine solche Haltung das Eintrittsbillett, um die Pforten zum Palast des Bildungsestablishments zu durchschreiten. Ein paar Jahre war ich in der Schulpflege, beziehungsweise im Schulrat. Da habe ich selbst erlebt, dass man mit der Einführung der Schulleitungen die Korporale eingesetzt hat, welche die behördlichen «Glücksverheissungen» durchsetzen sollen. Ich will das System Schulleitung dabei nicht schlecht reden. Es gibt einige hervorragende, kritische und umsichtige Schulleitungen. Aber sie haben es im System schwer und müssen sich immer wieder absichern.
Die weissen Raben, sozusagen…
Grossartige Ausnahmen!
Die Bildungsberichterstattung erlebt ja derzeit eine regelrechte Blüte. Berichte aus der Schule sind en vogue, oder sehen Sie das anders?
Ich denke, es macht sich ein Malaise bemerkbar. Die Gesellschaft merkt, dass da etwas nicht mehr stimmt. Vielen Jugendlichen geht es nicht mehr gut. Sie sind psychisch anfällig, wenig kritikfähig, zu wenig resilient. Ich kenne Lehrmeister, die daran fast verzweifeln. Zudem produziert das teuerste Schulsystem der Welt an die 20 Prozent Illetristen. Da kann doch etwas nicht stimmen. Somit spiegelt die Berichterstattung in den Medien dieses gesellschaftliche Unbehagen.
Aber man hat Angst, über die Folgen der Einwanderung wie ungebremst wachsende Schülerzahlen, Lehrermangel, Förderkurse, Schulhausbauten zu reden, weil man meint, damit fremdenfeindliche Gefühle zu bedienen.
Und woran krankt die Bildungsberichterstattung?
Es gibt immer noch zu viele Tabus. Man sieht den Elefanten im Raum nicht oder weigert sich, ihn zu benennen. Dazu zähle ich die Migration, die die Volkschule an den Anschlag gebracht hat. Aber man hat Angst, über die Folgen der Einwanderung wie ungebremst wachsende Schülerzahlen, Lehrermangel, Förderkurse, Schulhausbauten zu reden, weil man meint, damit fremdenfeindliche Gefühle zu bedienen. Was passiert gesellschaftlich: Wir haben zu wenig Nachwuchs, die Geburtenziffer ist weit unter dem Wert, damit sich die Bevölkerung erhält. Wir kompensieren das Manko mit der Migration. Ökonomisch ausgedrückt: Die Paare haben ihre Erziehungsleistung ins Ausland ausgelagert, die Gesellschaft kauft den Nachwuchs mit der Einwanderung ein. Der Preis dafür ist sehr hoch und muss von der Volksschule bezahlt werden. Das sollte man ansprechen.
Ein heisses Eisen…
Und nicht das einzige… Ein anderes ist, dass viele Eltern ihre Erziehungsverantwortung abgeben. Und sie tun das auch nur, weil sie es sich erlauben können. Mit offenen Armen übernimmt vielerorts die Schule diese Erziehungsleistung.
Um nachher darüber zu klagen, was sie alles übernehmen muss…
Und mit den entsprechenden Forderungen nach Aufstockung der Ressourcen… Die Schule meiner Kinder glaubte, sie müsse mit den Schülern den Jahrmarkt, in Basel, die Herbstmesse, besuchen. Dabei ist das die Aufgabe der Eltern, der Göttis und der Grosseltern. Weil das Zeitbudget der Schule beschränkt ist, geht diese Erziehungsleistung der Schule immer auf Kosten der Bildung.
Es bleibt ihr auch nichts anderes übrig; wir haben ja Schulpflicht.
Der Kanton Thurgau wollte Eltern, die nicht dafür sorgten, dass ihre Kinder vor dem Schuleintritt angemessen Deutsch können, bezahlen lassen – für Deutschkurse entsprechend ihrem Niveau. Das Bundesgericht pfiff die Behörden zurück. Ganz dahingestellt, ob dies wirklich die richtige Massnahme war, gilt es doch festzuhalten, dass es diese Ansätze gäbe. In einem Milizsystem wird auch erwartet, dass man gemeinsam Feuerwehrdienst leistet oder der Armee dient. Warum soll nicht von Eltern eingefordert werden, ihrem Nachwuchs das Sprechen so beizubringen, dass ihr Kind schulreif ist? Leider fehlt die Bereitschaft, dies offen zu diskutieren.
Wie haben Sie dies als Vater gelöst?
Als ich merkte, dass meine Kinder in der Schule bis zur fünften Klasse keinen Aufsatz schreiben mussten, dass das Verständnis in ihren Texten nach drei, vier Sätzen völlig auseinanderbricht, habe ich sie gezwungen, jeweils in den Ferien einen Aufsatz zu schreiben.
Sie werden Sie dafür geliebt haben…. Haben Sie sie auch korrigiert?
Sie haben mich gehasst. Und ja, selbstverständlich habe ich sie korrigiert.
Und benotet?
Nein. Ich habe sie mit ihnen ausführlich besprochen – und oh Himmel – sogar ins Reine schreiben lassen. Heute lachen wir am Abendtisch darüber.
Daniel Wahl, ich danke Ihnen für das Gespräch