19. März 2024
Grosse Studie über Gewalt an Schulen

Der alltägliche Hass im Klassenzimmer

In einer Umfrage bei über 1000 Zürcher Lehrpersonen und Schulleitern berichtet jeder Zweite von körperlichen Angriffen zwischen Schülern, noch häufiger sind Demütigungen und Bedrohungen. Was Jugendliche erleben und was Eltern tun können: Wir bringen einen Bericht der Journalistin Nadja Pastega, die ihn für die Sonntagszeitung schrieb.

Die Quälereien fingen in der Primarschule an. Der Bub, nennen wir ihn Liam, wird mit blöden und aggressiven Sprüchen drangsaliert. In der Oberstufe rutschen seine Peiniger in die gleiche Klasse nach, der Albtraum geht weiter. Wenn sich Liam im Unterricht meldet, zischen sie: “Halt die Fresse! Niemand interessiert, was du sagst. Du wärst besser gar nicht da!” Im Turnunterricht werfen sie ihm den Ball absichtlich an den Kopf, kicken ihm beim Fussballspielen die Beine weg. So berichtet es der Vater. Im Klassenlager dringen sie in sein Zimmer ein, werfen seine Kleider aus dem Fenster. Mehrmals verschwinden seine Schuhe. Einmal kommen sie nachts und schlagen dem schlafenden Buben ins Gesicht. Da ist er 14.

“Man geht durch die Hölle”, sagt der Vater. “Keiner möchte sein Kind so leiden sehen.”

Niemand will bemerkt haben, dass Liam geschlagen und erniedrigt wurde. Auch nicht, als ihn die Täter in die Genitalien treten. Der Jugendliche, der im Kanton Zürich zur Schule geht, meldet seinen Lehrpersonen die Übergriffe, immer wieder. Irgendwann gibt er auf – es passiert ja doch nichts. Als er sich das Leben nehmen will, ist er 15.

Der Psychologe empfiehlt Kampfsport

Auch die Eltern suchen das Gespräch mit der Schule. Dort heisst es: Wir können nichts tun, wir haben nichts gesehen. Also sucht die Familie Hilfe bei der Polizei. Dort heisst es: Es ist besser, wenn wir nichts machen, sonst wird die Situation nur noch schlimmer. “Wir fühlen uns völlig allein gelassen”, sagt der Vater.

Als irgendwann der Zusammenbruch kommt und der Bub nicht mehr leben will, nehmen ihn die Eltern für eine Weile aus der Klasse, gehen mit ihm zum Psychologen. Der empfiehlt, mit Kampfsport anzufangen – wenn die anderen wissen, dass sich einer wehren kann, werden sie vorsichtiger. “Auf das ganze Schulsystem”, sagt Liams Vater, “hat mein Sohn einen richtigen Hass.”

Unter Attacken in der Schule leiden auch andere Kinder und Jugendliche. Manche suchen Hilfe bei Anlaufstellen wie Pro Juventute. Dort erzählt ein 13-Jähriger: “Sie haben mich in eine Mülltonne gesteckt.” Ein anderer: “Sie verbreiten das Gerücht, dass ich stinke.”

“Auf das ganze Schulsystem hat mein Sohn einen richtigen Hass.”

Schulforscher Reto Luder von der Pädagogischen Hochschule Zürich wollte wissen, wie oft sich Schülerinnen und Schüler gegenseitig Gewalt zufügen, physisch oder psychisch. Zusammen mit der Fachhochschule Nordwestschweiz führte er eine Umfrage an Schulen im Kanton Zürich durch. Teilgenommen haben 1256 Lehrpersonen, Schulleiter und Schulleiterinnen, Mitarbeitende der Heilpädagogik und des schulpsychologischen Dienstes. Damit liegen erstmals Zahlen zum Thema Gewalt im schülerstärksten Kanton der Schweiz vor.

Das Ergebnis: Laut 50 Prozent der Befragten kommt es an der Volksschule “gelegentlich” bis “häufig” zu körperlichen Angriffen, die sich Schülerinnen und Schüler gegenseitig zufügen, 66 Prozent der Befragten berichten von gelegentlicher bis häufiger psychischer Gewalt. “Dazu gehören Beleidigungen, bewusstes Ausgrenzen oder Drohungen, auch Androhung von physischer Gewalt”, sagt Luder. Die Übergriffe geschehen laut seiner Erhebung oft auf dem Pausenplatz, dem Schulweg oder in der unterrichtsfreien Zeit auf dem Schulareal.

 

 

Das Problem versuchen die Schulen mit Schulsozialarbeit oder dem schulpsychologischen Dienst zu lösen. Doch der Zugang zu diesen Stellen sei “erschwert”, da sie zum Teil erst dann beigezogen würden, wenn eine Situation bereits eskaliert sei, kritisieren Lehrpersonen. Hinzu kämen “hohe administrative und zeitliche Hürden” – also viel Bürokratie und lange Wartezeiten. “Vielerorts”, schreibt Luder in der Studie, “fehlt es an niederschwelligen und flexiblen Beratungs- sowie Unterstützungsangeboten.”

So behelfen sich manche Lehrerinnen und Lehrer auf anderem Weg und schicken schwierige Zöglinge in ein Sozialtraining, wie es die Stadt Winterthur anbietet. 34 Schülerinnen und Schüler haben seit 2022 an den geschlechtergetrennten Kursen teilgenommen. Dort sollen sie in Rollenspielen lernen, respektvoller miteinander umzugehen – und Konflikte ohne Verletzungen zu lösen.

“Früher galt es nicht unbedingt als Alarmzeichen, wenn sich jemand in einer Rangelei eine blutige Nase holte”: Schulforscher Reto Luder. (Foto: Michele Limina)

Aber gibt es tatsächlich eine Verrohung der Umgangsformen, wie oft beklagt wird? “Raufereien auf dem Pausenplatz gab es schon immer”, sagt Schulforscher Luder. “Inzwischen ist man sensibilisierter für Gewalt. Früher galt es nicht unbedingt als Alarmzeichen, wenn sich jemand in einer Rangelei eine blutige Nase holte. Heute wird das nicht mehr toleriert.”

Doch nicht nur die Wahrnehmung hat sich gewandelt. “Es gibt auch eine neue Qualität von Gewalt”, sagt Psychologe und Familientherapeut Henri Guttmann. “Unter Primarschülern gab es einst eine Art Ehrenkodex bei Zweikämpfen: nicht an den Haaren reissen, nicht in die Genitalien schlagen. Das gilt heute nicht mehr.”

    “Der Ehrenkodex, dass man nicht in die Genitalien schlägt, gilt nicht mehr.”

Familientherapeut Henri Guttmann

 

In der Praxis von Guttmann sitzen verzweifelte Eltern, die sich um ihr Kind sorgen – und oft nicht wissen, was genau los ist. Wie auch. Oft getrauen sich die Jugendlichen nicht, ihren Eltern zu sagen, dass sie in der Schule schikaniert werden. Sie schämen sich und haben das Gefühl, sie seien selber schuld.

In der Pubertät haben sie meist auch keine Lust auf Gespräche mit den Eltern. Zwischendurch gebe es aber immer Zeitfenster, in denen Jugendliche offen seien und reden möchten, sagt Guttmann. Sein Rat: “Hören Sie Ihrem Kind dann zu, auch wenn es zeitlich ziemlich ungelegen ist – zum Beispiel um zwei Uhr morgens.”

Auch an den Schulen gebe es Luft nach oben, um ausgegrenzte Schülerinnen und Schüler besser zu schützen: Bei Streitereien ausserhalb des Schulareals, zum Beispiel auf dem Schulweg, blieben viele Schulleitungen “zu lange passiv” und stellten sich auf den Standpunkt, dass sie dafür nicht zuständig seien, sagt Guttmann: “Hier wäre der Grundsatz besser: hinschauen statt wegsehen.”

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