18. März 2024

Hommage an Ralph: Wir setzen uns mit Tränen nieder und rufen dir im Grabe zu: Ruhe sanft, sanfte Ruh

Ralph Fehlmann, Gymnasiallehrer, Autor, Bildungspolitiker und Condorcet-Gründungsmitglied, ist am 24. Januar von uns gegangen. Er hat Spuren hinterlassen. Die ehemaligen Weggefährten Roger Hiltbrunner, Georg Geiger und Alain Pichard erinnern sich.

Ralph Fehlmann, Gymnasiallehrer, Autor und Redaktionsmitglied des Condorcet-Blogs

Ralph Fehlmann, geboren 1951, hat in Zürich Germanistik, Philosophie und Pädagogik studiert und zu Kafka promoviert. Er war ein Berufsleben lang an der Universität Zürich als Fachdidaktiker und am Realgymnasium Rämibühl, ebenfalls in Zürich, als Deutschlehrer tätig. Bildungspolitisch trat er als Mitbegründer des FACH (Forum Allgemeinbildung Schweiz) in die Öffentlichkeit und wirkte aktiv am Bildungsblog Condorcet mit.

Im FACH kämpfte Ralph gegen die Unterwanderung gewachsener Schulkulturen durch Managementmethoden nach dem Vorbild profitorientierter Unternehmen und gegen die zunehmende Einflussnahme privatwirtschaftlicher Interessengruppen auf die öffentlichen Schulen. Statt eines bürokratischen Top-Down-Denkens forderte er eine Bottom-Up-Kultur ein, welche sich an den Bedürfnissen der Schüler und Schülerinnen sowie der Lehrkräfte orientiert. Ausserdem setzte er sich leidenschaftlich für eine öffentliche Diskussion über Bildung ein und ermutigte die Lehrpersonen, ihr Recht auf freie Meinungsäusserung, auf Mitsprache und Mitgestaltung an ihrer Schule geltend zu machen.

Ein Weggefährte zu jener Zeit war der Bieler Gymnasiallehrer Roger Hiltbrunner. Er schrieb uns:

Mir wird Ralph vor allem als ein engagierter, weil klar und konsequent denkender Mensch in Erinnerung

Roger Hiltbrunner, Gymnasiallehrer, Weggefährte im FACH

bleiben. Er schöpfte seine Ein- und Ansichten aus dem reichen Fundus seiner praktischen Erfahrung, las aber auch die Fachpresse genau – und immer mit kritischem Geist. Sein unausgesprochenes, aber stets gelebtes Credo war, dass unsere Schulen der Aufklärung zu dienen haben, und das heisst, dass sie das kritische Bewusstsein wecken und zur Mündigkeit führen müssen. Das hiess für Ralph auch, dass wir als Lehrende selber dieses Bewusstsein und diese Mündigkeit vorleben müssen. Ihn bedrückte, dass die Reformen des Schulwesens uns Lehrende tendenziell zu blossen Trainings-Coaches und zu Ausführenden einer höheren Orts beschlossenen Ertüchtigung einer künftigen “menschlichen Ressource” machen würden, wenn wir uns nicht dagegen wehrten und auf unsere Mündigkeit und unser kritisches Bewusstsein beharrten. Wegen dieser seiner Sorge um eine emanzipative Schule, seiner Sorge um die Mündigkeit der nächsten Generation wehrte sich Ralph entschieden gegen die technokratischen Patentrezepte gewisser Bildungsforscher:innen und betriebsblinder Berufsreformer:innen.

Durch Ralph habe ich gelernt, dass es heutzutage oft progressiv ist, als Sachwalter der Aufklärung konservativ zu sein, also die Werte der Aufklärung nicht preiszugeben, sondern sie an die nächste Generation weiterzureichen. Ralph konnte dabei die Strenge eines Kant annehmen, aber auch der Spottlust eines Voltaire freien Lauf lassen.

Es ging ihm nie um die billige Provokation, sondern stets um die Sache. Und “die Sache” in pädagogischer Hinsicht, das war für Ralph stets und selbstverständlich der Mensch.

Ralph war, und dies ist vielleicht das Wichtigste, ein grundehrlicher und aufrichtiger Mensch, der es hasste, sich in Beschönigungen und Relativierungen zu flüchten, wie es hierzulande nur zu sehr Brauch ist. Damit eckte er auch ab und zu an; aber es ging ihm nie um die billige Provokation, sondern stets um die Sache. Und “die Sache” in pädagogischer Hinsicht, das war für Ralph stets und selbstverständlich der Mensch. Kurz: Ralph war ein Humanist und ein Menschenfreund. Er wird uns fehlen. Aber sein Vorbild wirkt weiter.

Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission: Seine Kritiken waren ein Genuss.

Unser Condorcet-Autor Alain Pichard erinnert sich:

Ich lernte Ralph zum ersten Mal an einer Tagung kennen, die von Professor Roland Reichenbach im Juni 2014 an der Universität Zürich organisiert wurde.

Er hielt dort ein Referat, dessen Inhalt mir in einigen Sätzen durch meine Notizen präsent blieb:

«Der in einer Demokratie notwendige Streit wurde bei der Implementierung all dieser Schulreformen nach Möglichkeit vermieden. Die Strategie ähnelt fatal derjenigen, welche sich in den letzten Jahren in Europa regelmässig beobachten liess, wenn Bildung «reformiert» wurde – und das wurde sie bekanntlich in neuster Zeit in schnellerem Rhythmus als je zuvor.»

Von da an tauschten wir uns regelmässig aus. Er wirkte bei den Vorbereitungen zur Gründung des Condorcet-Blogs im Mai 2019 aktiv mit und trat mit grosser Selbstverständlichkeit in dessen Redaktion ein. Zuvor unterstützte er mich bei der Namensgebung. Unseren Blog einem zweifellos grossen, aber in der Schweiz gänzlich unbekannten Philosophenehepaar zu widmen, war zunächst sehr umstritten. Es waren die Publizistin Regula Stämpfli, der Gymnasiallehrer Georg Geiger und vor allem Ralph, welche den Wert dieses Namens für unsere Programmatik als richtig empfanden. Liberalität, Diskurs und Bildung für alle: dieser Anspruch sollte sich im Namen des Blogs ausdrücken.

Als Redaktor spielte er bei der Besprechung der Artikel eine eminent wichtige Rolle. Unsere Condorcet-Leserschaft muss wissen, dass die eingehenden Texte jeweils von der Redaktion geprüft werden, bevor wir sie aufschalten. Keiner von uns las die Texte derart sorgfältig durch wie er, keiner war in seiner Kritik an Sprache und Logik unerbittlicher als er. Trotz ihrer formalistischen Strenge las sich seine Kritik selbst aber sprachlich und inhaltlich ausserordentlich genüsslich. Wir mussten oft lachen, wie er die Beiträge zerlegte und garstig kommentierte. Und wir waren froh, dass unsere “armen” Autoren nicht viel von diesen internen Diskussionen mitbekamen. Auch ich bekam mein Fett weg. Er schrieb auf einen Beitrag von mir: “Ich habe deinen Text mit Interesse gelesen. Was genau willst du mit ihm ausdrücken?”

In diesem Buch zeigte Ralph, ganz dem Diskurs verbunden, was es mit dem Ausdruck «Die Weisheit der Praxis» auf sich hat. Grosses literarisches Wissen, analytisches Können und eine intensive Nähe zu seinen Lernenden machen aus diesem Buch eine Fundgrube, nicht nur für Gymnasiallehrer.

Das Buch setzt auf die schöpferische Freiheit der Lernenden.

Schlicht grandios war das Buch, das Ralph mit seiner Kollegin Villö Huszai im Jahr 2020 herausgab: «Literatur als Streitfall» (erschienen2020 im hep-Verlag). In diesem Buch zeigte Ralph, ganz dem Diskurs verbunden, was es mit dem Ausdruck «Die Weisheit der Praxis» auf sich hat. Grosses literarisches Wissen, analytisches Können und eine intensive Nähe zu seinen Lernenden machen aus diesem Buch eine Fundgrube, nicht nur für Gymnasiallehrer. Während andere Kollegen heute mit Fragen wie «War Dürrenmatt ein Rassist?» um Aufmerksamkeit buhlen, bringt uns Ralph das Wesen der Texte näher. Ist Maries Satz «Rühr mich nicht an?» aus Büchners Woyzeck Aufforderung oder Drohung? (aus dem Klappentext).

Peter von Matt schrieb in seinem Vorwort dieses Buches: “Das Buch setzt auf die schöpferische Freiheit der Lernenden.”

2021 erlitt Ralph eine schwere Depression (nicht zum ersten Mal). Ich besuchte Ralph in der Klinik, in welcher er mit allen Mitteln kämpfte, um wieder ins Leben zurückkehren zu dürfen. In dieser Klinik stand in einem Raum ein Flügel. Ralph war neben seinem pädagogischen Wirken ein begnadeter Pianist. Als ich ihn mit Georg Geiger zum letzten Mal vor seinem freiwilligen Tod besuchte, sprachen wir über Musik. Ralph war ein leidenschaftlicher Bach-Liebhaber und spielte dessen Klaviersonaten auswendig. Er zitierte Bach: «Wem die Kunst das Leben ist, dessen Leben ist eine Kunst. Schade, dass mir dies am Ende meines Lebens nicht vergönnt war.» Er spielte auch in der Klinik zum Entzücken anderer Patienten, meistens aber alleine. Es half nichts. Nach seinem Klinikaufenthalt kehrte er zu seiner Lebenspartnerin Pascale Palm zurück, die ihm, so gut sie konnte, zur Seite stand. Mit ihr verbrachte er früher wunderbare Tage im gemeinsamen Haus in den savoyischen Bergen in Frankreich.

Wir setzen uns mit Tränen nieder und rufen dir im Grabe zu: Ruhe sanft, sanfte Ruh! (Johann Sebastian Bach).

«Ich will nicht mehr leiden», waren seine Worte an uns Freunde, die wir, ohnmächtig und auch etwas ratlos angesichts seines Entscheides, seinen Willen akzeptieren mussten, als den Willen zur Selbstbestimmung in aller Konsequenz.

Er verabschiedete sich von mir: «Ich konnte nie zu dir an den See kommen! Wir haben uns zu spät kennengelernt!»

Ich habe einen Mitstreiter und Freund verloren, unsere Condorcet-Gemeinschaft und unser Berufsstand haben einen seiner gedankenstärksten Kämpfer verloren. Ein schwerer Verlust.

Wir setzen uns mit Tränen nieder und rufen dir im Grabe zu: Ruhe sanft, sanfte Ruh! (Johann Sebastian Bach).

Georg Geiger schickte uns seine letzte Mail an seinen Freund:

Georg Geiger, Gymnasiallehrer in Basel, Condorcet-Autor und Weggefährte

Lieber Ralph

Heute ist wohl Dein letzter voller Tag in Deinem Leben. Ich sage einem Menschen Adieu, der in so vielem mit mir verwandt ist: Als bildungspolitische Aktivisten haben wir uns jeweils in Olten getroffen und wenn man die aktuelle Schuldebatte anschaut, dann merkt man im grösseren Bogen, dass wir mit unserer Kritik nicht falsch lagen. Als Deutschdidaktiker vermittelst Du in Deinem wunderbaren Buch ein Literaturverständnis, das mir aus dem Herzen spricht. Im vergangenen Jahr habe ich miterlebt, wie Dich eine schlimme Depression immer heftiger in ihren Griff nahm. Und auch ich stürzte in eine heftige Depression und ich kann von daher etwas nachfühlen, in welch unerträglichen Zustand Du Dich seit zweieinhalb Jahren befindest. Ich habe Dich nie Klavier spielen hören, aber auch ich liebe dieses Instrument und Bach ist eine täglich heilsame Seelennahrung für mich in ihrer Klarheit, Nüchternheit und Unberechenbarkeit. Genau so habe ich auch Dich erlebt. Was Bach von Dir noch lernen könnte, das ist Dein Schalk, Deine Ironie und Dein trockener Humor.

Auf meinem Pult brennt eine Kerze und ich denke in grosser Verbundenheit an Dich, Du wunderbarer Mensch.

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