24. April 2024

LEHRPERSONENMANGEL: WAS SICH ÄNDERN MUSS

Um dem sich verschärfenden Lehrpersonenmangel wirksam entgegentreten zu können, braucht es Anpassungen hinsichtlich Anstellungsbedingungen, Integration und Ausbildung, einen Abbau der Bürokratie sowie eine Reduktion der Anzahl Ansprüche an Schule und Lehrpersonen auf ein leistbares Mass. Zu diesem Schluss kommt eine neue Studie des Lehrerinnen- und Lehrervereins LVB. Sie basiert auf einer inhaltlich umfassenden, repräsentativen Umfrage unter Baselbieter Lehrkräften aller Stufen. Mit 1072 Teilnehmenden handelt es sich um die schweizweit grösste von einem Berufsverband durchgeführte Befragung zum Lehrpersonenmangel seit dessen Akzentuierung. Der LVB fordert einen Mix aus personal- und bildungspolitischen Massnahmen und ortet den dringlichsten Handlungsbedarf auf der Primarstufe. Die Redaktion des Condorcet-Blogs veröffentlich die Medienmitteilung des lvb.

Philipp Loretz, Lehrer Sekundarstufe 1,Präsident des lvb: Überfrachtung beenden.

Bildungsdirektorin Monica Gschwind hat im Sommer 2022 die Baselbieter Anspruchsgruppen um Vorschläge zum Umgang mit dem Lehrpersonenmangel gebeten. Der LVB leitet seine Forderungen aus der eigens im Herbst 2022 durchgeführten Mitgliederbefragung «Belastungsfaktoren im Lehrberuf» ab. Er wird sie in das bestehende kantonale «Projektteam Lehrpersonenmangel» tragen und den Austausch mit Landratsmitgliedern suchen.

Bürokratie abbauen

93.1 % aller Teilnehmenden – auf der Primarstufe (inkl. Kindergarten) sogar 97 % – geben an, wegen administrativer und weiterer Zusatzaufgaben zu wenig Zeit für das Kerngeschäft Unterricht zu haben. Fast 90 % der Primar- sowie knapp 80 % der Sekundarlehrpersonen erleben die schulinterne Sitzungsdichte als Belastung.

  • Die Sitzungsdichte, die Anzahl schulinterner Gremien und das Ausmass verordneter Teamarbeit sind auf das Notwendige zu reduzieren.
  • Der persönlichen Vor- und Nachbereitung des Unterrichts durch die Lehrpersonen gebührt Vorrang vor einer sich ausbreitenden Regulierungsmentalität.
  • Grad und Umfang der Teilautonomie der Volksschule sind zu klären, auch mit dem Ziel, dort Ressourcen zu schonen, wo ein einheitlicheres Vorgehen zielführend ist.

Klassenlehrpersonen entlasten

Monika Gschwind, Bildungsdirektorin BL: Will wiedergewählt werden.

Viele Klassenlehrpersonen (KLP) sind massiv überlastet, am stärksten an der Volksschule. Am
1. Dezember 2022 hat der Landrat endlich eine Entlastung für die KLP der Primarstufe im Umfang einer Jahreslektion beschlossen. Aber von den KLP der Sekundarschulen, die bereits im gleichen Umfang entlastet sind, finden 95.7 %, dieses Volumen genüge nicht.
Zudem erleben zwischen 40 und 55 % der Primarlehrpersonen Aspekte der Elternarbeit (respektloses Verhalten, fehlende Bereitschaft zur Zusammenarbeit, sehr forderndes bis drohendes Auftreten etwa bei Übertrittsentscheiden, inflationäre Kontaktaufnahmen per Telefon und E-Mail) als belastend.

  • Eine noch stärkere Entlastung der Klassenlehrpersonen ist zu prüfen, auf der Primarstufe gegebenenfalls in Kombination mit einem gezielten Abbau in der Stundentafel.
  • Die Volksschulen benötigen betreffend Elternarbeit klare Reglementarien entlang kantonaler Standards, die konsequent durchgesetzt werden.
  • Die Einführung einer Übertrittsprüfung vor dem Übertritt an die Sekundarschule ist, in Ergänzung zu den Zeugnisnoten, zu prüfen.

Integration mässigen

Mit der Integrativen Schulung in der bestehenden Form ist kaum jemand zufrieden. Für 82.4 % der Primar-, 72.3 % der Sekundarlehrpersonen und 70.6 % der Schulischen Heilpädagog*innen (SHP) sind stark verhaltensauffällige Schüler*innen ein Belastungsfaktor. Über die Hälfte der Primarlehrpersonen und SHP geben an, die Besetzung der ISF-Stellen (Integrative Spezielle Förderung) an ihren Schulen sei nicht oder nicht mit dafür ausgebildetem Personal erfolgt.

  • Es sind mehr separative Angebote zu schaffen für verhaltensauffällige Schüler*innen, die den Unterricht massiv stören bis lahmlegen.
  • Die Schwellen, damit Lehrpersonen erfolglose Integrationen abbrechen können, müssen so niedrig ausgestaltet sein, dass der Leidensdruck auf Beteiligte nicht schädigende Ausmasse annehmen kann.

Primarstufe aufwerten

Die Anstellungsbedingungen auf der Primarstufe sind interkantonal nicht mehr konkurrenzfähig. Basel-Landschaft bildet hier im Vergleich mit den umliegenden Kantonen (AG, BS, SO) bei allen lohnrelevanten Faktoren (Einstiegslöhne, Lohnanstiegskurve, Maximallöhne) das Schlusslicht. Weitere Problemfelder sind zusätzliche Fächerqualifikationen ohne Lohnrelevanz, teils schlechte Infrastruktur sowie unbezahlte Zusatzarbeiten von Schulhausvorständen.

  • Lohnband 12 für die Lehrpersonen der Primarstufe ist zwingend.
  • Ausgewählte, vom Arbeitgeber gewünschte und zwischen den Sozialpartnern ausgehandelte Zusatzausbildungen müssen lohnwirksam werden.
  • Bei der schulischen Infrastruktur müssen verbindliche Mindeststandards (WLAN, rostfreie Wasserleitungen, Raumgrössen) auch für Schulen mit kommunaler Trägerschaft gelten.
  • An Schulen mit Schulhausvorständen müssen deren Aufgaben klar definiert, von jenen der Schulleitungen abgegrenzt und angemessen ressourciert werden.

Überfrachtung beenden

Die Vielzahl der Ansprüche an Schule und Lehrpersonen ist nicht mehr leistbar. In den letzten 20 Jahren kam immer noch mehr dazu: das 6. Schuljahr und zusätzliche Fächer (Fremdsprachen, Medien & Informatik) auf der Primarstufe, Integrative Schule, massiver Anstieg administrativer Arbeiten, ein überfüllter Lehrplan auf der Volksschule. Parallel dazu wurde als Sparmassnahme die Altersentlastung für Lehrpersonen – schweizweit einzigartig! – gestrichen.

  • Es braucht eine tabulose Auslegeordnung und Priorisierung der Aufgaben und Ansprüche an die Primarstufe: Was ist leist- und bezahlbar und was nicht?
  • Der vom LVB seit Jahren geforderte Prozess zur inhaltlichen Straffung der Lehrpläne auf der Ebene Volksschule muss konsequent weiterverfolgt werden.
  • Die Altersentlastung der Unterrichtsverpflichtung für Lehrpersonen muss wieder eingeführt werden, um sie länger gesund und leistungsfähig im Beruf halten zu können.

Ausbildung verbessern

Unzufriedenheit mit der Ausbildung an der PH kommt in vielen Kommentaren zum Ausdruck, wobei die Praxisferne im Zentrum der Kritik steht. Die PH entgegnet seit Jahren, die Praktika der Studierenden seien zeitlich ausgedehnt worden. Aber das allein genügt nicht. In diesen vergleichsweise wenigen Wochen der Praktika kann nicht alles an Praxistauglichkeit aufgebaut werden, wofür nicht in Veranstaltungen an der PH der Grundstein gelegt wurde.

  • Dozierende für Fachdidaktik müssen über mehrjährige, erfolgreiche Unterrichtstätigkeit in jenen Fächern und auf jenen Stufen verfügen, für welche sie Studierende ausbilden.
  • Die Ausbildung für die Sekundarstufe I ist dahingehend zu modularisieren, dass angehende Lehrpersonen gezielter auf die Erfordernisse der unterschiedlichen Leistungszüge vorbereitet werden können.

 

Kontakte für Rückfragen:

Philipp Loretz, Präsident LVB, 077 417 57 54, philipp.loretz@lvb.ch

Roger von Wartburg, Geschäftsleitungsmitglied LVB, 079 261 84 63, roger.vonwartburg@lvb.ch

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