Im zweiten Lehrjahr wurden die Noten von Tabea Müller (Name geändert) plötzlich schlechter, der Stoff interessierte sie kaum mehr. Die damals 20-Jährige schottete sich ab, schloss sich in ihrem Zimmer ein. Sie zwang sich jeden Morgen zur Arbeit in einer Postfiliale im Kanton Zürich. Irgendwann stand die regionale Berufsverantwortliche des Betriebs vor ihr. Sie sagte: «Wir müssen reden.»
Das Gespräch, bei dem auch Tabea Müllers Mutter dabei war, fand im März 2021 statt. Schnell wurde klar, dass Müller ihre Lehre als Detailhandelsfachfrau bei der Post nicht beenden würde. Sie löste den Vertrag vorzeitig auf. «Das Gespräch verlief emotional. Aber danach war ich nur noch erleichtert», sagt sie heute.
Lehrvertragsauflösung muss kein Abbruch sein
Was Tabea Müller erlebt hat, das passiert jedes Jahr weit über 10’000 anderen Auszubildenden – sie lösen ihren Vertrag vorzeitig auf. Jetzt zeigen neue Daten des Bundesamts für Statistik: Noch nie zuvor waren derart viele Menschen von einer Lehrvertragsauflösung betroffen. Bei den Lehrlingen, die 2017 ihre Ausbildung begonnen haben, beträgt die Quote 22,4 Prozent – das entspricht 11’810 Lehrlingen.
Eine Lehrvertragsauflösung heisst nicht zwingend, dass die jungen Leute dann keine Ausbildung mehr absolvieren. Als Auflösung gilt auch ein blosser Vertragswechsel – also zum Beispiel eine Umstufung von einer zweijährigen zu einer dreijährigen Lehre oder ein Betriebswechsel. So beginnt denn auch die überwiegende Mehrheit nach einer Auflösung wieder eine Lehre. Effektiv zum Abbruch kommt es bei 4,4 Prozent. Aber auch diese Quote ist angestiegen.
«Wir haben seit 2020 viel mehr Beratungsstunden von Jugendlichen, und immer öfter geht es um das Thema Angst.»
Marco Mettler, Vizedirektor Pro Juventute Schweiz
Bei den Lehrvertragsauflösungen ist die Streuung sehr gross. Berufe wie Kaufmann oder Geomatikerin haben sehr tiefe Quoten. Bei anderen Ausbildungen löst fast die Hälfte der Lernenden ihren Vertrag auf – zum Beispiel bei den Abdichtern oder den Gipser-Trockenbauern. Insgesamt zeigt sich: Handwerkliche Berufe weisen tendenziell höhere Quoten auf.
Angesichts der hohen Quoten stellt sich die Frage: Hat die Schweiz ein Problem im Bildungswesen?
Marco Mettler ist als Vizedirektor von Pro Juventute Schweiz zuständig für Bildungsprogramme. Die hohen Zahlen erstaunen den Fachmann nicht. «Wir haben seit 2020 viel mehr Beratungsstunden von Jugendlichen», sagt er. «Und immer öfter geht es um das Thema Angst.» Mettler spricht von einer «Multikrise» bei jungen Menschen: Die Klimakrise sei allgegenwärtig. Dann kam auch noch die Corona-Pandemie. Und jetzt der Ukraine-Krieg, der bei den aktuellen Zahlen des Bundes zwar noch keine Rolle spielt, aber künftige Jahrgänge prägen könnte.
Mehrere Gründe kommen zusammen
Wenn es zu einer Lehrvertragsauflösung kommt, ist es laut Mettler fast immer ein Mix aus Gründen. Der Beginn einer Ausbildung nach der Schule sei generell ein Umbruch im Leben. Und das Wesen Jugendlicher, der Generation Z, habe sich gewandelt. Die nach 1997 geborenen Jahrgänge wollen laut Mettler immer häufiger einen sinnstiftenden Beruf. «Sie wollen nicht einfach eine billige Arbeitskraft sein.»
Auch bei Tabea Müller waren es mehrere Gründe, die zur Auflösung führten. Nach einem guten ersten Lehrjahr kam sie in eine neue Filiale der Post. Da waren die Kolleginnen und Kollegen älter. «Ich fühlte mich da nicht mehr so zu Hause.» Hinzu kam der branchenspezifische Schulstoff zur Post, der ihr nicht besonders behagte. Darüber hinaus setzte eine langwierige Operation Tabea Müller mehrere Monate ausser Gefecht. Irgendwann kam sie aus dem Strudel nicht mehr heraus.
«Viele Lernende sind erstaunt, wenn sie mehrheitlich den ganzen Tag stehen und allenfalls schwere Türen oder Motorhauben anheben müssen.»
Reto Hehli, Leiter Berufsbildung des Verbands Carrosserie Suisse
Die hohen Quoten setzen allerdings nicht nur den Lehrlingen zu, sondern treffen auch die Verantwortlichen der Berufsverbände. Reto Hehli zum Beispiel. Der Leiter Berufsbildung des Verbands Carrosserie Suisse sagt: «Diese Zahlen tun mir weh.» Bei den Karosserielackierern sind gemäss den neusten Zahlen mehr als 42,9 Prozent aller Lehrlinge, die 2017 ihre Ausbildung begonnen haben, von einer Lehrvertragsauflösung betroffen.
Die Gründe seien vielfältig, sagt Hehli. Oft existierten falsche Vorstellungen. «Viele Lernende sind erstaunt, wenn sie mehrheitlich den ganzen Tag stehen und allenfalls schwere Türen oder Motorhauben anheben müssen», sagt er. Auch Allergien auf Staub oder Lösungsmittel spielten eine Rolle. «Dies merken die Lernenden leider erst nach einiger Zeit.»
Mario Freda sieht in den Zahlen «den Trend der letzten Jahre» bestätigt. Der Zentralpräsident des Schweizerischen Maler- und Gipserunternehmer-Verbands SMGV sagt: «Leider gehört Gipser-Trockenbauer nicht zu den ersten Wunschberufen der jungen Leute, obwohl er viel bietet.» Man habe festgestellt, dass die Lehrverträge im Gipsergewerbe oft sehr spät abgeschlossen würden. «Das führt dann vielfach leider dazu, dass die Ausbildungsbetriebe wegen des Zeitdrucks die Qualifikation der Bewerberinnen und Bewerber nicht mit der nötigen Sorgfalt prüfen können.»
Häufigster Grund: Falsche Berufswahl
Die kantonalen Behörden zeichnen die gesamten Karrieren der Lehrlinge akribisch auf. Jede Vertragsauflösung wird erfasst. Zu den häufigsten Gründen gehören eine falsche Berufs- oder Lehrstellenwahl, die Gesundheit, die Leistungen der Lehrlinge sowie die Kategorie «Pflichtverletzungen, Konflikte und privates Umfeld». Deutlich seltener sind wirtschaftliche Gründe wie Konkurse des Lehrbetriebs.
Bei Männern sind die Auflösungsquoten zudem deutlich höher als bei Frauen – wobei es bei Letzteren seit 2018 zu einem stetigen Anstieg gekommen ist.
So oder so steht für die Berufsverbände mit hohen Auflösungsquoten ausser Frage, dass sich etwas ändern muss. Hehli vom Karosserieverband sagt: «Lehrvertragsauflösungen haben direkte Auswirkungen auf den Fachkräftemangel, und dem müssen wir entgegenwirken.» Sein Verband will daher ab 2023 ein neues Label namens «Green Car Repair» unter dem Motto «Reparieren statt ersetzen» schaffen. Damit will der Verband einerseits «die Verantwortung gegenüber der Umwelt wahrnehmen», andererseits aber auch vermehrt die junge Generation ansprechen.
Auch in der Elektrobranche sollen Berufsbilder revidiert werden. Diese überarbeitet derzeit die Grundbildungen Montage-Elektriker, Elektroinstallateurin und Elektroplanerin. Durch eine Schärfung des Anforderungsprofils solle mehr Klarheit geschaffen werden für potenzielle Lernende und Eltern, sagt Laura Kopp vom Branchenverband EIT.swiss. Die Idee dahinter: Wenn die Lernenden wissen, was sie erwartet, sinkt auch die Quote der Lehrvertragsauflösungen.
Einige Berufsverbände setzen zudem auf das Zertifizierungs- und Auszeichnungssystem Top-Ausbildungsbetrieb, das vom Karosserieverband gegründet wurde – mittlerweile aber für alle Branchen offen ist. Damit sollen «Unternehmen gefördert werden, die sich besonders intensiv bei der Ausbildung von jungen Menschen engagieren». Der SMGV hat zudem bei der interkantonalen Gipser-Berufsschule die Möglichkeit von Frühinterventionen geschaffen, um Probleme zwischen Lernenden und Lehrbetrieben rechtzeitig zu erkennen.
Dass solche Mittel tauglich sind, beweist die Gastro- und Hotelleriebranche, die zuletzt viel in Nachwuchsmarketing gesteckt hat, wie es beim Verband Gastro Suisse heisst. So gehören Restaurationsangestellte und Hotelfachangestellte zu jenen zehn Berufen, bei denen es seit 2016 gelungen ist, die Quote der Lehrvertragsauflösung deutlich zu senken.
Dass die Berufsverbände reagieren, ist das eine. Für Mettler von Pro Juventute reicht das aber nicht aus, er sagt: «Es muss etwas passieren.» Wenn es den jungen Menschen besser gehe, werde es auch weniger Lehrvertragsauflösungen geben. Pro Juventute hat deshalb gemeinsam mit allen Schweizer Jungparteien auf die erhöhte psychische Belastung von Kindern und Jugendlichen aufmerksam gemacht. In der Pflicht sind die Kantone, die für Prävention zuständig sind. Das Ziel: koordinierte Vorstösse in kantonalen Parlamenten, um die Soforthilfe für Unterstützungsangebote für Kinder und Jugendliche zu erhöhen.
Die Kurve gekriegt hat schliesslich auch Tabea Müller. Nach dem Abbruch der Lehre bei der Post machte sie eine Therapie und jobbte vorübergehend in einer Handy-Reparaturwerkstätte, die allerdings bald einmal in Konkurs ging.
Dann landete sie bei Job Caddie, einem Mentoringprogramm der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft unter anderem für Jugendliche mit Schwierigkeiten in der Lehre. «Ich hatte eine super Mentorin», sagt Tabea Müller.
Die junge Frau schöpfte neues Selbstvertrauen, begann sich wieder zu bewerben, wurde zu Vorstellungsgesprächen eingeladen. Da war die frühere Lehrvertragsauflösung zwar ab und zu noch ein Thema – «aber nie wertend», wie Tabea Müller sagt.
«Die Schule ist jetzt megaspannend. Ich konnte viel mitnehmen aus meinem ersten Lehrjahr bei der Post.»
Tabea Müller, Hotel-Kommunikationsfachfrau in Ausbildung
Schliesslich fand sie eine neue Lehrstelle als Hotel-Kommunikationsfachfrau in Graubünden. Die Ausbildung deckt eine breite Palette ab: die Réception, den Service und auch die Küche. Angefangen hat sie im Sommer 2022. Sie wohnt in einem Studio in der Nähe des Betriebs. Und die Schule, die ihr früher Probleme bereitet hat, findet sie jetzt «megaspannend. Ich konnte viel mitnehmen aus meinem ersten Lehrjahr bei der Post.»